"Wir wollen weder Geheimprozesse noch Schauprozesse"

Jerzy Montag im Gespräch mit Marietta Schwarz · 15.04.2013
Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, nennt den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, beim NSU-Prozess zusätzliche Stühle in den Saal zu stellen, "weise". Für künftige Prozesse müssten neue Wege gefunden werden, um die Öffentlichkeit zu wahren.
Marietta Schwarz: Ja, das ist schon irgendwie verrückt: Übermorgen soll einer der wichtigsten Prozesse der Nachkriegszeit in Deutschland beginnen, von langer Hand geplant, und doch ist zwei Tage vorher noch nicht klar, wer im Gerichtssaal zuhören darf und wie man da noch die nötigen Sitzplätze rein schaffen will. Denn es müssen, laut Bundesverfassungsgericht jetzt ja doch Plätze für türkische Medien zur Verfügung gestellt werden. Gegen diese Forderung hat sich das Oberlandesgericht München ja sehr lange gewehrt. Jetzt wird es zeitlich richtig eng. Ist dieser Sitzplatzstreit "nur" ein peinlicher Fettnapf oder zeigt er vielmehr, dass die öffentliche Beteiligung bei solchen Strafprozessen neu geregelt werden muss. Fragen dazu an Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Guten Morgen!

Jerzy Montag: Einen schönen guten Morgen, Frau Schwarz!

Schwarz: Ja, Herr Montag - war dieses Urteil, dieser Beschluss des Bundesverfassungsgerichts absehbar für Sie?

Montag: Eigentlich nicht. Ich war unsicher, ob das Bundesverfassungsgericht so kurz vor Prozessbeginn noch regelnd eingreift, aber im Ergebnis bin ich sehr zufrieden und dankbar, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen zurückhaltenden und weisen Entscheidungen sehr viel politischen Druck aus diesem Prozess genommen hat. Jetzt müssen drei Stühle in den Gerichtssaal gestellt werden und dann könnte der Prozess auch beginnen.

Schwarz: Zurückhaltend und weise, sagen Sie - warum?

Montag: Weil das Bundesverfassungsgericht die Frage, wie das Gericht in solchen öffentlichkeitswirksamen Prozessen die Öffentlichkeit regelt, noch gar nicht in der Sache entschieden hat. Nein, das Bundesverfassungsgericht hat sogar geschrieben, die Angelegenheit sei so kompliziert und so schwierig, dass sie sich dazu sehr viel Zeit nehmen wollen. Sie haben nur jetzt den Schaden begrenzen wollen und gesagt: Egal, wie wir uns zum Schluss entscheiden, damit der Prozess jetzt beginnen kann und damit insbesondere den Medien, die den Opfern nahestehen, nicht benachteiligt werden, möge das Gericht doch drei bis fünf Stühle noch in den Gerichtssaal stellen.

Schwarz: Hat es sich denn mit diesen drei bis fünf Stühlen? Das wäre also die Lösung, die Sie jetzt auch präferieren würden, man stellt einfach noch drei Stühle da rein?

Montag: Das ist eine Möglichkeit. Ich kenne nach dem Umbau den Sitzungssaal jetzt nicht persönlich. Ich habe in diesem Sitzungssaal 20 Jahre lang verteidigt. Er ist aber inzwischen vollständig umgebaut worden. Ich weiß nicht, wie die räumliche Anordnung ist, aber das soll sozusagen als ein Beispiel dafür stehen, dass man mit einer kleinen Änderung jetzt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Genüge tun kann.

Schwarz: Es haben ja viele geschimpft auf das Oberlandesgericht München, das sich ja mit seiner Entscheidung vorher ja auf die bestehende Strafprozessordnung berufen hat. Das war ja nicht aus der Luft gegriffen. Zu Unrecht geschimpft?

Montag: Na ja. Wenn Sie erlauben, möchte ich Sie gern ein bisschen korrigieren. Das Verfahren, das das Gericht gefunden hat, um die Presseplätze zu verteilen, dieses Verfahren ist nicht in der Strafprozessordnung geregelt. Ganz im Gegenteil, die Strafprozessordnung überlässt es dem Vorsitzenden des Gerichts, ein ihm geeignetes Verfahren zu wählen. Es gibt Gerichte - auch in Deutschland in neuester Zeit -, die bei großen Prozessen sogenannte Kontingente an die Presse verteilen. Zum Beispiel im Fall Kachelmann in Mannheim hat man der Schweizer Presse - Herr Kachelmann ist ja Schweizer - einige Plätze reserviert. Der Präsident oder der Vorsitzende des OLG-Senats in München hat ein anderes Verfahren gewählt. Das hat sich im Nachhinein als sehr unklug erwiesen.

Schwarz: Der Breivik-Prozess, Herr Montag, in Norwegen ist im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess, der jetzt in München beginnt, immer wieder als mustergültig genannt worden. Da herrscht nun aber auch ein anderes Recht. Also, Frage: Liefert diese Strafprozessordnung von 1877 denn heute noch die nötigen Antworten auf das mitunter große mediale Interesse solcher Prozesse oder brauchen wir da eine Reform?

Montag: Die Strafprozessordnung ist seit dem 19. Jahrhundert vielfach geändert worden. Es ist nicht mehr eine Strafprozessordnung von Kaisers Zeiten. Bei der Frage der Öffentlichkeit müssen wir sehr sorgfältig und mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Wir müssen die Öffentlichkeit wahren, die Öffentlichkeit ist ein Korrelat für die Justiz. Jede Bürgerin und jeder Bürger soll sehen und hören können, was bei deutschen Gerichten geschieht. Aber wir müssen einen guten Weg finden zwischen Geheimverfahren und Schauprozessen. Wir wollen weder Geheimprozesse noch Schauprozesse. Deswegen ist im Strafprozessrecht in Deutschland die Übertragung an die Öffentlichkeit mittels Videoaufnahmen zum Beispiel mit gutem Grund untersagt. Was zur Diskussion steht, ist, ob man zum Beispiel Übertragungen in ein Nachbarzimmer, in einen Nachbarsaal zulassen kann oder nicht. Meiner Meinung nach wäre das von Anfang an eine gute Lösung gewesen, wenn man nicht gleich einen größeren Saal gefunden hätte. Und der Deutsche Bundestag wird in der nächsten Legislaturperiode in aller Ruhe und nicht unter dem Druck eines beginnenden Verfahrens über die Frage diskutieren und entscheiden müssen, ob dazu jetzt die Strafprozessordnung geändert werden muss oder nicht. Ich meine, sie muss nicht geändert werden, bin aber offen für konstruktive Vorschläge.

Schwarz: Jerzy Montag zum bevorstehenden NSU-Prozess und die Beteiligung der Medien. Herr Montag, herzlichen Dank für das Interview!

Montag: Ich danke Ihnen, einen schönen guten Tag!

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