Wissenschaftsgeschichte

Mit Wurstgift gegen Falten

Frisch geräucherte Würste hängen in einer Fleischerei.
Gefahr aus der Pelle? Wurstgift war weit ins 19. Jahrhundert hinein eine gar nicht selteneTodesursache. © dpa/picture alliance/Stefan Sauer
Von Udo Polmer · 20.03.2015
Einst raffte es Wurstliebhaber in Württemberg dahin, heute nutzt es die Schönheitsindustrie gewinnbringend: Botulinumtoxin, kurz Botox, wurde vor 200 Jahren entdeckt.
Noch vor wenigen Generationen waren Lebensmittelvergiftungen durch gesundheitsschädliche Zutaten oder bakteriellen Verderb an der Tagesordnung. So raffte beispielsweise allein die "Wurstvergiftung" bis weit ins 19. Jahrhundert halbe Dörfer und Sippen dahin. Besonders viele Opfer forderte das Wurstgift im Schwabenlande. Verantwortlich war eine regionale Spezialität, die Blunzen – ein geräucherter Schweinemagen gefüllt mit Blutwurst.
Stinkende und käsig-verfaulte Blutwurst zum Mittagessen
Im Grunde handelte es sich um eine Delikatesse von historischem Rang. Offenbar wollten es die wackeren Schwaben dem Odysseus gleich tun, der im Wettkampf mit einem Bettler einen "großen Magen, mit Fett und Blut gefüllt", vulgo eine Blunze, als Preis errang. So berichtet es Homer. Mit der schwäbischen Version des Produktes war vor 200 Jahren allerdings kein Blumentopf mehr zu gewinnen.
Lange Zeit wurde über die Ursache der vielen Todesfälle gerätselt. Manche Ärzte verdächtigen einen illegalen Zusatz an Pikrinsäure, ein bitterer, gelber Farbstoff, der damals zum Panschen von Bier diente, andere gaben dem exotischen Pfeffer die Schuld oder geheimnisvollen "Holzsäuren" aus dem Rauch. Wieder andere verdächtigten die Blausäure, die als Konservierungsmittel für Würste erwogen worden war. 1895 gelang es dem belgischen Bakteriologen Emile van Ermengem, den Erreger des Wurstgiftes zu identifizieren. Er nannte ihn Bacillus botulinus – nach botulus, das lateinische Wort für Wurst. Heute heißt der todbringende Keim Clostridium botulinum.
"Hauptsach 's Ränzle spannt"
Die entscheidenden Vorarbeiten hatte allerdings der Weinsberger Dichter Justinus Kerner geleistet. 1815 publizierte er die erste wissenschaftliche Beschreibung der Krankheit, fünf Jahre später folgte seine berühmte Schrift über "Beobachtungen über die in Württemberg so häufig vorfallenden tödlichen Vergiftungen durch den Genuss geräucherter Würste". Kerner erkannte, dass in schwäbischen Wurstküchen das Fleisch nicht so lange erhitzt wurde wie andernorts. Durch das sparsame Verfahren konnte der hitzebeständige Keim überleben. Dazu kamen weitere Sparmaßnahmen wie eine hohe Flüssigkeitszugabe, die Verwendung billiger Streckmittel wie Hirn oder Grütze, gefolgt von einer nachlässigen Räucherung. Gar nicht so selten vesperten die Einheimischen auch stinkende und käsig-verfaulte Blunzen – getreu dem im Ländle populären Motto "Hauptsach 's Ränzle spannt".
Gefahr durch Honig, Fischkonserven und Gemüse in Öl
Durch Kerners und van Ermengems Forschungen verlor das Wurstgift allmählich seinen Schrecken. Der Erreger ist hitzestabil, weil er extrem widerstandsfähige Sporen bilden kann, die erst auskeimen, wenn geeignete Bedingungen herrschen. Allerdings gedeiht er nur unter Luftabschluss. Deshalb gibt es bis heute vereinzelte Botulismusfälle durch unzureichend sterilisierte Fischkonserven oder in Öl eingelegte Gemüse.
Neben der klassischen Vergiftung gibt es den zwar ebenso seltenen aber nicht minder gefährlichen "Säuglingsbotulismus". Säuglinge können die Sporen über die Nahrung aufnehmen. Aufgrund fehlender Magensäure überleben die Sporen, keimen im Darm aus und bilden dann das Gift. Ein unterschätzter Kandidat ist Honig, weil Bienen manchmal die Sporen einschleppen. Immer wieder erweisen sich Fälle von plötzlichem Kindstod als Säuglingsbotulismus. Sobald der Magen-Darm-Trakt ausreift, schwindet die Gefahr. Kleinkinder können bereits unbesorgt Honig konsumieren.
Einsatz als Biowaffe
Der technische Fortschritt hat dafür gesorgt, dass wir nicht mehr fürchten müssen, nach einer Brotzeit unter Nervenlähmung elend zu ersticken. Er hat leider auch dazu geführt, dass der unselige Stoff als Biowaffe zur Verfügung steht. Die größte Erfolgstory schreibt das Gift jedoch in der Schönheitspflege: Unter dem Namen Botox lähmt es die Gesichtsnerven und sorgt so für eine faltenfreie Haut.
Hin und wieder kommt es auch hier durch unsachgemäßen Einsatz zu Vergiftungen. Doch wenn's der Schönheit dient, dann wird selbst bei einem Supergift, dessen Produktion dem Kriegswaffenrecht unterliegt, nicht das berühmte "Restrisiko" beschworen. Für ein appetitliches Aussehen ist selbst ein "Wurstgift" willkommen. Mahlzeit!
Literatur:
• Kerner J: Neue Beobachtungen über die in Würtemberg so häufig vorfallenden tödtlichen Vergiftungen durch den Genuß geräucherter Würste. Osiander, Tübingen 1820
• Erbguth FJ: Historical aspects of botulinum toxin. Neurology 1999; 53: 1850-1853
• Blimlinger E: Dieß unseelige Wurstgift! Heureka. Wissenschaftsmagazin im Falter 2001, H.5
• Homer: Odyssee, 18. Gesang
• Chertow DS et al: Botulism in 4 adults following cosmetic injections with an unlicensed, highly concentrated botulinum preparation. JAMA. 2006; 296: 2476-2479
• Li M et al: Fatal case of botox-related anaphylaxis? Journal of Forensic Science 2005; 50: 1
• Kors EM et al: Plötzlicher Kindstod durch Botulismus-Erreger. Kleine Anfrage. Antwort der Bundesregierung. Deutscher Bundestag Drucksache 14/6666 vom 6.7.2001
• Momose Y et al: Food-borne botulism in Japan in March 2012. International Journal of Infectious Diseases 2014; 24: 20-22
• Godart V et al: Botulisme infantile après exposition à du miel. Archives de Pédiatrie 2014; 21: 628-631
• Fischer D et al: Plötzlicher Tod bei Zwillingen: Botulismus durch Kontamination von Gemüsebrei. Klinische Pädiatrie 2004; 216: 31-35
• Dabritz HA et al: Molecular epidemiology of infant botulism in California and elsewhere, 1976-2010. Journal of Infectious Diseases 2014; 210: 1711-1722
• Lopez-Laso E et al: Infant botulism in Andalusia (Southern Spain). European Journal of Paediatric Neurology 2014; 18: 321-326
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