Wissenschaftler: Hollande hat Vision von der ewigen französischen Republik

Katrin Heise im Gespräch mit Jürgen Ritte · 04.05.2012
Nach Einschätzung von Jürgen Ritte, Direktor des Instituts der Etudes Franco-Allemandes an der Sorbonne, hat es der Sozialist François Hollande geschafft, sich beim TV-Duell gegen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy "deutlich zu profilieren". Er stehe für eine "Republik, die für alle gleich ist und alle schützt".
Katrin Heise: Von ihrem Präsidenten – diesem in Europa ja selten mächtigen Wesen – verlangen die Franzosen, eine Idee zu verkörpern, eine Idee von Frankreich, hinter der sich dann die ganze Nation wiederfindet, nachdem sie sich, wie jetzt dieser Tage gerade, in zwei Lager gespalten hat. An diesem Freitag vor der französischen Präsidentenwahl begrüße ich Jürgen Ritte. Er ist Direktor des Instituts der Etudes Franco-Allemandes an der Sorbonne. Guten Tag, Herr Ritte!

Jürgen Ritte: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Welche Idee, welche Vision von Frankreich trat denn in dem Wahlkampf oder welche traten, welche Ideen, welche Visionen traten denn gegeneinander an?

Ritte: Das war zunächst sehr schwer auszumachen für das Wahlvolk, und es wurde beklagt in den Leitartikeln, dass dort keine großen Visionen sich konturierten. Das hat sich jetzt zwischen den beiden Wahlgängen doch etwas verändert, und Nicolas Sarkozy hat, was man bedauern muss, doch sehr stark nach rechts geschielt, nach rechts außen geschielt, weil er diese Wählerschaft, die ja immerhin fast 20 Prozent Marine-Le-Pen-Stimmen abgegeben hat, einfangen wollte, und so bei seinem Projekt ein sehr konservatives, ein sehr man muss schon sagen reaktionäres ... mit dem Wunsch, die französischen Grenzen wieder aufzuziehen mit dem Wunsch, möglichst viele Ausländer nach draußen zu schaffen und einigen anderen Programmpunkten, die der klassischen, extremen Rechten angehören. Das ist ein Bild von Frankreich, das wenig generös ist, und dieses wiederum verkörpert jetzt François Hollande etwas mehr, ...

Heise: Das generösere.

Ritte: ... das generösere, der die Werte der Republik hochhält. Das ist das, was die Herzen vibrieren lässt: die Republik, die für alle gleich ist und alle schützt. Ob das Programm so entsetzlich fortschrittlich ist, ist eine andere Frage. Aber immerhin: Er hat es geschafft, in dem Fernsehduell, das letzten Mittwoch stattgefunden hat, sich doch deutlich zu profilieren als jemand, der in der Nachfolge eines Mitterrand eine Vision hat von der ewigen französischen Republik.

Heise: Ja, die Vision von der ewigen französischen Republik – ich meine, es stehen ja auch Themen an, die man ja auch in eine Vision einbinden könnte: Europa, digitale Welt, Klima.

Ritte: Ja. Traditionellerweise fallen Themen wie das Klima, also die Ökologie – wir haben es an dem Wahlergebnis ja auch gesehen, nicht mal drei Prozent für Eva Joly, die Kandidatin der Grünen –, fallen solche Themen im Wahlkampf immer zurück, im Präsidentschaftswahlkampf. Im Zentrum stehen dann doch eher die innenpolitischen Fragen, und da ist ja auch einiges auf dem Tisch: Verteidigungsgerechtigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich, die sich immer weiter aufgetan hat in den letzten fünf Jahren – das besorgt die meisten Franzosen, und deswegen war die Debatte sehr stark innenpolitisch orientiert mit am Ende doch einigen auch europapolitischen Aussichten. Immerhin, man hat inzwischen auch in Frankreich begriffen, dass der Spielraum, der nationale Spielraum doch schon arg beengt ist und dass die wirkliche Ebene, wirkliche Visionen oder die Ebene, auf der Visionen sich anzusiedeln hätten, eigentlich Europa ist.

Heise: Wie sehen denn die Franzosen – Sie haben es gerade angesprochen – ihre Grande Nation eigentlich immer und wie stark fühlen sie sich? Durch die Krise ist Frankreich ja einigermaßen auch durchgekommen, aber Arbeitslosigkeit, vor allem Jugendarbeitslosigkeit macht ja wohl große Angst, und Sie sagen, Verteilungsgerechtigkeit ist das Thema.

Ritte: Ja, sie fühlen sich sehr verunsichert. Sie fühlen sich sehr verunsichert und das hat es vor allen Dingen Marine Le Pen sehr leicht gemacht, mit vollkommen absurden, mit so absurden wie schlagkräftigen Parolen vom Ausstieg aus Europa, von der Wiedereinführung des Franc, von wie gesagt der Abschottung des Landes gegen Ausländer – also mit all diesem furchtbaren Unfug, den sie auch niemals würde durchsetzen können, selbst wenn man sie wählen würde – Wähler zu mobilisieren, frustrierte vor allen Dingen zu mobilisieren, und davon gibt es eine ganze Reihe in Frankreich. Aber auch zur Linken, zur extremen Linken – links von François Hollande hatten wir ja noch Monsieur (…) – ist diese Versuchung der Rückfaltung auf das eigene Land, der Abschottung nach außen immer sehr groß. Das heißt, Begriffe wie die Globalisierung und wie Europa werden von den Politikern sehr häufig, ob sie links sind oder rechts, doch zu stark negativ besetzt.

Heise: Das Amt des französischen Präsidenten – ich habe ja gesagt, das ist ein also in Europa selten mächtiges Amt, ein quasi monarchistisches Amt ja schon fast. Was erwarten die Franzosen von dieser Präsidentenfigur, wenn man sich das alles so im Hinterkopf behält, was Sie gerade auch gesagt haben, wie es ihm geht, dem Volk?

Ritte: Was man davon erwartet, ist – ähnlich wie bei einem pharaonischen Typen wie es François Mitterrand war oder eben der große Charles de Gaulle als der Befreier, der mit diesem Image natürlich aufgetreten ist: Man erwartet von ihm die Inkarnation einer gewissen Idee. Diese gewisse Idee Frankreichs ist schon die auch der Besinnung auf die Größe, auf die Traditionen, darauf, auch auf internationaler Bühne eine große Rolle zu spielen, wie das zuletzt passiert ist noch einmal unter Chirac, als in einer denkwürdigen Rede des Außenministers vor den Vereinten Nationen, die Verweigerung bekannt gegeben wurde, nicht mehr in den Golfkrieg ziehen zu wollen, den von George Bush junior. Das sind die Momente, die die Nation auch vibrieren lassen.

Und es wird erwartet, dass er nach innen hin so eine Art, na ja, Vater des Vaterlandes ist, der für eine Republik sorgt, die gerecht ist. Daran liegt den Franzosen doch sehr, an der egalité und an der damit verbundenen Idee der Bildungsgerechtigkeit, der gleichen Chancen und so weiter. Alles das liegt arg im Argen, und ein Präsident, der sich eine Statur verschaffen will, müsste hier auch mit Projekten und mit konkreten Projekten auftreten können.

Heise: Welchen Blick haben die Franzosen eigentlich ... Man kann sich ja auch vorstellen, dass man manchmal ein bisschen Angst bekommt vor diesem starken und mächtigen Amt. Es gibt ja auch immer wieder so Reformierungsversprechen oder Andeutungen. Das spielt aber im Moment vor der Wahl überhaupt gar keine Rolle, ja?

Ritte: Wenig, wenig. Also François Hollande hat gesagt, dass er als Präsident seine eigenen Befugnisse beschneiden will, dass er beispielsweise nicht, wie Nicolas Sarkozy es getan hat, den obersten Intendanten sämtlicher öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten selbst und persönlich ernennt.

Heise: Kommt so was an, wenn man sich da selbst beschränken will?

Ritte: Das kommt an als Programm. Inwiefern die Franzosen das glauben, sei dahingestellt. Einer der größten Kritiker dieser Fünften Republik, die er als permanenten Staatsstreich bezeichnete, weil eben der Präsident sozusagen permanent das Ruder rumreißen kann, das war François Mitterrand, der dann volle 14 Jahre lang die Machtbefugnisse des Präsidenten voll ausgekostet hat und vergessen hatte, dass er diese Form der Staatsform stark kritisiert hatte, nach dem Motto: Die Kritiker der Elche waren früher selber welche.

Und Nicolas Sarkozy hatte ähnliche Versprechen gemacht – auch daraus ist nichts geworden, im Gegenteil: Er hat die Regierung geradezu zur Bedeutungslosigkeit verdammt, er hat den Premierminister einen Mitarbeiter genannt und nicht Regierungschef. Und François Hollande, wie gesagt, tritt nun auf mit dem Versprechen, sich zu beschneiden, Machtbefugnisse zu beschränken des neuen Präsidenten, aber er tritt nicht mit dem Projekt auf, eine Sechste Republik ins Leben zu rufen, das heißt, das wäre eine, die vielleicht langsam den Übergang fast schafft zu einer wirklich parlamentarischen Demokratie mit einem gestärkten Parlament, mit einem proportional besetzten Parlament. Alles das sind Dinge, die wir ja nicht haben.

Heise: Na, und wenn ich Sie richtig verstehe, man ja auch nicht unbedingt will, sondern diesen starken Mann, den liebt man ja eigentlich auch.

Ritte: Und wobei in der Tat aber auch mit zu berücksichtigen ist, dass der starke Mann oder wie gesagt der Monarch in der Tradition stark verankert ist. Ein ehemals linker Revolutionär und Philosoph wie Régis Debray, der einmal zusammen mit Che Guevara gekämpft hat und in kolumbianischen Gefängnissen saß, hat vor Kurzem verkündet, man dürfe nicht an dieser Form der Präsidentschaft rühren, das sei sozusagen Zeichen der französischen Identität, die aus einer Monarchie hervorgegangen sei. Also Sie sehen, der Konsens ist relativ breit.

Heise: Wir sprechen mit Jürgen Ritte, Publizist und Direktor des Instituts der Etudes Franco-Allemandes an der Sorbonne, über die Befindlichkeiten in Frankreich kurz vor der Präsidentschaftswahl. Herr Ritte, ist Frankreich eigentlich wirklich stärker nach rechts gerückt in der letzten Zeit, so wie wir das in Deutschland immer mit Schrecken wahrnehmen?

Ritte: Ja, man nimmt es mit Schrecken wahr, aber immer mit einem sehr kurzen Gedächtnis. Man muss schon daran erinnern, dass der Front National mit Jean-Marie Le Pen und jetzt seiner Tochter Marine Le Pen seit mindestens 25 Jahren in Frankreich sehr präsent ist und seit dieser Zeit auch immer gut ist für 15 Prozent und mehr, und 2002 war ja sogar Jean-Marie Le Pen im zweiten Wahlgang um die Präsidentschaftswahl. Das vergisst man immer wieder.

Man fährt dann immer sehr erschrocken hoch, wenn dann wieder diese unglaublich hohen Zahlen bekannt werden – aber Frankreich hat an seinem extremen rechten Rand dieses große Potenzial. Das ist ein Becken, das sehr hetero (…) ist: Es gibt dort katholische Integristen, wie andere, die vielleicht Nostalgiker des Vichy-Regimes sind, eines autoritären, anti-demokratischen Staates, da gibt es sogar unter Umständen auch noch ein paar Monarchisten dazwischen – also es gibt eine ganze Menge an ...

Heise: ... die sich jetzt bei Ihnen melden, wer weiß, und sich schon beschweren ...

Ritte: ... die dort sich vertreten fühlen und immer wieder durch die charismatischen Figuren der Le Pens eine große Bewegung schaffen.

Heise: Wo Sie gerade von charismatischen Figuren sprechen, eine Frage habe ich noch: Im Wahlkampf fehlten irgendwie die Stimmen der französischen Dichter und Denker. Wo waren die?

Ritte: Die haben mehr oder weniger den Kopf eingezogen. Ich glaube, auch das liegt daran, dass die Zeiten, in denen politische Auseinandersetzungen – sei es um die französische Präsidentschaft – auch Auseinandersetzungen sind der Ideologien, der großen gesellschaftlichen Orientierungen, vorbei sind, und dass die Intellektuellen, die man immer schnell im Fernsehen sieht und die dann auch in Deutschland bekannt sind wie Bernard-Henri Lévy beispielsweise es vorziehen inzwischen, Schauplätze zu suchen, die medial attraktiver sind und in denen man noch mehr gewinnen kann, wenn man beispielsweise auf die ... zum Kriegseinsatz in Libyen drängt und so weiter.

Heise: Jetzt klingelt Ihr Wecker, jetzt hören wir auf. Dankeschön, Jürgen Ritte, Publizist und seit Langem um die deutsch-französischen Beziehungen bemüht. Herr Ritter, ich danke Ihnen für Ihre Eindrücke aus Frankreich. Schauen wir mal, was dann am Sonntag gewählt wird.

Ritte: Dankeschön!


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