Wo die Barrikaden brannten

21.07.2010
Von der Hugenotten-Hatz bis zur 68er-Revolte: Ein Stadtführer durch das "rebellische Paris" erinnert an die historischen Aufstände in der Seine-Metropole. Er macht Lust auf Entdeckungen des kulturellen Gewebes der Stadt.
Die jüngste Pariser Aufwallung mit internationaler Aufmerksamkeit schwelt noch. Nicht im Zentrum, sondern in den nördlichen Banlieues. Und ihre Protagonisten sind vor allem Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien in Afrika. Ob sie "politisch" oder bloß "blutrünstig" ist, steht noch nicht fest.

Das ist naturgemäß anders bei den historischen Aufständen, an deren Orte dieser "Führer durch das rebellische Paris" einlädt. Der älteste ist mehr als 650 Jahren alt: 1358 metzelten bewaffnete Pariser und englische Söldner in der Rue des Anglais im 5. Arrondissement einander gegenseitig nieder.

Unweit davon, auf der Place Maubert, wurden 230 Jahre später die ersten Barrikaden errichtet, aus übereinandergestapelten Fässern: den barriques, bei denen man hierzulande eher an edel gereiften Wein denkt. Ironie der Geschichte: Ihr Ursprung ist politisch höchst unkorrekt: Sie waren "von reaktionären, intoleranten und fanatischen Aufrührern errichtet", katholischen Protestantenhassern um den Herzog von Guise.

Solche Details erfährt, wer sich von Ramón Chao und Ignacio Ramonet, zwei politischen Immigranten, also typischen Parisern, zu zehn Spaziergängen mitnehmen lässt. Sie sind nicht chronologisch sortiert, sondern folgen den zwanzig Arrondissements, die sich wie eine Schnecke um die Île de la Cité winden.

Jeder Gang beginnt mit einem doppelseitigen Farbfoto von heute, einem kleinen Stadtplan, der jeweiligen Metro-Station, und jedes kleine Porträt der Menschen, Orte und Ereignisse endet mit Lese- und Filmtipps. Alles in Vierfarbdruck auf feinem Tiefdruckpapier, vorzüglich übersetzt und klug ergänzt für die deutsche Ausgabe, die insgesamt liebevoller gemacht ist als das französische Original.

Anspruch auf Vollständigkeit erhebt dieser Paris-Verführer nicht, er macht Lust auf Entdeckungen des politischen und kulturellen Gewebes der Stadt. Zu Flora Tristan, Olympe de Gouges und Louise Michel gesellt sich Josephine Baker so selbstverständlich wie Casanova zu Simón Bolívar, Marx & Engels, Lenin, Ho Chi Minh und Frantz Fanon.

Daran, dass Orwell, "seine Fehler und die seiner Klasse abbüßend", sich hier wohl die Tuberkulose zugezogen hat, an der er jung gestorben ist, wird man so en passant erinnert wie an Bakunins auf Marx gemünzten Zorn über mangelnden deutschen Freiheitssinn. Um nur ein paar Namen zu nennen.

All das ist keineswegs verwirrend, denn die Autoren ziehen eine Art dreifachen roten Faden durch das aufsässige Gewebe. Er besteht zum einen aus der vitalen Unruhe, die von Arbeiterkneipen wie Bohème-Cafés oder Medien aller Art ausgehen kann, zum anderen aus dem antikonformistischen Geist, der spätere Generationen immer neu befeuert - von den Revolutionen 1789, 1830 und 1848 über die Commune 1871 und die Résistance während des Zweiten Weltkriegs bis zum Mai 1968 und dem Kampf gegen den eigenen Kolonialismus. Auch dessen ungelöste Reste explodieren heute in den Banlieues. Und zum dritten aus einem spezifischen Ehrgefühl: "Für in- wie ausländische Pariser ist es eine Ehrensache, stets die Unordnung der Ungerechtigkeit vorzuziehen."

Besprochen von Pieke Biermann

Ramón Chao/Ignacio Ramonet: Paris. Stadt der Rebellen. Ein Kulturführer
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, mit Fotos von Silvia Luckner
Rotpunkt Verlag, Zürich 2010
420 Seiten, 32,50 Euro