Wo es richtig weh tut

Von Marietta Schwarz · 08.08.2007
"Neuland" und "Nicht mehr – noch nicht" – so lauten die Titel der Filme von Holger Lauinger und Daniel Kunle, Dokumentarfilme über den "Strukturwandel" in Ostdeutschland. Es geht um die Menschen, die auf vermeintlich verlorenem Posten durchhalten und noch etwas bewegen. Und so werden die Filme zu Lehrstücken mit hohem Unterhaltungswert, diskussionswürdig und aufrüttelnd.
Ihr Büro in Berlin Prenzlauer Berg liegt genau dort, wo die S-Bahn den Bezirk durchschneidet. Ein rauer urbaner Flecken, nur über die richtige Brücke erreichbar. Ein Zufall, sicher, und doch passgenau auf Holger Lauinger und Daniel Kunle zugeschnitten. Denn was die beiden unauffälligen Mitdreißiger in Jeans und T-Shirt interessiert, sind Orte, die sich in einem Übergangsstadium befinden: Aufgelassene Industrieareale, Wohnblocks ohne Bewohner, Landschaften, die nicht mehr beackert werden. Manchmal liegen diese Orte direkt vor der Haustür, meistens aber fahren sie zum Drehen los, raus in die Provinz, dorthin, wo es richtig weh tut.

Lauringer: "Du kommst am Bahnhof an, die sind vernagelt, eine Sparkasse schickt einen Bus durchs Land, der einmal in der Woche vorbeikommt. Du merkst eine bleierne Stimmung. Es ist nicht so, dass man alles auf einmal sieht. Guben, Eisenhüttenstadt, Frankfurt/Oder. Einmal mit dem Fahrrad durchgefahren, da merkst du gleich, da willst du nicht bleiben."

Bleiben nicht. Zurückkehren schon.

Kunle: "Wir sind natürlich auch neugierig. Wir sind tausende Kilometer unterwegs kreuz und quer. Die Filme selbst bekommen auch einen Reisecharakter, das ist schon so eine Art Roadmovie."

Für ihren Film "Neuland" bereisten Lauinger und Kunle über ein Jahr Ostdeutschland mit der Kamera und ließen sich von Menschen vor Ort das erklären, was gemeinhin mit dem schnöden Begriff "Strukturwandel" beschrieben wird. Sie besuchten Dörfer, die Neulietzegöricke oder Wüstenbrand heißen, sie sprachen mit Stadtplanern, Bürgermeistern und Energiebauern, mit Schneckenzüchtern und Rechtsanwälten, die eine eigene Währung eingeführt haben. "Neuland" ist ein Film über Chancen, die dünn besiedelte Regionen wie die Uckermark oder die Lausitz bieten. Aber auch über die Niederlagen. Jugendliche, die in der leeren Stadtmitte herumlungern, erzählen von ihrer Perspektivlosigkeit. Die Betreiberin des kommunalen Kinos Wolfen davon, dass die Filme, die sieh auswählt, kaum jemand sehen will.

Die Reisen in die ostdeutschen Schrumpfregionen seien auch irgendwie ein Gegenpol zur südwestdeutschen Reihenhaus-Idylle, in der beide aufgewachsen sind, sagt Holger Lauinger nach langem Zögern. Weil er findet, dass die Herkunft eines Filmemachers nichts zur Sache tut. Beides jedenfalls gehöre in sein Leben: der Kirschbaum im Garten der Eltern und die verwilderten Brachflächen oder der Braunkohletagebau. Das sichtbare Unbehagen, über sich selbst zu sprechen, verbindet Holger Lauinger und Daniel Kunle genauso wie die gemeinsame Heimat.

Kennengelernt und angefreundet haben sie sich aber erst vor einigen Jahren in Berlin. Da studierte Daniel Kunle, der noch Stillere, gerade Experimentelle Mediengestaltung bei dem Filmemacher Heinz Emigholz. Holger Lauinger hatte die Gründung von Politgruppen mit Namen wie "Störung", "Albtraum" und "WertNix" sowie mehrere abgebrochene Studiengänge und prekäre Arbeitsverhältnisse, wie er sagt, hinter sich.

Lauinger: "Nein, es gab nicht diesen großen Plan im Kindergarten und am Ende kommt dann Journalist bei raus. Ich habe mehrere Sachen angefangen zu studieren und fand die dann meistens nach zwei Jahren für mich durchgearbeitet."

Man nimmt es den beiden ab, wenn sie als inneren Antrieb für ihr Schaffen Lust und Laune und den neugierigen Blick auf die Ränder der Gesellschaft nennen. Die Liebe zur Sache und der Dispokredit machen’s möglich, sagt Holger Lauinger. Finanziell ging die Rechnung bei ihrem letzten Film über schrumpfende Städte erst im Nachhinein auf:

Lauinger: "Ein Prinzip ist eben, dass wir mit dem Film auf Reisen gehen, dass wir den Film selber vertreiben, und die Nachfrage, ich sag immer: ein Film sucht sich sein Publikum, dass wir suchen: wer könnte Interesse haben und die Leuten dann auch anschreiben und uns einladen lassen. Es ist eine besondere Art vielleicht auch für junge Filmemacher, den Film zu vertreiben."

Vielleicht kommen Kunle und Lauinger auch deshalb so nah an ihre Protagonisten heran, weil sie sich auf ähnliche Weise wie sie durch den Überlebensdschungel ohne festen Arbeitsvertrag kämpfen. Wie es weitergeht? Es gibt viele Anfragen an die Filmschaffenden – von Ministerien und sozialwissenschaftlichen Instituten. Und es gibt natürlich neue Ideen. Sie werden sicher wieder etwas mit ganz speziellen Orten und ganz speziellen Menschen zu tun haben.
"Es ist schon eine erfüllte Zeit, wenn man unterwegs ist."