Wissenschaftliche Parallelwelten

15.04.2012
Ein einziges Universum ist dem Physiker und Mathematiker Brian Greene zu wenig. In seinem aktuellen Buch entwirft er das Bild von einem Kosmos, der aus mehreren Universen besteht - und bringt einen damit auf den Stand heutiger Forschung, die fast eine mystische Ebene erricht hat.
Mit dem Begriff "Universum" bezeichnen Astrophysiker die Gesamtheit unserer Welt: Alle Dinge und Phänomene, die im Weltraum existieren oder irgendwie Einfluss auf uns haben, gehören dazu. Doch bis heute ist unklar, wie es entstanden ist, woraus genau es besteht und wie es sich entwickeln wird. Und womöglich ist es nicht allein: Manche Theorien legen nahe, dass es eine fantastisch große Anzahl anderer Universen gibt, die sich uns allerdings komplett verschließen.

Brian Greene macht diese verborgene Wirklichkeit zum Thema seines neuen Buches, indem es sich um Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos dreht - wie es im Untertitel heißt. Dass wir in einem Multiversum leben, dass es also viele verschiedenen Universen gibt, folgt für ihn auf überraschend vielseitige Weise aus den mathematischen Modellen, die die Welt als Ganzes beschreiben. In neun Kapiteln legt er dar, wie parallele Welten entstanden und aufgebaut sein könnten.

Am Anfang steht das Patchwork-Multiversum. Wenn der Weltraum wirklich unendlich groß sein sollte, dann müssen auch wir unendlich oft irgendwo im All vorkommen. Denn die Anzahl der möglichen Kombinationen der Materiebausteine ist begrenzt. Also wiederholt sich alles unendlich oft. Danach geht es um die Parallelwelten der Inflationstheorie, die von einer kurzzeitigen, extrem schnellen Ausdehnung des Kosmos ausgeht. Nach dieser Theorie könnte bis in alle Ewigkeit ein neues Universum nach dem anderen aufplatzen. Viel Platz räumt Brian Greene der Stringtheorie ein - kein Wunder, ist er doch seit einem Vierteljahrhundert in dieser Disziplin tätig. Da werden die Nebenuniversen dann zu Branwelten, die im höherdimensionalen Raum schweben, zum Greifen nah und doch unerreichbar sind.

Am Anfang jedes Kapitels liefert Brian Greene das nötige Rüstzeug, zum Beispiel die Grundlagen in Quantenmechanik, Relativitäts- oder Stringtheorie. Zwar ist das Buch frei von Formeln. Doch so allgemein verständlich, wie der Autor behauptet, stellt er die komplexen Zusammenhänge nicht dar. Über weite Strecken hat der Text fast das Niveau eines Fachbuchs. Ein paar Schwarz-Weiß-Abbildungen helfen eher Spezialisten.

Die stärksten Passagen hat "Die verborgene Wirklichkeit" im siebten Kapitel, wenn es darum geht, ob Multiversen überhaupt etwas mit Naturwissenschaft zu tun haben. Denn Dinge, über die sich nur spekulieren lässt, die sich aber prinzipiell weder bestätigen noch widerlegen lassen, gehören zur Philosophie und Religion. Brian Greene ist souverän genug, Für und Wider in seinem Buch abzuwägen. Doch die Stringtheorie selbst, die für ihn den entscheidenden Ansatz zur Lösung der kosmologischen Probleme liefert, ist bis heute nicht über den Status einer eleganten mathematischen Spielerei hinaus gekommen. Sie kann stimmen oder auch völlig falsch sein. Niemand weiß es.

In der Einleitung fordert Brian Greene von seinen Lesern zurecht Durchhaltewillen. Wer tatsächlich bis zur letzten Seite kommt, wird zwar vieles nicht verstanden haben, aber zugleich ebenso fasziniert wie verwundert auf den Stand heutiger Forschung blicken: Entweder hat die Kosmologie mittlerweile eine fast mystische Ebene erreicht - oder einige brillante Theoretiker arbeiten längst in einem Paralleluniversum.

Besprochen von Dirk Lorenzen

Brian Greene: Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos.
Übersetzt von Sebastian Vogel
Siedler Verlag, Berlin 2012
448 Seiten, 24,99 Euro
Mehr zum Thema