Wirtschaftswissenschaftler: Geplante Steuerentlastungen sind "Geschenke auf Pump"

Henrik Enderlein im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 12.11.2009
Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Henrik Enderlein von der Hertie School of Governance hat das neue Wachstumsbeschleunigungsgesetz scharf kritisiert und der Bundesregierung vorgeworfen, falsche Prioritäten zu setzen.
Jörg Degenhardt: Sparen, niedrige Steuern, einen soliden Haushalt, und das alles auf einmal. Klingt nach der Quadratur des Kreises, also nach einem Ding der Unmöglichkeit. Schwarz-Gelb will es dennoch wissen, sind auch die äußeren Umstände alles andere als einfach. Schließlich ist die Finanz- und Wirtschaftskrise noch nicht ausgestanden. Aber vielleicht braucht es einfach mehr Mut und weniger Verzagtheit, und der Anfang ist ja auch schon gemacht mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Der Bundestag berät heute über das erste Gesetz der neuen Regierung. Es soll Bürger und Unternehmen im nächsten Jahr kräftig entlasten und von 2011 bis 2013 weitere Steuererleichterungen in Milliardenhöhe bringen. Henrik Enderlein ist Professor für politische Ökonomie und stellvertretender Dekan an der Hertie School of Governance in Berlin, das ist so eine Art Eliteschmiede für künftige Führungskräfte in Politik und Wirtschaft. Guten Morgen, Herr Enderlein!

Henrik Enderlein: Guten Morgen, ich grüße Sie!

Degenhardt: Wachstumsbeschleunigungsgesetz, trägt das Gesetz seinen Namen zu Recht?

Enderlein: Na ja, das wollen wir hoffen, wenn das heute verabschiedet wird oder heute erst mal beraten wird und dann die Verabschiedung kommt, dass sich das Wachstum zumindest nicht durch dieses Gesetz verlangsamt. Eigentlich ist das eine Art Konjunkturpaket III, denn wir haben bereits zwei Konjunkturpakete gegen die Wirtschaftskrise zusammengeschnürt, jetzt kommt ein drittes dazu, das im kommenden Jahr noch mal Steuererleichterungen bringen soll. Und man kann das eigentlich nur so verkaufen, dass man sagt, die Krise ist noch nicht ausgestanden und wir müssen jetzt noch mal Steuern senken, damit die Nachfrage in Deutschland zunimmt.

Degenhardt: Die Steuersenkungen im kommenden Jahr werden nach Einschätzung der Deutschen Bank das Wachstum um einen halben Prozentpunkt erhöhen. Sind Sie da auch so optimistisch?

Enderlein: Ich bin da ein bisschen skeptischer. Ich meine, wir haben bereits zum 1. Januar Steuerentlastungen von zehn Milliarden beschlossen, das war noch die alte Bundesregierung, jetzt kommen noch mal fürs kommende Jahr ungefähr sechs Milliarden dazu. Das sind Beträge, die, glaube ich, ich sage mal die Sache nicht fundamental ändern. Die Menschen werden deshalb nicht mehr Autos kaufen. Wenn Sie sich überlegen, 8,4 Milliarden, die das Gesetz in den kommenden Jahren entlasten soll, das sind für jeden Bürger der Bundesrepublik ungefähr 100 Euro – das ist jetzt auch nicht immens viel. Und insofern denke ich, viel Wachstum wird dazu nicht kommen, aber es ist ein gefährlicher Schritt, weil wir damit gleichzeitig die Verschuldung erhöhen, und das sollte man auch nie aus dem Auge verlieren.

Degenhardt: Aber noch mal die Frage: Schwarz-Gelb hat zumindest mit der jetzt geplanten Entlastung mit Blick auf die Familien erst mal die richtigen Prioritäten gesetzt, oder nicht?

Enderlein: Also für mich sind das nicht die richtigen Prioritäten, denn die Frage ist immer: Was macht man – jetzt nehmen wir mal acht Milliarden Euro –, was macht man mit acht Milliarden Euro, wenn man sie zur Verfügung hat? Der Bildungsetat und Forschungsetat der Bundesregierung beträgt zehn Milliarden, das heißt, man könnte den einfach mal um 80 Prozent erhöhen, fast verdoppeln mit einem solchen Betrag. Natürlich freuen sich Familien, ich freue mich auch, wenn ich ein erhöhtes Kindergeld oder einen erhöhten Kinderfreibetrag bekomme, aber darum geht es ja letztlich nicht. Es geht darum, welche Prioritäten setzt man, wie setzt man das Geld, das knappe Geld, das der Staat hat, richtig ein. Und ich bin mir nicht sicher, dass ein solches Geschenk – nennen wir es ein Wahlgeschenk – wirklich die richtige Maßnahme ist.

Degenhardt: Oder anders formuliert, wie es zum Beispiel der Gesamtmetallchef Herr Kannengießer auf den Punkt bringt: Für den muss die Jobsicherung im Vordergrund stehen und nicht etwa ein höheres Kindergeld.

Enderlein: Ja, oder auch die Ungleichheit in der Gesellschaft. Sehen Sie, das Kindergeld zum Beispiel, das wir jetzt erhöhen, wird für die einkommensschwachen Gruppen voll auf Hartz IV angerechnet, sodass die Kinderarmut durch diese Maßnahme überhaupt nicht in Angriff genommen wird. Letztlich profitieren die reicheren Familien dadurch, dass der Kinderfreibetrag steigt. Und auch das ist eine Maßnahme, wo man sich fragen kann: Sind es wirklich diese Familien, die jetzt dieses Geld am nötigsten haben? Also ich glaube, die Prioritätensetzung und die Diskussion darüber, was macht man mit dem noch mal knappen Geld, das uns zur Verfügung steht, die findet nach meiner Sicht nicht ausreichend statt. Und da hätte ich mir von der Bundesregierung auch vielleicht mehr wirklich Zielsetzung gewünscht und eine klare Aussage dazu, was ist uns denn wichtiger – Ungleichheit, Bildung oder ist es das Wahlgeschenk, das wir den Familien dann im unmittelbaren Anschluss an die Wahlen geben.

Degenhardt: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will ja heute die Strategie der neuen Regierung gegen die Krise und eine überbordende Staatsverschuldung vorstellen, auch ich nehme an, das Redemanuskript ist schon fertig. Wenn das so ist, was würden Sie ihm denn raten?

Enderlein: Also ich würde im Augenblick erst mal raten, auf Sicht zu fliegen. Wir sollten jetzt keine zusätzliche Steuersenkung beschließen, sondern wir sollten warten, was aus der Wirtschaftskrise wird. Wenn die Krise tatsächlich vorbei ist, dann brauchen wir im kommenden Frühjahr keine zusätzliche Steuersenkung. Wenn die Krise noch nicht vorbei ist, dann werden wir das in den nächsten drei bis vier Monaten klarer sehen – das wäre eine große Überraschung –, dann kann man das auch noch nachschieben. Aber wenn die Krise tatsächlich dem Ende zugeht, dann sollten wir jetzt schon wieder darüber nachdenken, wie man den kommenden Wirtschaftsaufschwung nutzen kann, um die Staatsfinanzen unter Kontrolle zu bringen. Wir werden im kommenden Jahr wahrscheinlich 70 Milliarden Euro an neuen Schulden aufnehmen, das ist viel zu viel. Das heißt, alles, was wir jetzt tun, diese Geschenke, das sind im Prinzip Geschenke auf Pump, die wir dann in ein paar Jahren oder in der nächsten Generation im schlimmsten Fall wieder zurückzahlen sollen. Und das bremst dann letztlich auch den Konsum und das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft. Wenn man weiß, irgendwann müssen die Steuern wieder steigen, weil unsere Staatsschulden zu hoch sind, dann wird man das Geld eher auf die hohe Kante legen, anstatt es jetzt auszugeben, was makroökonomisch dann noch am sinnvollsten wäre.

Degenhardt: Aber keine Steuersenkungen, das heißt ja, die FDP müsste ihre Wahlversprechen brechen, das ist doch kaum anzunehmen?

Enderlein: Sehen Sie, ich bin Ökonom, ich freue mich darüber, wenn die Bundesregierung eine korrekte Wirtschaftspolitik macht. Natürlich geht man mit Versprechen in Wahlen, weil man sie gewinnen möchte, aber ich glaube, man sollte danach auch immer die Ratio, die Überzeugung der Wirtschaftspolitik in den Vordergrund rücken und sagen, was ist denn wirklich gut für dieses Land? Na gut, das ist ein Zielkonflikt, den muss Herr Westerwelle mit seinen anderen Parteimitgliedern ausmachen. Wirtschaftspolitisch ist das nicht die richtige Entscheidung.

Degenhardt: Vielen Dank für das Gespräch! Das war der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Henrik Enderlein im Programm von Deutschlandradio Kultur. Ihnen wünsche ich einen guten Tag!

Enderlein: Danke schön, Ihnen auch alles Gute!

Degenhardt: Danke schön!