"Wir stehen hier absolut am Anfang"

Moderation: Susanne Führer · 15.01.2013
Die Studie "Nationale Kohorte" entwickle keine maßgeschneiderten Behandlungsmöglichkeiten für den einzelnen Patienten. Vielmehr würden Daten auf molekularer Ebene erhoben und wichtige Erkenntnisse gewonnen, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.
Susanne Führer: Wenn Ärzte Therapien verordnen oder ihren Patienten auch nur raten, das Rauchen aufzugeben und mehr Sport zu treiben, dann stützen sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse oder sollten es zumindest, die in jahrelanger Forschung gewonnen wurden.

Aber noch sind bekanntlich viele Fragen offen. Deswegen beginnt in diesem Jahr eine Studie mit dem wenig schönen Namen "Nationale Kohorte". Das ist die größte Gesundheitsstudie, die je in Deutschland unternommen wurde. 18 Studienzentren in der ganzen Republik sind beteiligt, 210 Millionen Euro stellen Bundesforschungsministerium und Helmholtz-Gemeinschaft dafür bereit.

Ulrike Till erklärt die "Nationale Kohorte".

Susanne Führer: Ulrike Till über die "Nationale Kohorte", Deutschlands größte Gesundheitsstudie. Und ich begrüße nun Professor Doktor Wolf-Dieter Ludwig, er ist Chefarzt am Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.

Guten Tag, Herr Ludwig!
Wolf-Dieter Ludwig: Guten Morgen, Frau Führer!

Führer: Jeder Mediziner muss doch eigentlich begeistert sein von dieser Riesenstudie mit ihren riesigen Datenmengen, oder?

Ludwig: Also, ich bin zunächst als Wissenschaftler natürlich angetan von diesem Projekt. Ich denke, es ist eine richtig geplante Untersuchung, die aber einen langen Zeitraum benötigt und deren Ergebnisse natürlich vollkommen offen sind. Deswegen wehre ich mich auch etwas gegen die Bezeichnung. Das wird wichtige Erkenntnisse für die personalisierte Medizin ergeben, weil wir das derzeit gar nicht abschätzen können. Und ich würde gerne auch betonen, dass die ethischen Vorgaben im Rahmen dieser "Nationalen Kohorte" beachtet werden. Also die Vertraulichkeit aller erhobenen Daten und natürlich auch die Freiwilligkeit der Teilnahme.

Führer: Jetzt kommen wir mal zu dem Punkt, den Sie gerade schon so erwähnt haben und Ulrike Till ja auch am Ende ihres Beitrags. Man erhofft sich Erkenntnisse für die personalisierte Medizin. Was ist denn das genau? Das klingt doch - ich dachte, der Arzt würde mich bisher immer persönlich behandeln.

Ludwig: Ja, das hoffe ich auch, Frau Führer, dass das so ist. Allerdings, muss ich sagen, ist der Begriff personalisierte Medizin natürlich ein Begriff, der in der Öffentlichkeit falsch verstanden wird. Es geht hier keineswegs um maßgeschneiderte Behandlungsmöglichkeiten oder um besondere ärztliche Aufmerksamkeit für die Situation des einzelnen Patienten, des einzelnen Kranken, sondern es geht de facto darum, Daten eines Patienten auf molekularer Ebene zu erheben, diese mit neuen Mitteln der Bioinformatik auszuwerten und daraus Erkenntnisse für die Prognose, Beratung und Therapie eines Patienten zu gewinnen, und wir stehen hier absolut am Anfang.

Und ich denke, der Zeitraum von 20 Jahren ist realistisch. In 20 Jahren werden wir, glaube ich, besser verstehen, ob sich hinter diesem Begriff wirklich ein Fortschritt für die Medizin verbirgt.

Führer: Sie sind ja Onkologe, Herr Ludwig. Arbeiten Sie schon so mit solchen Biomarkern?

Ludwig: Also wir versuchen, bei einigen Krankheitsbildern zum Zeitpunkt der Diagnose Tumormaterial der Patienten mit speziellen molekularbiologischen Techniken zu untersuchen und daraus Rückschlüsse für unsere Behandlung zu ziehen. Aber ich muss sagen, das ist die absolute Minderheit derzeit. In den meisten Fällen haben wir diese Biomarker nicht, und wir müssen natürlich diese Biomarker auch in seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen hinsichtlich ihrer Aussagekraft untersuchen. Ansonsten ist die Gefahr, dass wir sehr viel Geld für wenig validierte Maßnahmen ausgeben. Geld, das wir an anderen Stellen im Gesundheitssystem dringend benötigen.

Führer: Aber die "Nationale Kohorte", das hatte ich bisher jetzt so verstanden, dass es gar nicht auf eine molekularbiologische Ebene ankommt, sondern eher darum, dass man dann Menschen viel genauer als bisher noch zum Beispiel bestimmten Risikogruppen zuordnen kann. Also wenn man eben feststellt, dass so und so viel Prozent der Menschen mehr einen Schlaganfall bekommt, wenn sie in so und so einer Wohngegend wohnen, wenn sie sich so ernähren, wenn sie sich so verhalten.

Ludwig: Sie haben recht, Frau Führer, die molekulargenetischen Untersuchungen, die sicherlich auch geplant sind, denn man möchte ja Blut asservieren, man möchte Urin-, Speichel-, Nasenabstriche gewinnen und so weiter, ist nur ein Teil dieser "Nationalen Kohorte".

Man schaut sich die Lebensgewohnheiten an, man schaut sich den sozialen Hintergrund an und man bringt das in Zusammenhang mit den chronischen Krankheiten, die man dort erforschen möchte. Aber molekulargenetische Untersuchungen werden Bestandteil dieser "Kohorte" sein, und wie gesagt:

Personalisierte Medizin, so wie der Begriff heute verwendet wird, bezieht sich nicht auf eine besonders intensive Beziehung zwischen Arzt und Patient, sondern auf genetische Merkmale, die wir heute mit immer neueren Technologien untersuchen können.

Führer: Also das heißt, man verknüpft dann im Grunde genommen genetische Merkmale mit den Lebensgewohnheiten, und dann könnte man noch genauer Risikogruppen bestimmen?

Ludwig: Ja, das ist sozusagen die Perspektive, aber ob diese Ergebnisse am Ende herauskommen, wird man natürlich erst nach Auswertung und einer langfristigen Beobachtung dieser Patienten sagen können. Das ist derzeit ein Projekt, dessen Ausgang vollkommen offen ist für mich.

Führer: Aber wenn wir mal annehmen, es käme so, es gäbe dann diese Erkenntnisse, dann stellt sich ja die Frage, was man daraus für Schlüsse ziehen kann. Also dann könnte der Arzt ja mir noch viel dringlicher als sonst empfehlen, mit dem Rauchen aufzuhören, weil ich eben außerdem noch zu diesen und jenen Risikogruppen gehöre.

Das könnte theoretisch ja sogar unser Gesundheitssystem ein bisschen umkrempeln, wenn die Kasse sagt, wenn du nicht das und das machst, dann zahlen wir deine Behandlung nicht mehr.

Ludwig: Das halte ich für eine sehr gefährliche Entwicklung. Deswegen sagte ich am Anfang, die ethischen Prinzipien, die dort auch verankert sind in dieser "Nationalen Kohorte", müssen beachtet werden.

Ich glaube, dass wir daraus Erkenntnisse ziehen für die Information des Patienten durch den Arzt, ist legitim. Und das sind Dinge, die im Sprechzimmer ablaufen sollen, setzen aber voraus, dass der Arzt überhaupt in der Lage ist, diese Wahrscheinlichkeitsaussagen so dem Patienten zu vermitteln, dass er daraus die richtigen Schlüsse zieht. Davon sind wir derzeit, und das ist auch ein Kritikpunkt von mir an der personalisierten Medizin, weit entfernt.

Wir haben auch im Medizinstudium gar nicht die Unterrichtsfächer, damit Ärzte in der Lage sind, über diese neuen Erkenntnisse, die wir dort gewinnen, so zu informieren, dass der Patient sie auch versteht oder vielleicht sogar, dass der Arzt sie versteht.

Langfristig wird es so sein, dass wir natürlich, wenn wir daraus Erkenntnisse ziehen, die sich auf die Lebensgewohnheiten auswirken, das im Vier-Augen-Gespräch zwischen Arzt und Patient vermitteln müssen, aber ich finde es außerordentlich gefährlich, wenn wir diese Dinge dann nutzen, um beispielsweise bei den Krankenkassen Tarife festzulegen oder die Gebühren, die ein Einzelner für die Krankenkasse zahlen muss, daran zu messen. Das halte ich für eine fatale Fehlentwicklung, die auch in die Freiheit des Individuums eingreift.

Führer: Halten Sie denn insgesamt die Richtung dieser sogenannten personalisierten Medizin für richtig?

Ludwig: Sie ist in der Onkologie unvermeidbar, weil wir in den letzten Jahren sehr viel Geld ausgegeben haben für wenig wirksame Medikamente. Wir müssen in der Lage sein, besser zu verstehen, welche Patienten von speziellen Medikamenten profitieren, bei welchen Patienten sie eigentlich nur Nebenwirkungen auslösen.

Aber der Fortschritt wird sehr schrittweise erfolgen, das heißt, wir werden kleine Fortschritte erreichen durch die personalisierte Medizin. Und ich hoffe, dass wir dann langfristig, das wird nicht in einigen Jahren sein, sondern wirklich wahrscheinlich in 20 Jahren, dann auch auf der Basis der personalisierten Medizin Krankheitsbilder besser diagnostizieren und behandeln können.

Führer: Das sagt Professor Doktor Wolf-Dieter Ludwig, er ist Chefarzt am Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Ludwig. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Ludwig: Ich danke Ihnen, Frau Führer, auf Wiederhören!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema