"Wir wollen nicht, dass wieder jede Träne zehn Mal fotografiert wird"

Thomas Weber im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.03.2010
Es sei wichtig, dass die Kinder in ihrer Trauer am Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden geschützt werden, sagt der Traumapsychologe Thomas Weber. Deswegen habe man für morgen ein Presseverbot über die Stadt verhängt.
Joachim Scholl: Es war 9:30 Uhr an jenem Mittwoch des 11. März 2009, als der 17-jährige Tim Kretschmer das Gebäude der Albertville-Realschule in Winnenden betrat und dort in seiner ehemaligen Schule ein Blutbad anrichtete. Er erschoss einen Schüler, acht Schülerinnen, drei Lehrerinnen, anschließend auf der Flucht noch drei Menschen und schließlich sich selbst. 15 Menschen ermordet, etliche verletzt und ein ganzer Ort stand unter Schock. Es war nach dem Amoklauf von Erfurt 2002 das Zweite Schulmassaker mit vielen Toten in Deutschland, und wie damals in Erfurt war der Traumapsychologe Thomas Weber gefragt. Er betreut seit einem Jahr in Winnenden die überlebenden Opfer der Tat. Jetzt ist er uns aus einem Studio in Stuttgart zugeschaltet. Guten Tag, Herr Weber!

Thomas Weber: Schönen guten Tag!

Scholl: Sie haben Schülern, Eltern, Lehrern geholfen, mit diesem schrecklichen Erlebnis umzugehen. Wie geht es diesen Überlebenden ein Jahr nach der Tat?

Weber: Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Es gibt etliche Betroffene, vor allen Dingen, die die Tat nur am Rande erlebt haben, denen es mittlerweile wieder sehr gut geht, die zum Teil auch nicht mehr über die Erfahrungen sprechen möchten, und es gibt natürlich die Hauptbetroffenen, für die natürlich die Betreuung immer noch weiterhin sehr, sehr notwendig sein wird, auch über den Jahrestag hinaus.

Scholl: Nun werden die Betroffenen je nach psychischer Verfassung individuell verschieden reagiert haben. Woran litten und leiden die Opfer?

Weber: Auch das ist sehr unterschiedlich. Am Anfang gab es natürlich die üblichen Beschwerden wie Schlafstörungen, wie Konzentrationsstörungen, das heißt, dass die Leute eine Überwachsamkeit hatten, sehr schreckhaft waren, Kinder, die in den Betten der Eltern geschlafen haben, die zum Teil nur bei Licht oder mit Musik schlafen konnten oder geweint haben, teilweise auch desorientiert waren. Und die Symptompalette war sehr, sehr umfangreich. Und viele Betroffene haben mittlerweile mit vielen Beschwerden einen Umgang gefunden, aber wie gesagt, es gibt noch etliche Betroffene, die tatsächlich noch immer unsere Hilfe benötigen. Aber individuell ist die Verarbeitung natürlich nach solchen Ereignissen sehr unterschiedlich.

Scholl: Welche auch sozialen Folgen hat das für die Familien der Betroffenen?

Weber: Zum Teil sehr große. Sie dürfen nicht vergessen, dass insbesondere die zwei hohen Jahrgänge auch betroffen waren, das heißt insbesondere damals die Zehnerklassen, die mittlerweile die Schule verlassen haben, die natürlich jetzt in Ausbildungsstellen oder in weiterführenden Schulen untergekommen sind und deswegen natürlich dann auch mit den Erfahrungen an den neuen Schulen leben müssen. Das heißt, das hat sich dann natürlich auch konkret in der Leistung niedergeschlagen.

Scholl: Welche therapeutischen Möglichkeiten und Strategien gibt es hier, Herr Weber, was haben Sie angewandt?

Weber: In erster Linie geht es darum, dass wir erst mal aufklären. Wir nennen das Psychoedukation oder die Wiederherstellung der Information. Das heißt, wir klären auf, was an Beschwerden durchaus zu erwarten ist, nämlich dass das, was sich vor allen Dingen in den ersten acht bis zwölf Wochen zeigt, normale Reaktion auf nicht normale Ereignisse darstellen. Das heißt, wir versuchen zu entpathologisieren, dass die Betroffenen merken, dass es ihnen schlichtweg auch schlechtgehen darf nach einem solchen Ereignis. Des Weiteren haben wir versucht, durch Distanzierungs- und Stabilisierungsübungen sozusagen die Leute in ihrem Gesundheitszustand weiter zu stabilisieren, und wir haben dann durch sogenannten Vorsorgegespräche, individuelle Vorsorgegespräche versucht herauszufinden, welche Hilfe jeder Einzelne braucht. Das heißt, wir haben nicht versucht, sozusagen für alle Betroffenen die gleiche Hilfe anzubieten, sondern wir haben versucht, sozusagen individuell die Hilfe auf jeden Einzelnen abzustellen.

Scholl: Bedeutet dieser Jahrestag nun, das heißt auch die öffentliche Erinnerung daran und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit, nicht auch wieder einen Rückfall in diese traumatische Situation von Angst und Entsetzen?

Weber: Der Jahrestag ist eine wichtige Herausforderung für alle Betroffenen, und der stellt natürlich genau diese Gefahren auch dar. Das heißt, wir werden konkret an diesem Tag wieder erinnert, was vor einem Jahr passiert ist, insbesondere die Tatzeit selbst beziehungsweise auch die Minuten und Stunden vor der Tatzeit selbst werden für die Betroffenen eine ganz, ganz große Herausforderung. Und insofern ist es wichtig, dass viele Bilder mittlerweile sozusagen sich unterscheiden müssen von den Bildern letztes Jahr. Das heißt also, die Bilder 2010 müssen andere Bilder sein als 2009, und das bedeutet natürlich auch im Auftreten beispielsweise der Medien vor Ort.

Scholl: Die Bevölkerung ist ja durchaus offensiv mit diesem Schock umgegangen. Es haben sich Gruppen, Initiativen gegründet, zum Beispiel gegen Waffenbesitz oder Gewalt-Computerspiele. Man hat Öffentlichkeit hergestellt, den Dialog mit der Polizei und der Politik gesucht. Vor einiger Zeit lief im Fernsehen eine beeindruckende Dokumentation dieses Engagements. Wie haben Sie den Ort, die Bevölkerung in diesem Jahr in Winnenden erlebt?

Weber: Die Winnender sind zusammengerückt, und das, was momentan erreicht worden ist, liegt gerade auch an diesem Zusammengehörigkeitsgefühl der Winnender. Das heißt, dass dieses Wir-Gefühl, wir versuchen zusammen da wieder herauszukommen, wir versuchen sozusagen etwas zu gestalten, dass wir nachträglich sagen können, der Täter hat uns nicht alles nehmen können. Und wir versuchen tatsächlich auch, den Opfereltern beizustehen. Und dadurch wird es auch wichtig sein, dass das auch nach dem Jahrestag so weitergeht. Aber gerade dieses Wir-Gefühl hat natürlich sehr viel zur Verarbeitung auch dazu beigetragen.

Scholl: Winnenden, ein Jahr nach dem Amoklauf an der Albertville-Realschule. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Traumapsychologen Thomas Weber. Herr Weber, ich habe vorhin das Wort verarbeiten bewusst vermieden, weil es so klingt, als könne man zügig an eine Aufgabe gehen, sie bewältigen und dann ist gut und abgehakt, und mir scheint das Wort in diesem Zusammenhang einfach fehl am Platz. Kann ein Mensch ein solches Erlebnis überhaupt in diesem Sinn verarbeiten, dass wieder so etwas wie Normalität entsteht?

Weber: Das Ereignis kann nie vergessen werden, und im Prinzip ist es wichtig, dass wir versuchen, das Ereignis in den Lebensentwurf zu integrieren, ohne dass es diese fürchterlichen Schmerzen den Einzelnen bereitet. Das hängt aber je nach Betroffenheitsgrad ab. Für eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, gelten natürlich andere Bedingungen. Das ist etwas, was auch nicht mit dem ersten Jahrestag dann sozusagen – um den Begriff aufzunehmen – verarbeitet sein wird, sondern die Personen werden sehr, sehr viel Zeit und sehr, sehr viel Solidarität von uns allen brauchen.

Scholl: Für die Schüler lässt sich diese Normalität ja auch konkret räumlich benennen. Sie müssen täglich in die Schule, auch wieder in die Albertville-Realschule. Finden Sie die Entscheidung der Schule richtig, also kein neues Gebäude zu bauen, sondern den Unterricht auch wieder dort stattfinden zu lassen, wo die Tat geschehen ist, also in den Räumen auch, wo gemordet wurde?

Weber: Zurzeit findet die Schule in Containern statt, das heißt, die Schule wird umgebaut werden, und Unterricht selbst wird definitiv nicht in den Räumlichkeiten stattfinden, in denen gestorben worden ist. Und dass es zu einer Rückkehr in das alte Schulgebäude kommt, ist tatsächlich der ausdrückliche Wunsch sowohl der Schüler, der Lehrer als auch der Angehörigen.

Scholl: Kann Schule denn überhaupt wieder zu einem normalen Ort und Geschehen werden für Schüler wie Lehrer?

Weber: Das Sicherheitsgefühl ist vor einem Jahr komplett zerstört worden, das heißt, der Kontrollverlust, der an dem Tag erlebt worden ist, ist grenzenlos. Und die Wiederherstellung der Sicherheit bedarf tatsächlich einer sehr, sehr umfangreichen Überlegung. Das heißt, Kinder schrecken heute zum Teil noch zusammen, wenn Türen knallen oder wenn Leute draußen auf den Gang rennen, weil dann natürlich sofort auch die Erinnerungen an die Tat wieder da sind. Und diese Wiederherstellung der Sicherheit wird auch tatsächlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Scholl: In der ersten Zeit, Herr Weber, nach der Tat, als dann Schule wieder stattfand, wurde dieser Unterricht ja auch von Schulpsychologen begleitet. Was war denn das für eine Situation?

Weber: Das war eine sehr wichtige Situation, insbesondere für die hauptbetroffenen Klassen, weil tatsächlich das Sicherheitsgefühl komplett verloren worden ist und die körperliche Übererregung an allen Teilen zu spüren war, insbesondere natürlich nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei den betroffenen Lehrern selbst. Das heißt, die Schulpsychologen haben dort Sicherheit ausgestrahlt, haben vor allen Dingen sozusagen ergänzend eingreifen können, wenn beispielsweise durch irgendwelche Störungen Kinder oder auch die Lehrer nicht mehr konnten.

Scholl: Es soll jetzt bestimmt nicht zynisch klingen, Herr Weber, aber Sie haben vorhin gesprochen von den Opfern, die immer noch Betreuung brauchen. Aber stößt Betreuung auch irgendwann eigentlich oder Nachsorge auch irgendwann an eine Grenze? Ich meine, irgendwann, Herr Weber, müssen Sie und Ihr Team auch mal wieder gehen.

Weber: Das ist richtig, es ist aber allen Beteiligten da – sowohl aufseiten der Schulpsychologie als auch aufseiten der Traumapsychologie –, dass wir so lange da sein werden, wie uns die Betroffenen brauchen. Irgendwann werden wir natürlich gehen müssen, aber wir werden tatsächlich versuchen, für die Betroffenen auch dann noch als Ansprechpartner da zu sein. Es ist unsere Form der Solidarität, dass wir tatsächlich das jetzt hier nicht an einem festen Zeitpunkt festmachen.

Scholl: Nun dieser Jahrestag, Herr Weber, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass wir andere Bilder sehen werden, wir werden vermutlich auch weniger Bilder sehen, denn die Stadt hat zu diesem Jahrestag ein Presseverbot über die Stadt verhängt. Man will nicht wieder überflutet werden mit Reportern und Fernsehteams. Das war natürlich eine Reaktion aus der Medienoffensive, die über die Stadt hereingebrochen ist vor einem Jahr. Welche Funktion hat sozusagen diese Aufmerksamkeitsvermeidung, auch im Sinne darauf, dass man keine Signale für etwaige Nachahmungstäter senden möchte?

Weber: Es gilt hier in erster Linie, dass wir versuchen wollen, die Kinder vor diesen Erfahrungen zu schützen, die sie zum Teil letztes Jahr gemacht haben, das heißt, das unkontrollierte Gefilmt- und Interviewtwerden, wie wir es leider letztes Jahr sehr, sehr vielfältig erleben mussten. Das heißt, es ist wichtig, dass die Kinder in ihrer Trauer am Jahrestag selbst geschützt werden. Wir wollen nicht, dass wieder jede Träne sozusagen zehn Mal fotografiert wird, dass jedes Weinen sozusagen über den Äther läuft, sondern die Kinder müssen in dieser Situation geschützt werden, dass sie das Gefühl haben, sie haben die Kontrolle wiedererlangt, damit sich eben nicht die Erinnerungsbilder wiederholen zu 2009.

Scholl: Gab es in diesem Jahr, in dem Sie nun und Ihr Team hier gearbeitet haben, auch Erfahrungen, die Sie – ja, vielleicht klingt das Wort in diesem Zusammenhang auch merkwürdig – auch erfreut haben?

Weber: Ja, das ist tatsächlich auch die Solidarität der Jugendlichen untereinander, das heißt, wie Jugendliche sich gegenseitig unterstützt haben, wie Jugendliche aus den betroffenen Klassen sich mit den Opfereltern zusammengesetzt haben, versucht haben, denen zu helfen, für die da zu sein. Diese Solidarität hat uns doch sehr, sehr angenehm und sehr positiv überrascht.

Scholl: Morgen jährt sich der Amoklauf in Winnenden. Das war der Traumapsychologe Thomas Weber. Er betreut als Koordinator die psychologische Nachsorge der Überlebenden. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Weber!

Weber: Danke!
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