Wo die Toten ihren Tod verträumen

Von Kirsten Westhuis · 30.06.2012
Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Einwohnerzahlen der Städte sprunghaft anstiegen, konnten die konfessionellen Friedhöfe die Zahl der Bestattungen kaum noch aufnehmen. Also wurden in den Metropolen Friedhöfe mit größeren Kapazitäten angelegt, meistens außerhalb der Stadtzentren gelegene große kommunale Parkfriedhöfe. Der größte Parkfriedhof der Welt liegt im Hamburger Stadtteil Ohlsdorf.
"Hamburg! Das sind die tropischen tollen Bäume, Büsche und Blumen des Mammutfriedhofes, dieses vögeldurchjubelten gepflegtesten Urwaldes der Welt, in dem die Toten ihren Tod verträumen und ihren ganzen Tod hindurch von den Möwen, den Mädchen, Masten und Mauern, den Maiabenden und Meerwinden fantasieren."

Es war im Sommer 1947, dem letzten seines Lebens, als Wolfgang Borchert diese Zeilen über den Ohlsdorfer Friedhof seiner Heimatstadt Hamburg zu Papier brachte. Nur wenige Monate später wurde er selbst am 17. Februar 1948 in diesem "gepflegtesten Urwald der Welt" begraben. Im Planquadrat AC 5/6 - am "Stillen Weg" in der nord-westlichen Ecke des 400 Hektar großen Friedhofes liegt das gemeinsame Grab des Schriftstellers und seiner Eltern. Ahnungsvoll hatte er in dieser Zeit offenbar auch gegen den nahenden Tod angeschrieben:

"Ich möchte Leuchtturm sein / in Nacht und Wind - / für Dorsch und Stint - /
für jedes Boot - / und bin doch selbst / ein Schiff in Not!"

Für Gärtnermeister Wolfgang Haack ist Borcherts Grab nur eines unter Hunderten berühmter Frauen und Männer, die "auf Ohlsdorf" ihre letzte Ruhe gefunden haben. Sein Augenmerk gehört eher den für seinen Beruf wichtigeren Dingen: der Pflege dieses größten Parkfriedhofs der Welt, der ihm so vertraut ist wie seine eigene Westentasche:

"Ach, da ist auch wieder ein Ast runtergekommen beim Sturm, da muss ich dann Morgen früh meine Kollegen noch mal rumschicken und sagen, hier ist was zu entfernen. Das ist hier von den brüchigen Lärchen, die hier überaltert stehen, ganz schön kräftig, da möchte ich nicht untergestanden haben."

Gemeinsam mit 13 Gärtnern hält Wolfgang Haack Ordnung im Revier Nummer 6. Das sind insgesamt 46 Hektar: der gesamte Bereich um Kapelle 6, dazu Teile von Kapelle 2, 9 und 10:

"Man hat hier ne ganze Menge verschiedene Pflanzenarten gepflanzt. Douglasien, Tannen, Fichten, Kiefern, und denn davon noch verschiedene Arten; also es ist wirklich ein bunt gemischter Wald, den es so in der Natur natürlich gar nicht geben würde, ne, aber dadurch wird der Friedhof eigentlich interessant. Man geht nur 50 Meter und hat nen völlig anderen Eindruck, das macht den Friedhof auch aus, das Wechselhafte, das Wechselnde im Blick und in der Sicht."

Hier gibt es Eindrücke, die im Alltag der Stadt beinahe untergehen: der Geruch von Laub, von Tannennadeln und von feuchtem Gras nach einem kurzem Regen. Das Auge kommt fast nicht hinterher, die Bäume und Sträucher in ihrer Vielfalt und in ihren Farben zu bestaunen, die Eichhörnchen flink zwischen den Ästen und Stämmen zu verfolgen oder die unzähligen Details auf den oftmals prächtigen Grabdenkmälern zu betrachten.

Die Ohren nehmen zwar das regelmäßige Dröhnen der startenden und landenden Flugzeuge vom nahegelegenen Fuhlsbüttel wahr, doch dazwischen auch den Wind im raschelnden Laub, das Zwitschern der Vögel und die Stille in einer abgelegenen Nische. Ruhe und Gelassenheit fordert der Ohlsdorfer Friedhof von seinem Besucher, doch schenkt er ihm Erholung um ein Vielfaches zurück. Ganz so, wie es der Wunsch des ersten Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes Ende des 19. Jahrhunderts war:

"Ein moderner Friedhof soll nicht eine Stätte der Toten und der Verwesung sein. Freundlich und lieblich soll alles dem Besucher entgegentreten und dadurch der Ort aus der umgebenden Landschaft herausgehoben und geweiht werden."

Hamburg 1877. Die Kirchhöfe zwischen den engen Gassen der Stadt quollen über. Dazu eine rasch wachsende Bevölkerung. Ackerland in Ohlsdorf, weit draußen vor den Toren des damaligen Zentrums, wurde gekauft und Wilhelm Cordes mit der Einrichtung eines Central-Friedhofes beauftragt. Den legte der Architekt im Stil eines englischen Landschaftsparks an - als "freundlich-lieblichen Höhepunkt" der Gartenbaukunst, wie der heutige Friedhofsleiter, Rainer Wirz, erläutert:

"Die Gestaltungen die da sind durch die Wegeführung, durch die Modellierung des Bodens, durch die Hügel, durch Täler, durch die Wasserläufe, und auch durch die Bepflanzung, dass eben dieses dann auch den lieblichen Eindruck des Menschen der damaligen Zeit auch gerecht wurde, und insofern war zu der damaligen Zeit die Konzeption der Gestaltung damals auch sehr modern und lieblich und etwas das auch anrührend war und auch damals schon etwas gewesen ist, was sehr sehr fortschrittlich ist."

Von allen Himmelsrichtungen sind die Eingänge des Friedhofs mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Zwei Buslinien führen kreuz und quer über das Gelände, bringen die Besucher im Zehnminutentakt auf den weiten Wegen ein Stückchen voran.

Die gute Anbindung an die Innenstadt war bereits Wilhelm Cordes wichtig, der für den Ausbau der Stadtbahn bis nach Ohlsdorf eintrat. Ebenfalls ein Zeichen der technikzugewandten Modernität des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Der Wasserturm mit dem komplexen Be- und Entwässerungssystem, sagt Rainer Wirz. Doch bei aller Technikaffinität entstand auf dem Gelände die spezielle Ohlsdorf-Stimmung:

"... die Besonderheit, dass trotzdem die Intimität der Einzelnen Grabflächen durch die Bepflanzung gewährleistet bleibt und so dass also auch der Raum für die Trauer da bleibt und für den einzelnen nicht in die Öffentlichkeit geht, weil in der Regel die Grabfelder von den Wegen nicht einsehbar sind, das ist sicher auch ein starkes, grundlegenden Gestaltungsprinzip, was in diesen Jahren entwickelt worden ist."

"Architektur, Bildnerei, Malerei und Musik haben sich oft in den Dienst der Religion gestellt, ja, sich in ihrem Dienst erst ausgebildet. Die Gartenbaukunst hat das in früherer Zeit nie getan. Es ist unserer Zeit vorbehalten, dies nachzuholen."

Beseelt von dieser Überzeugung begann Cordes, die Vielseitigkeit und die volle Kunst des Gartenbaus zu entfalten. Hinter seinem Konzept für den Parkfriedhof Ohlsdorf steht ein antiker Ansatz der Ganzheitlichkeit. Ganz gleich, ob Pflanze oder Bau, Grabmonument oder Gräberkomplex, Wegständer oder Plakatpfahl - Bilderschaffen ist der Grundgedanke überall, schrieb Cordes:

"Alles muss sich einfügen in das Gesamtbild, dem Gebilde aus Stein, Holz oder Eisen mit den Gebilden aus Blumen, Pflanzen und Bodenplastik ohne Bevorzugung des einen oder anderen Teiles das Maß ihrer Berechtigung erhalten."

Das Gesamtbild "Ohlsdorfer Friedhof" umfasst heute 400 Hektar; 1,4 Millionen Menschen sind dort begraben; in direkter Nachbarschaft liegen die City Nord und der Flughafen Fuhlsbüttel. Ein Straßennetz von über 20 Kilometern führt kreuz und quer über das unübersichtliche Gelände. Selbst Gärtnermeister Haack hat viele Jahre gebraucht, sich auf dem Friedhof zurechtzufinden.

"So, wir stehen jetzt hier vor dem Grabdenkmal von Oberingenieur Franz Andreas Meyer. Franz Andreas Meyer hat fürn Ohlsdorfer Friedhof nen ganz besonderen Wert, denn er hat den Waldteil gestaltet und was Wichtiges für den Friedhof mitgebracht, nämlich das System mit den Planquadraten, weil wir sonst hier gar nichts wiederfinden würden."

Planquadrate, dazu noch die Einteilung in Blöcke und Sektionen, damit auch wirklich jeder kleine Weg und jede Grablage genau beschrieben werden kann. Etwas leichter fällt das im neueren Teil des Friedhofes, dem Linneteil. Gerade Straßen und Wege, streng sachliche, an geometrischen Strukturen orientierte Anlagen nach Planungen Otto Linnes. Er übernahm 1919 als Nachfolger Cordes das Amt des Friedhofdirektors und gestaltete im Osten den Erweiterungsteil. Er machte Schluss mit der landschaftlich-romantisierenden Ästhetik seines Vorgängers und leitete vielfach diskutierte Friedhofsreformen ein. Cordes und Linne - Trotz des Gegensatzes in ihren Stilen sind die beiden von ihnen gestalteten Areale als eine Einheit zu sehen, sagt ihr jüngster Nachfolger, Rainer Wirz:

"Es ist so, dass ich die Aufgabe habe, das Ganze zu bewahren, es so zu bewahren, dass die Stile auch im Rahmen der Garten- und Denkmalpflege, weil eben der O.F. ein Gartendenkmal ist, erhalten bleiben, aber dass wir trotzdem den modernen Ansprüchen, die aus der heutigen Zeit an Bestattungen, an Beerdigungen, an Trauer gestellt werden, auch gerecht werden in den Angeboten eines Friedhofes, einer Friedhofsverwaltung, so dass wir das Erbe von Herrn Cordes und auch von Herrn Linne in der Gestaltung erhalten, aber von den Inhalten eben auch zum Teil mit neuen Aspekten beleben und so den Friedhof auch weiter belebt lassen und auch weiterentwickeln, aber auf der bewahrenden Grundform des Gartendenkmals."

"Dadurch dass wir Familiengrabstätten haben hier auf dem Friedhof, sind wir auch schon als Kinder hier gewesen, nicht nur zur Grabpflege, sondern auch zum Eichhörnchen beobachten oder um das als Park zu genießen, als wunderschöne Natur und das hat uns schon immer gut gefallen, auch als Kind schon und da war schon immer der Gedanke, hier werd ich auch mein Leben abschließen."

Marlies Kelting hat vorgesorgt und eine Grabstelle auf Ohlsdorf gekauft. Gemeinsam mit ihrem Mann Friedrich hat die 56-jährige Vermessungstechnikerin eine sogenannte Grabmalpatenschaft übernommen. Ein Pate übernimmt eine Grabstelle, für die niemand mehr aufkommen kann oder möchte. Dafür bekommt er den alten Grabstein, ein von der Friedhofsverwaltung als erhaltenswert eingestuftes Exemplar, kostenfrei dazu. Jedoch mit der Auflage, ihn zu erhalten. Marlies Kelting und Ihr Mann Friedrich fühlten sich von einem hanseatischen Stein angesprochen:

"Auf diesem Stein sehen wir ganz bekannte Hamburger Motive, einmal was sofort erkenntlich ist, der Michel, als Michaeliskirche, dann haben wir den Nikolaiturm, dann, ja da sind wir uns noch nicht ganz sicher ob das die Petri- oder die Jacobi-Kirche ist, das müssen wir noch mal ausfindig machen. Jedenfalls sehen wir weiterhin den Alten Elbtunnel, das Chile-Haus, Alsterarkaden und unter symbolisiert die Alster bzw. Elbe."

"... da waren wir uns auch gleich einig, dass das der Schönste ist, also dass der zu uns passt. weil wir beide in Hamburg geboren sind, weil unsere Familien in Hamburg sind."

Für 50 Jahre gehört das Grab nun erst einmal den Keltings. An dem Grabstein aus den 1950er Jahren ist zum Glück nicht viel zu machen. Er hat festen Stand und bis auf einen Rest von Moos zeugt nichts von seinem Alter.

"Also die meisten Pflanzen auf dem Ohlsdorfer Friedhof sind Rhododendren. Rhododendron catabiense grandiflorum - das ist wohl die winterhärteste Sorte, die wir hier in unseren Breiten haben und die wird so vier bis fünf Meter hoch und wenn hier die Rhododendronblüte aufn Friedhof ist, dann ist hier richtig was los, weil das einfach nur eine einzige Blütenpracht ist. Also diese Grandiflorum hat eine einzige Farbe, und das ist so ein wirklich schönes, weiches lila, und, wenn jetzt besonders viel die Sonne drauffällt, kräftiges lila, sonst weniger, aber es sieht immer hübsch aus. Die Blütenpracht ist immer einmalig schön. Die ist besonders anspruchslos, wir setzen die hier rein und die wächst."

Die Rhododendren bieten guten Sichtschutz, außerdem Intimität und jede Menge Überraschungen: denn beinahe hinter jeder Pflanze ist ein anderes kunstvolles Grabdenkmal, eine prächtige Familiengrabstätte oder eine Skulptur, ja, gar einzigartige Galvano-Plastiken zu entdecken:

"Und hier hab ich auch was ganz besonderes: Ein Engel, der hat einen Schmetterling in der Hand und das ist ja auch das Zeichen von Imago, der Wandlungsfähigkeit des Tieres und das ist ja auch das Leben ist ja auch so wandlungsfähig."

Von Vielfalt, Wandlung und hanseatischem Leben berichten auch die vielen Namen auf den Gräbern. Reederfamilien, Kaufleute, Senatoren, Verleger und Künstler, darunter auch Prominente wie Gustav Gründgens und Ida Ehre, Heinz Ehrhardt und Richard Ohnsorg, Inge Meysel, Monica Bleibtreu und seit jüngstem auch Loki Schmidt.

Im Revier von Wolfgang Haack liegt das Grab der Hamburger Schauspiellegende Hans Albers. Treue Fans kommen auch nach 50 Jahren noch beinahe täglich:

"Bei schönem Wetter kommen manchmal sogar 20, ja da kann man von ausgehen, 20 sind das bestimmt, ich fahr ja öfter durchs Revier, weil ich hier ja immer was zu tun hab und dann sieht man auch schon mal Bekannte. Einmal war sogar der ehemalige Bundespräsident da, Roman Herzog."

1960 wurde Hans Albers bestattet, und seine Grabstelle wäre längst ausgelaufen, wenn sich nicht eine Initiative von Verehrern aus Film und Fernsehen zur Erhaltung der Grabanlage gegründet hätte. Ähnlich wie bei einem berühmten Hamburger Künstler der klassischen Musik:

"Hier vorne ist die Grabstätte von Hans von Bülow, der hat im vorletzten Jahrhundert gelebt, war Komponist und Dirigent, damals einer der sehr großen seiner Zeit und als die Grabstätte vor 30 Jahren abgelaufen war, da haben sich auch Leute gefunden, die gestiftet haben, um die Grabstätte zu erhalten und dazu gehörten zum Beispiel hier Leonard Bernstein, Herbert von Karajan ist dazwischen. Also da sind eben die großen Dirigenten und Komponisten die sich zusammengetan haben, um die Grabstätte zu erhalten."

"Hier sind viele schöne Grabstätten, wo man sich hinwendet, man findet überall was Hübsches. Überall sind erhaltenswerte Grabdenkmäler, die man eigentlich nie abreißen sollte, und ich hoffe, dass auch sich immer jemand findet, der sie erhält."

Ohlsdorf - das sind mehr als 130 Jahre Hamburg, mehr als 1,4 Millionen Verstorbene. Das ist Lebensgeschichte, Stadtgeschichte, Zeitgeschichte die jeden packt, der auch nur einen Schritt auf den größten Parkfriedhof der Welt setzt:

"Wenn man ihn nicht gesehen hat, kann man sich das nicht vorstellen, wie groß eben Ohlsdorf ist und welche Wirkung er hat, und vielleicht auch welche Macht, welchen Eindruck er auf den einzelnen Menschen macht. Und insofern ist es hier wirklich zwei Funktionen, die erfüllt werden, einmal der Park und einmal der Friedhof und da ist weder die Betonung auf Park, noch auf Friedhof, sondern es ist beides gleich, auf PARKFRIEDHOF liegt die Betonung."

"Jeder Schritt ist anders, jeder Schritt ist neu und es ist einfach faszinierend, ich finde das unheimlich schön. Und das ist auch das was hier das sein als Gärtnermeister ausmacht was einfach schön ist und deswegen ist der Friedhof Ohlsdorf für mich was Besonderes und ich denke für jeden Besucher auch."

"Der Friedhof Ohlsdorf gehört für uns seit Jahrzehnten dazu. Auch wenn es einem nicht unbedingt leicht fällt, sich mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen, aber je älter man wird, desto realer wird dieses Thema, Und wenn man schon mal einen Platz hat, der einem gefällt, dann fällt einem das vielleicht auch ein bisschen leichter."

Wo Wolfgang Borchert in Planquadrat AC 5/6 "den ganzen Tod hindurch von den Möwen, den Mädchen, Masten und Mauer, den Maiabenden und Meerwinden" träumt.

"Das ist kein karger militärischer Bauernfriedhof, wo die Toten - in Reih und Glied und in Lingusterhecken gezwungen, mit Primeln und Rosenstöcken wie mit Orden besteckt - auf die Lebenden aufpassen und teilnehmen müssen an dem Schweiß und dem Schrei der Arbeitenden und Gebärenden - ach, die können ihren Tod nicht genießen! Aber in Ohlsdorf - da schwatzen die Toten, die unsterblichen Toten vom unsterblichen Leben! Denn die Toten vergessen das Leben nicht - und sie können die Stadt, ihre Stadt, nicht vergessen!"
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