Wohnen auf dem Kirchturm

Von Josefine Janert · 13.04.2013
Von seinem Wohnzimmer aus schaut Matthias Melzer weit über seine Heimatstadt Annaberg-Buchholz und das Erzgebirge: Zusammen mit Frau und Sohn bewohnt er einen 78 Meter hohen Kirchturm - und läutet regelmäßig die Glocken. Damit ist die Familie einzigartig in ganz Europa.
Sonnabend kurz vor 18 Uhr. Matthias Melzer macht sich ans Werk. Der 43-jährige Gärtner und seine Frau Marit sind die Türmer von St. Annen. Die Kirche steht im Zentrum von Annaberg-Buchholz, einem Städtchen südlich von Chemnitz. Die beiden Melzers und ihr elfjähriger Sohn leben im Kirchturm von St. Annen. 211 Stufen steigt man zu ihrer Wohnung hinauf. Bedingung dafür, dass sie den Mietvertrag bekamen, war, dass Marit und Matthias Melzer ein Ehrenamt ausüben: Sie läuten die Glocken der Kirche.

Heute ist Matthias Melzer dran. Von seiner Wohnung klettert er 40 Stufen hinab zur sogenannten Glockenstube, die sich in 32 Metern Höhe befindet.

"Die Glocken werden im Prinzip zu allen Veranstaltungen der Kirchgemeinde geläutet, also Gottesdienste, Beerdigungen, Taufen, Hochzeiten, Konzerte. Jeden Samstagabend 18 Uhr wird der Sonntag eingeläutet, außer der Karsamstag, da schweigen die Glocken. Ja, das ist so circa hier bei uns 400 Mal im Jahr, wo wir die Glocken läuten."

Schlank und flink ist Matthias Melzer, und vor allem pünktlich. Er schaut auf eine Funkuhr, dann drückt er auf die Knöpfe in einem Holzkästchen neben den Glocken.

Die Glocken sind umgeben von vier Schalltüren, die in alle Himmelsrichtungen weisen. Drei der vier Schalltüren stößt Melzer jetzt auf, damit das Geläut überall in der Stadt zu hören ist. Regen, Schnee, Wind und Kälte können den Glocken zusetzen, weshalb manche Tür an manchem Tag geschlossen bleibt.

Die Glocken sind so laut wie ein startendes Flugzeug
Das Geläut ist so laut, dass es einem startenden Flugzeug nahekommt. Einen Schutz für die Ohren braucht Melzer nicht – sagt er. Er geht nach draußen, auf den Rundgang, der um den Turm führt. Dort mildern die dicken Mauern den Glockenklang ab.

Nach zehn Minuten ist der Sonntag eingeläutet. Melzer verschließt die Schalltüren und steigt zu seiner Wohnung hinauf. Oben hat es sich die Familie gemütlich gemacht. Ein Wellensittich zwitschert. Im Wohnzimmer sitzen, wie an jedem Samstagabend in der kühlen Jahreszeit, die Eltern des Hausherren. Elke und Siegfried Melzer sind beide über Siebzig. Trotzdem lassen sie es sich nicht nehmen, ihre Kinder zu besuchen. Außerdem sind auf den Treppenabsätzen im Turm Stühle für Besucher aufgestellt.

Elke Melzer: "Und da setz ich mich hin, ruh mich aus. Und dann lauf ich weiter, damit ich nicht ganz so abgehetzt hier oben in den Turm, in die Wohnung komme."

Von seinem Wohnzimmer aus schaut Matthias Melzer weit über seine Heimatstadt und das Erzgebirge. Das entschädigt ihn dafür, dass er jedes Jahr höchstens für zehn Tage in den Urlaub fahren kann. In dieser Zeit übernimmt ein Bekannter sein Amt. Den Wunsch, Türmer zu sein, hatte Matthias Melzer schon früh:

"Mich hat's schon als kleines Kind, so als Sechs- oder Siebenjähriger zu Glocken und Türmen gezogen. Es ist nicht nachzuvollziehen, woher das kommt. Da war ich als Zwölfjähriger das erste Mal auf dem Turm in Annaberg und habe zu meiner Vorgängerin gesagt: Ich werd' mal Ihr Nachfolger. Sie hat gelacht. Alle aus der Stadt wussten das dann, dass ich auf den Turm ziehen will. Es hat jeder darüber gelacht. Keiner hat geglaubt, dass das was wird."

Fast keiner – seine Mutter nahm den Wunsch ernst.

Die Einkäufe werden mit der Seilwinde hochgezogen
Elke Melzer: "Das habe ich geglaubt, aber ich war nicht begeistert. Die Wohnung sah ja zu DDR-Zeiten noch ganz anders aus. Ich kannte die Wohnung von der Vorgängerin. Es war kalt, es war Ofenheizung, und das kann man nicht vergleichen, wie die jetzt saniert ist die Wohnung. Wo sie dann aber gesagt haben, dass sie raufziehen, und die Wohnung war saniert, und jetzt freue ich mich mit."

Für 85 Quadratmeter zahlt die Türmerfamilie etwa 450 Euro Miete.

Matthias Melzer: "Wir haben eine Seilwinde, mit der wir kleinere Einkaufssachen bis in die Wohnung ziehen können und große Sachen bis in die Glockenstube. Bis dahin wird’s gezogen und der Rest getragen. Das ist relativ problemlos. Und es ist eine gute Referenz für die Firmen, wenn die wissen: Auf dem Turm von St. Annen steht ein Gerät von unserer Firma. Ja, es wird auch schon damit geworben."

Der Kirchturm war schon immer bewohnt, erzählt Matthias Melzer:

"Namentlich kann man's nachweisen bis 1578 zurück. Es ist aber so, dass auf der ältesten Darstellung St. Annens schon auf dem Turm ein Schornstein zu sehen ist, so dass wahrscheinlich mit der Erbauung oder mit der Fertigstellung des Oktogons hier 1533 ein Türmer eingezogen ist."

Ein Oktogon – das ist ein achteckiges Bauwerk, in diesem Fall der Kirchturm. Früher hatten die Türmer unter anderem die Aufgabe, die Stadt vor Gefahren zu warnen. Wenn es brannte oder Feinde anrückten, läuteten sie die Glocken. Heute lockt der Kirchturm die Touristen an. Mehr als 14.000 Menschen sollen ihn 2012 besucht haben. In der warmen Jahreszeit empfängt sie Marit Melzer im Turm, spricht über seine Geschichte. Ein Halbtagsjob, bezahlt von einem Förderverein, der sich für den Erhalt des Turmes einsetzt.

Ihr Mann erklärt, dass die Glocken heute ein Symbol für den Zusammenhalt der Annaberger seien:

"Man merkt's vor allem daran, dass gerade wenn das Wetter sehr ungünstig ist und ich eine Seite der Schallöffnungen nicht öffnen kann, es dann doch schon mal passiert, dass die Leute anrufen und fragen, warum nicht geläutet wurde, aber sie haben's bloß nicht gehört. Wo's eben in anderen Orten eher umgekehrt ist, dass die Leute sich beschweren, dass es läutet, ist es bei uns schon noch so, dass sie dann auch drauf warten, aufs Geläut. Ein Geläut ist meistens die Stimme der Stadt, was die Glocken halt so bedeutsam macht, auch für Nicht-Christen. Ich denke mal, sehr viel Idealismus ist die Voraussetzung, die Hauptvoraussetzung. Es ist ja alles ehrenamtlich, also ohne Bezahlung. Und man muss schon sehr viel Liebe zur ganzen Sache haben, um es einfach auf sich zu nehmen. Es ist halt nicht so leicht, wie unten in der Stadt zu wohnen."