Wissenschaft

"Ein festes Rentenalter ist Unsinn"

Zwei Senioren sitzen an der Uferpromenade in Langenargen (Baden-Württemberg) auf einer Parkbank.
Zwei Senioren sitzen auf einer Parkbank. © dpa / picture alliance / Felix Kästle
Axel Börsch-Supan im Gespräch mit Martin Steinhage · 31.05.2014
Menschen zwischen 60 und 70 seien heute so fit wie früher zwischen 50 und 60, sagt der Wissenschaftler Axel Börsch-Supan. Das Rentenalter müsse sich an die steigende Lebenserwartung anpassen. Statt in die Rente mit 63 oder die für Mütter müsse in die Bildung junger Menschen investiert werden.
Martin Steinhage: Heute habe ich keinen Gast, sondern ich bin zu Gast, und zwar in München am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Mein Gesprächspartner ist hier einer der beiden Direktoren und heißt Axel Börsch-Supan. Er leitet das MEA, das Munich Center fort he Economics of Aging. Diese Forschungseinrichtung ist Teil des hiesigen Max-Planck-Instituts. Sie befasst sich, vereinfacht gesagt, mit den ökonomischen Folgen des demographischen Wandels. Und das soll auch heute unser Thema sein. – Guten Tag, Prof. Börsch-Supan.
Axel Börsch-Supan: Guten Tag.
Steinhage: Herr Börsch-Supan, Sie sind im 60. Lebensjahr und haben, wie ich weiß, jede Menge Termine und Aufgaben. Und ich unterstelle mal, Sie haben keine 40-Stunden-Woche, sondern liegen deutlich darüber. Hand aufs Herz. Spüren Sie manchmal Ihr Alter oder wird es Ihnen nie zuviel mit der Arbeit?
Axel Börsch-Supan: Also, ich spüre mein Alter, wenn ich die Treppe hier hoch laufe, denn ich benutze den Aufzug nie – ganz grundsätzlich. Und wenn ich dann renne, dann pustet das schon.
Steinhage: Aber die Arbeit selbst, das ist für Sie okay.
Axel Börsch-Supan: Nein, die Arbeit selbst, das ist nicht die Beanspruchung.
Steinhage: Sie hält Sie also eher jung. Sie beschäftigen sich seit langem mit dem demographischen Wandel und seinen ökonomischen Auswirkungen. Eine Ihrer Kernaussagen lautet: Der Durchschnittsmensch ist heutzutage mit 60, 65 Lebensjahren noch lange nicht alt, sondern den Herausforderungen der Berufswelt noch voll gewachsen. Woran machen Sie das fest?
Axel Börsch-Supan: Wir sammeln Daten. Das ist nicht einfach so daher gesagt, sondern wir schauen uns die Menschen an. Wir lassen sie Dinge tun. Wir fragen sie, was sie noch können. Und dann sieht man, dass das Bild auch nicht so eindeutig ist, sondern sehr differenziert. Es gibt selbstverständlich Menschen, denen es nicht so gut geht wie mir, die im Alter von 55 bis 60 auch ernste gesundheitliche Schwierigkeiten haben. Das muss man schon konstatieren.
Es gibt aber auch andere Menschen, die wirklich kerngesund sind, und das auch noch mit 70 oder 80. Da ist das Spektrum wirklich sehr, sehr breit. Und ich glaube, das ist wichtig. Der Durchschnittsmensch in Deutschland ist gesund mit 60 und 65 und auch 67. Aber es gibt Abweichungen in alle Richtungen.
Steinhage: Dann lassen sie mich noch einen Moment bei dem Durchschnittsmenschen, so wie Sie ihn eben definiert haben, bleiben. Machen denn die Alten, sei es im Büro, sei es an der Werkbank, nicht mehr Fehler als die Jüngeren? Sind Ältere innovativ genug? Und last, but not least, wie steht es um deren Gesundheit, um die physische wie psychische Belastbarkeit?
Axel Börsch-Supan: Ja, fangen wir mal an mit der Gesundheit. Wenn man die Menschen einfach fragt, wie geht’s Ihnen denn, und gibt ihnen fünf Kategorien von exzellent bis schlecht, dann sagen 80 Prozent gut, sehr gut oder sogar exzellent, ausgezeichnet. Das ist ein schon sehr schönes Ergebnis. Aber es sind auch 20 Prozent, bei denen das schlechter ist.
Dann fragen wir sie nach allen möglichen Tätigkeiten. Können Sie zwei Stockwerke die Treppen hochgehen? Können Sie einen Kilometer laufen? Können Sie eine fünf Kilogramm schwere Einkaufstasche tragen? Können Sie eine Münze mit zwei Fingern von dem Tisch hochheben, so dass die Feinmotorik abgefragt wird. Ungefähr 75 Prozent haben keinerlei Einschränkungen in diesen Dingen.
Und dann bitten wir die Leute in den Befragungen, dass sie zum Beispiel in ein Röhrchen blasen. Und dann messen wir die Lungenkraft. Dann haben wir ein kleines Gerät, das misst die Muskelstärke. Auch da sieht man, dass Menschen im Alter zwischen 60 und 70 sehr gut dran sind, ungefähr so gut wie Menschen zwischen 50 und 60 vor 30, 40, 50 Jahren.
"Weiterbildung ist eine Lebensaufgabe"
Steinhage: Die Zahl der Menschen, die jenseits des 65. Lebensjahres noch berufstätig sind, übrigens meist in Teilzeit, steigt. Angeblich ist unter allen Erwerbstätigen die Gruppe der Ältesten am zufriedensten, habe ich jedenfalls gelesen. Stimmt das und warum ist das so, wenn es denn stimmt?
Axel Börsch-Supan: Ja, da ist eine schwierige Frage. Also, man sieht, dass die Lebenszufriedenheit so um die 35, 40 ein Tief hat. Dann geht es so peu à peu hoch. Und in der Gegend von 55, 60 ist man voll im Berufsleben und sehr zufrieden. Dann geht es so ein bisschen auseinander. Diejenigen, die gesund sind, bei denen steigt die Lebenszufriedenheit bis ins hohe Alter. Bei denen, die dann Schwierigkeiten mit ihrer Gesundheit haben, da sieht man schon, dass es eher runter geht; aber zum Teil dann auch wieder hoch, wenn die Menschen sich damit abgefunden haben, dass sie halt mal nun nicht mehr in 2000 Meter Bergsteigen können so wie als sie noch 18 waren.
Steinhage: Es gibt allerdings auch immer mehr Alte, die müssen arbeiten, weil die Rente einfach nicht reicht. Auf diese Gruppe von 800.000 Menschen, unterstelle ich mal, dürfte das eben Gesagte ja wohl nicht zutreffen. Oder haben Sie da auch empirische Untersuchungen, dass die insgesamt auch zufrieden sind, weil sie eben noch im Berufsleben stehen, in Teilzeit meinetwegen?
Axel Börsch-Supan: Ja, es gibt eine Reihe von Menschen, die unzufrieden sind, weil sie eigentlich aufhören wollen, weil sie einen Beruf haben, in dem sie sich langweilen oder auch körperlich zu sehr angestrengt sind. Ich denke, da machen wir Fehler. Also, Sie können sich alle an die Äußerungen von Herrn Kurt Beck erinnern, der sagte, es ist unzumutbar, dass ein Dachdecker mit 65 auf dem Dach noch balanciert. Und da gebe ich ihm völlig Recht. Aber die Konsequenz, dass wir die Leute dann früher in Rente schicken, die ist falsch, sondern wir müssen die Arbeit umorganisieren. Wir müssen Arbeit so gestalten, dass man eben nicht mit 60 sich überfordert fühlt, Dinge machen muss, die nicht mehr adäquat sind, sondern man muss im Laufe des Lebens vielleicht nicht den Beruf, aber die Art von Beschäftigung wechseln. Also, der Dachdecker soll nicht aufs Dach steigen, sondern der soll beim Dachziegelverkaufen helfen, den Kunden beraten, Planungsskizzen machen und solche Dinge. Das kann er auch noch mit 60.
Steinhage: Aber wenn er das denn können soll und können muss, dann ist doch im Grunde genommen der Betrieb gefordert, um ihn darauf vorzubereiten. Denn ich unterstelle mal, wer 40 Jahre auf dem Dach rumgekraxelt ist, der ist ja nicht automatisch für diese Dinge geeignet. Möglicherweise muss er dann eben auch geschult werden und Weiterbildung machen.
Axel Börsch-Supan: Völlig richtig, ganz wichtig. Weiterbildung ist eine Lebensaufgabe. Das muss ja nicht so eine große Geschichte sein, dass alle nochmal was ganz Neues machen. Sondern das Beispiel, dass der Dachdecker dann ein bisschen was über Verkaufstechniken lernt, das sollte doch nicht unmöglich sein. Das liegt auch letztlich im Sinne der Arbeitgeber, denn gute Fachleute, auch in der Beratung, sind ja selten.
Steinhage: Wenn wir an dieser Stelle mal eine Klammer machen - Stichwort altersspezifische Arbeitsplätze und Ihre These, dass man tatsächlich fitter ist im Alter, dass man auch länger arbeiten kann: Da haben wir aber noch jede Menge Aufholbedarf hier als Gesellschaft, um das sozusagen auf die Schiene zu bringen?
Axel Börsch-Supan, Direktor am Münchener Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, sitzt am 06.06.2012 in München in seinem Büro.
Axel Börsch-Supan, Direktor am Münchener Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik© Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik/dpa
Axel Börsch-Supan: Das kann ich nur unterschreiben. Wenn man uns vergleicht zum Beispiel mit den skandinavischen Ländern, aber auch mit den Niederlanden und in gewisser Weise auch mit den Vereinigten Staaten, da sind wir weit hinterher. Das ist überhaupt die große Achillesferse Deutschlands. Wir sind weder in der Ausbildung unserer jungen Leute Spitze, sondern höchstens Mittelmaß, geschweige denn in der Weiterbildung Älterer. Da liegen wir in Europa eher an den letzten Plätzen.
"Die Frührente ist ein teurer Spaß"
Deutschlandradio Kultur: Jetzt reden wir immer über die, die noch arbeiten sollen und wollen. Nun gibt es aber auch viele, die dann aus dem Arbeitsleben ausscheiden und, auch das habe ich gelesen und gehört, nach einer gewissen Zeit in ein Loch fallen und dann unzufrieden, vielleicht gar unglücklich sind. Deckt sich das mit Ihren Forschungsergebnissen? Haben Sie auch da Untersuchungen in der Richtung angestellt?
Axel Börsch-Supan: Ja. Das haben wir. Da kommen doch schon sehr interessante Dinge raus. Die Lebenszufriedenheit sinkt mit der Anzahl der Freunde, die man hat, der Kontakte, der menschlichen Kontakte. Und es ist sehr schwer sich vorzustellen, dass man nach der Verrentung so schnell seine Kontakte verliert. Und dann realisiert man erst nachträglich, wie wichtig der Job eigentlich für einen war, die tägliche Arbeit. Sie gibt nicht nur ein Gerüst, wie man sich den Tag einteilen muss, sondern verschafft eben auch Kontakte.
Das klingt jetzt sehr merkwürdig, aber manchmal sind selbst die Kontakte, über die man sich ärgert - also der Boss, den man eigentlich loswerden will -, trotzdem als Projektionsfigur sehr wichtig. Wenn man niemanden hat, über den man schimpfen kann, das fehlt einem dann letztlich auch. Das hört sich ulkig an, aber man merkt das in diesen Umfragen immer wieder, dass Leute überrascht sind, wie einsam man werden kann nach der Verrentung.
Steinhage: Neuerdings ist öfter die Rede von Unternehmen, die bereits verrentete Ex-Mitarbeiter auf Zeit zurückholen, beispielsweise bei der Hamburger Otto Group passiert das. Auch bei Daimler ist das kürzlich passiert. Aber insgesamt, glaube ich, sind es wohl eher noch Einzelfälle. Oder hat bei den Personalchefs bereits auf breiter Front ein Umdenkprozess eingesetzt in die Richtung, dass man sagt, wir brauchen die Alten, wir können auf deren Know-how nicht verzichten?
Axel Börsch-Supan: Also, ein Umdenkprozess in dieser Richtung hat eingesetzt, aber breite Front wäre leider übertrieben. In Großfirmen gibt es spezielle Programme. Aging Work Force zum Beispiel bei Daimler-Chrysler ist sehr früh eingeführt worden, daher noch der alte Name. Auch bei anderen Firmen macht man sich Gedanken über den Facharbeitermangel. Denn es sind gerade die fachlich gut Ausgebildeten, die man dann wieder braucht. Es gibt eine Reihe an Modellen für Beratung, wo man also Menschen, die sehr viel auch Lebenserfahrung hatten, plötzlich vermisst und dann als Berater wieder reinzieht ins Unternehmen. Also, ich denke, wenn wir da uns noch mehr anstrengen, das könnte wirklich ein Erfolgsmodell werden.
Steinhage: Was sagen Sie denjenigen, die da argumentieren, wenn immer mehr ältere Menschen immer länger arbeiten, dann nehmen die doch den Jungen die Arbeit weg?
Axel Börsch-Supan: Wenn das so wäre, dann würde man ja auch drüber nachdenken, wie das war, als die Frauenerwerbsquote deutlich angestiegen ist. Ist in dieser Zeit die Männererwerbsquote abgesackt? Nein, ganz im Gegenteil, sie ist parallel hoch gegangen.
Wir sehen auch immer wieder, dass – wenn sich andere Veränderungen in der Gesellschaft auftun – das nicht die einen auf Kosten von anderen sind. Also, das ist eine Fehlvorstellung. Es erinnert mich so ein bisschen an einen Kiosk. In einen Kiosk passen, wenn man drückt, vielleicht drei Leute rein, vielleicht auch vier, aber irgendwann ist Schluss. Und wenn man den fünften einstellen will, muss der erste wieder gehen. Aber so funktioniert keine Volkswirtschaft, sondern wir haben ja in den letzten Jahren gesehen, wir hatten vor ungefähr zehn Jahren 38 Millionen Erwerbstätige. Jetzt haben wir 42 Millionen Erwerbstätige, obwohl wir bevölkerungsmäßig konstant geblieben sind, sogar leicht geschrumpft. Das kann atmen. Das ist eine wichtige Einsicht. Die Volkswirtschaft atmet als Ganzes und kann durchaus die Älteren noch in der Beschäftigung halten und trotzdem die Jüngeren einstellen – ganz im Gegenteil.
Die Frührente ist ein teurer Spaß. Das geht auf Kosten der Jüngeren. Das treibt die Lohnnebenkosten hoch und macht jüngere Leute teurer einzustellen. Insofern ist es eigentlich genau eher umgekehrt. Und das sieht man auch. In Ländern, in denen die Frühverrentung hoch ist, sind die Sozialbeiträge sehr hoch und die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch – und umgekehrt.
"Menschen sind im Alter noch verschiedener als sie es ohnehin schon sind"
Steinhage: Wie ist das in der Gesamtschau? Haben sich die Chancen der Über-55-Jährigen am Arbeitsmarkt in den letzten Jahren tatsächlich verbessert? Oder gilt noch immer, wer in dem Alter etwas adäquat Neues sucht, der sucht fast immer vergebens?
Axel Börsch-Supan: Das muss man differenziert sehen. Die Wiedereinstellungschancen von jemandem, der mit 55 entlassen wurde, sind nach wie vor schlecht. Aber die Weiterbeschäftigungschancen sind enorm gestiegen. Was wir sehen, ist, dass sich der Anteil der Über-55-Jährigen - also, messen tun wir das zwischen 55 und 64 - in den letzten zehn Jahren deutlich erhöht hat, wirklich massiv, mehr als verdoppelt. Das sind aber im Wesentlichen Mechanismen, bei denen Mitarbeiter nicht vorzeitig in den Ruhestand geschickt worden sind, sondern die sind einfach länger dageblieben. Und das macht auch Sinn.
Es ist nicht so einfach für einen älteren Menschen, sich in was komplett Neues einzuarbeiten. Dagegen das, wo man Erfahrung hat, besser auszunutzen, da rechnet sich das auch für den Arbeitgeber. Insofern ist eigentlich das Allerwichtigste, dass man mit diesen fürchterlichen Frühverrentungsprogrammen aufhört, wo man – wenn eine Firma schrumpft – primär die Älteren in die Wüste schickt. Das ist ein großer Fehler, weil dadurch eben das Erfahrungswissen verloren geht.
Steinhage: Ende der vergangenen Woche hat der Deutsche Bundestag das Rentenpaket der Koalition verabschiedet. Darin enthalten ist auch das erklärte Ziel einer Flexibilisierung des Renteneintrittsalters. Die Einzelheiten sollen im Herbst ausgehandelt werden. Fest steht aber nunmehr, da bewegt sich was. Ist das in Ihrem Sinn der Durchbruch oder nur ein erster bescheidener Schritt?
Axel Börsch-Supan: Na, das kann man jetzt noch nicht sehen. Da liegt der Teufel im Detail, was man damit genau bewirken kann. Ich sehe das als eine ausgesprochen schwierige Aufgabe. Prinzipiell ist das zu begrüßen. Menschen sind im Alter noch verschiedener als sie es ohnehin schon sind. Es gibt Menschen, die hören gerne früh auf. Es gibt Menschen, die müssen früh aufhören, weil es gesundheitlich nicht so ist, wie sie es sich gerne wünschen würden. Es gibt aber auch das Gegenteil. Und das muss man anpassen. Von daher ist ein festes Rentenalter ohnehin eigentlich ein Unsinn.
Das Rentenalter muss flexibel sein. Nur ist es so, die Rente muss auch finanziert werden. Das heißt, wenn die einen viel in die Rentenkasse einzahlen, weil sie lange arbeiten, dann muss man ihnen gerechterweise auch eine höhere Rente geben, die sie ja dann ohnehin kürzer beziehen bei gleicher Lebenserwartung. Und dieses Hin und Her, wenn man länger Rente bezieht, ist die Rente etwas niedriger, wenn man kürzer Rente bezieht, weil man später in die Rente geht, dann muss die Rente höher sein, das ist gar nicht so einfach auszurechnen. Da geht es um die so genannten Zu- und Abschläge. Meistens hört man von den Abschlägen, da haben Sie eine negative Meinung. Tatsächlich sind es ja auch Zuschläge, wenn man länger arbeitet, über die normale Zeit hinaus. Und bei den Zuschlägen muss man sich schon was einfallen lassen, damit man die Leute gerecht dafür kompensiert, dass sie länger arbeiten. Da ist es mit 3,6 Prozent im Jahr nicht getan.
"Die Proportionen müssen gewahrt sein"
Steinhage: Eine in diesem Zusammenhang noch hypothetische Frage - Betonung auf "noch": Nun mag es ja auch Ältere geben, die ihre Leistungsfähigkeit überschätzen und auch noch als Rentner im Betrieb bleiben wollen, obwohl der Arbeitgeber eher froh wäre, sie loszuwerden. Was meinen Sie? Muss künftig ein Unternehmen jeden weiterbeschäftigen, der bleiben will? Oder sollte sich der Personalchef aussuchen dürfen, wen er noch für eine gewisse Zeit behalten will, wenn der denn mag?
Axel Börsch-Supan: Na ja, das ist natürlich immer eine Verhandlung zwischen zwei Personen. Und Interessensausgleich gehört zu jeder guten Firma dazu. Ein guter Personalchef wird erstens dafür sorgen, dass es zu einer Konfliktsituation nicht kommen wird, indem man die Menschen vorher auf einen anderen Posten setzt. Eine größere Firma hat da natürlich mehr Flexibilität als kleine Firmen. Aber das große Umdenken in unseren Köpfen ist das, was bis jetzt fehlt, dass Menschen – allein, damit die Rente noch finanzierbar ist – länger arbeiten müssen als bis jetzt, dafür müssen die Arbeitgeber auch ihren Teil tun, dass das auch funktioniert, und sich überlegen: Wie setze ich wen wo ein, dass dieser Mensch auch mit 65 noch glücklich ist an seinem Arbeitsplatz. Das ist eine Aufgabe, die hat man oft in der Vergangenheit ignoriert. Und das war ein Fehler.
Steinhage: Zum umstrittenen Rentenpaket der Bundesregierung, das ja letzte Woche - wie gesagt - verabschiedet wurde, gehört auch die verbesserte Mütterrente sowie unter bestimmten Bedingungen die abschlagsfreie Rente mit 63. Es klang schon an und ich unterstelle mal, dass Sie nicht gerade glücklich sind über dieses Rentenpaket. Wird denn mit diesem Paket gar die Zukunftsfähigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung aufs Spiel gesetzt?
Axel Börsch-Supan: Na ja, ich bin nicht der Einzige, der diese Rolle rückwärts nur mit Kopfschütteln beantwortet. Sie wissen, bei Umfragen muss man die Ökonomen, die das gut finden, so suchen wie die Nadel im Heuhaufen. Es kann nicht angehen, dass – wenn wir alle länger leben – wir das Renteneintrittsalter wieder nach unten verschieben. Man muss sich einfach überlegen, wie das mit den Proportionen im Leben ist. Und diese Verhältnisse, die kann man nicht einfach stören. Also, wenn man drei Jahre länger lebt, dann muss man einen gewissen Teil dieser drei Jahre auch länger arbeiten. Mit dem anderen kann man dann die Rentenzeit verlängern. Die Proportionen müssen gewahrt sein.
Die Rente mit 63 - und wir hoffen nur, dass es nicht eine Rente mit 61 wird wegen der Anrechnung der Arbeitslosigkeit - geht da in die falsche Richtung. Sie geht auch gegen das allmähliche Einsehen in der Bevölkerung, dass wir das Rentenalter hier anpassen müssen. Es ist einfach das falsche Signal. Es ist nicht zeitgemäß und wird nicht zu halten sein. Wir würden das wieder rückgängig machen müssen, und zwar wahrscheinlich schneller als wir denken.
"Konsequentere Politik bei Bildung für die jüngeren Menschen"
Steinhage: Es gibt Experten, die sagen schon heute, wir werden nicht umhin kommen, irgendwann die Rente mit 70 einzuführen. Von Ihnen habe ich dergleichen noch nicht gehört oder habe ich das einfach übersehen?
Axel Börsch-Supan: Nein, nein. Ich bin überhaupt nicht dafür, irgendwelche solche Zahlen jetzt in die Welt zu setzen. Das liegt daran, was aus unserer Lebenserwartung wird. Ich bin dafür, dass wir eine Regel haben, die die von mir ja so betonten Proportionen im Leben aufrecht erhält. Also, jedes Mal, wenn wir drei Jahre länger leben, dann schieben wir das Rentenalter um zwei Jahre hoch, so dass die Menschen auch ein Jahr länger in Rente gehen können. Da brauchen wir über gar keine festen Rentenalter mehr zu rechnen, sondern wir haben alle paar Jahre eine Anpassung, die automatisch an die Lebenserwartung geht.
Steinhage: Was sagen Sie jungen Menschen - nehmen wir mal die 25-, 30-Jährigen, und das hört man immer wieder, dass die sagen, "ach komm, mit der Rente kommt für mich eh nichts mehr bei rum". Ist das Blödsinn oder ist diese Sorge berechtigt?
Axel Börsch-Supan: Das ist Blödsinn. Der gute Norbert Blüm hat ja ganze Plakatsäulen mit "Die Rente ist sicher" beklebt. Da hat er natürlich damals den Mund zu voll genommen. Wir werden die Höhe der Rente nicht so sichern können wie in den 70er-Jahren. Aber dass die Rente verschwindet und nur noch eine Grundsicherung ist, das ist genauso falsch. Also, da kippen wir einfach von einem Extrem zum anderen.
Wenn alle Berechnungen stimmen, bis jetzt haben sie sich ja eher im Positiven bestätigt, als dass sie eher zu schwarz waren, dann werden wir das Rentenniveau um ungefähr – verglichen mit den Löhnen in 20, 30 Jahren – 15 Prozent herunterfahren müssen. Aber dann bleiben eben immer noch 85 übrig. Und diese 85 werden in der Kaufkraft im Jahre 2020, 2030 mehr sein als die Rente im Augenblick. Also, da ist kein Grund für Pessimismus.
Steinhage: Schon heute gibt es, wenn auch noch in geringem Maße, Ruheständler, die nicht von ihrer Rente leben können und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Wenn man an das Millionenheer von Menschen denkt, die im Niedriglohnsektor tätig sind, wird sich Altersarmut schon bald hierzulande zu einem Massenphänomen auswachsen?
Axel Börsch-Supan: Ja, das macht mir auch Sorgen. Ich denke nicht, dass es zu einem Massenphänomen wird. Man kann im Augenblick absehen, wo sich schon Probleme anbahnen. Ich selber habe die Befürchtung, dass sich die Altersarmut verdoppelt, vielleicht sogar verdreifacht, aber – das muss man immer wieder sehen – von einem sehr, sehr niedrigen Niveau. Also, wir haben im Augenblick eine Altersarmut, die ist ein Drittel so hoch wie die allgemeine Armut. Das heißt also, in Zukunft würde sich die Altersarmut eher an die allgemeine Armut anpassen. Sie würde sie aber bei Weitem nicht übersteigen. Da muss man schon wieder die Größenordnung richtig sehen.
Meine große Sorge ist, dass wir uns die zukünftige Altersarmut regelrecht heranziehen, und zwar im Wesentlichen, weil wir, was Demographiepolitik, was Rentenpolitik angeht, immer auf die Älteren schauen. Das ist kurzsichtig gedacht. Wir müssen im Augenblick dafür sorgen, dass die Jungen, die schlecht Ausgebildeten, die im Niedriglohnbereich landen, dass die besser ausgebildet werden. Und da muss man sehr genau schauen. Wo geht das eigentlich hin – insbesondere bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund? Da haben wir Armutsquoten schon jetzt, die über 50 Prozent liegen. Die werden das ganze Leben nicht auf einen grünen Zweig kommen, wenn wir uns nicht darum kümmern.
Viel wichtiger als Mütterrente, Rente mit 63 usw. wäre es, wenn wir eine konsequentere Politik machen bei Bildung für die jüngeren Menschen, die ja im Augenblick in einer Nische sind, insbesondere in den Großstädten, die schlecht ausgebildet sind und eigentlich keine Chance haben, aus dem Niedriglohnsektor rauszukommen. Da machen wir im Augenblick ganz, ganz große Fehler.
"Da müssen wir eine Menge noch tun an Aufklärung"
Steinhage: Und wenn wir diese Fehler perpetuieren, was passiert dann? Schon heute orientiert sich politisches Handeln an den Interessen der Älteren und der alten Bundesbürger. Schließlich sind 20 Millionen Rentner 20 Millionen Wähler. Werden wir das in Zukunft noch mehr erleben, eine Politik zugunsten der Alten und zulasten der Jüngeren? Und was bedeutet das letztendlich für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes?
Axel Börsch-Supan: Man könnte das schlechte Abschneiden der CSU in Bayern ja auch im Zusammenhang mit der Mütterrente sehen.
Steinhage: Bei der Europawahl.
Axel Börsch-Supan: Und da sehen wir eben, dass sich diese doch sehr einseitige Ausrichtung vielleicht nicht so gelohnt hat. Also, ich glaube, da müssen wir eine Menge noch tun an Aufklärung. Das liegt an uns Wissenschaftlern zu zeigen, was ist eigentlich wichtig. Wo entstehen die Probleme? Aber ich würde mich auch über Hilfe von Ihnen als Journalisten freuen. Denn je mehr man sagt und die Trommel rührt, umso schneller sehen das dann doch die Politiker ein.
Steinhage: Vielleicht haben wir ein wenig die Trommel gerührt mit diesem Tacheles. Ganz herzlichen Dank Prof. Börsch-Supan.
Biografisches zu Axel Börsch-Supan:
Axel Börsch-Supan wurde 1954 in Darmstadt geboren. Er studierte Volkswirtschaftslehre (VWL) und Mathematik in München und Bonn, 1984 folgte die Promotion in VWL in Cambridge (USA). Nach wissenschaftlichen Stationen unter anderem in den USA von 1989 bis 2011 wurde er Professor für VWL und Statistik an der Universität Mannheim. Seit 2011 ist er einer der beiden Leiter des MEA (Munich Center for the Economics of Aging), das zum Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik gehört. Dort befasst sich Börsch-Supan vor allem mit den ökonomischen Folgen des demografischen Wandels.
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