Wir sprechen eine Sprache oder: Totalvollzug der deutschen Einheit

Von Rolf Schneider · 08.10.2006
Weiß man noch, was ein Abschnittsbevollmächtigter ist? Oder ein Devisenausländer? Oder eine Grilletta? Alle drei Begriffe entstammen dem Sprachgebrauch der vor 16 Jahren untergegangenen DDR. Ein Abschnittsbevollmächtigter war, was man heute wieder einen Revierpolizisten nennt.
Als Devisenausländer galt jemand, der aus einem Staat mit harter, also konvertibler Währung in die DDR einreiste. Grilletta hieß jener zwischen zwei Weißbrotscheiben gelegte gebratene Fleischklops, den man anderswo in der Welt als Hamburger kannte und heute auch in Ostdeutschland so kennt.

Es gibt vielerlei Maßstäbe, den Grad von Annäherung oder Unterschiedlichkeit zwischen den beiden einstigen Staaten deutscher Nation zu messen. Man kann die Ökonomie bemühen oder den Arbeitsmarkt, die Migration, den Ausländeranteil, die Siedlungsdichte, das Wahlverhalten. Gleichermaßen kann man jenes Medium heranziehen, das jedem Staatsbürger mehr oder minder beliebig zur Verfügung steht und das ein wichtiges Element seiner nationalen Zugehörigkeit darstellt, nämlich die Sprache.

Vor der zuletzt von keinem mehr erwarteten oder erhofften Vereinigung der beiden Teilstaaten hatten zuletzt einige der zwischen München und Hamburg gedruckten Feuilletons behauptet, nicht nur politisch, nicht nur wirtschaftlich und ideologisch unterschieden sich die beiden deutschen Territorien, auch in der jeweils dort gesprochenen Sprache. Es gäbe kein einheitliches Deutsch mehr. Selbst linguistisch sei die Nation inzwischen gespalten. Dies war ein ziemlicher Unsinn und wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar, denn nicht die Sprache war geteilt, es gab lediglich eine Reihe von Begriffen und Wendungen, die unterschiedlich interpretiert und verstanden wurden. Jede deutsche Mundart unterscheidet sich von unserer Hochsprache oder von irgendeinem anderen Dialekt entschiedener, als es der in Deutschland-Ost und Deutschland-West gebräuchliche Umgangsjargon je getan hat.

1989 erschien in einem Münchner Verlag ein Sachbuch mit, so sein Untertitel, "Stichwörtern zum Sprachgebrauch der DDR". Der Autor, Martin Ahrend, war ein DDR-Emigrant und kannte sich in beiden Welten gut aus. Benannt und erklärt hat er um die 350 Begriffe, nicht gerechnet die fast ebenso zahlreichen Abkürzungen, die er gleichfalls auflistete. Blättert man heute in seinem Büchlein, lässt sich erkennen, dass ein Großteil der Wörter weiterhin gebräuchlich sind, bloß mit anderem Inhalt. Fast ebenso viele Begriffe sind völlig verschwunden, da die Gegenstände, die damit benannt wurden, im öffentlichen oder privaten Leben nicht mehr existieren. Dazu gehört etwa die Feierabendbrigade, bei der es um Arbeitskräfte ging, die, nach ihrer regulären Arbeitszeit und mit offizieller Billigung, Leistungen für private Haushalte erbringen durften, beispielsweise im Baugewerbe.

Ein Zeit lang mühte sich die DDR um neue Namen für Dinge oder Inhalte, deren ursprüngliche Bezeichnung, aus welchem Gründen immer, meist waren dies ideologisch-politische, umschrieben werden sollten und dies manchmal in der pompösesten Art. Da gab es etwa die Facharbeiterin für Bürotechnik, bei der es sich um nichts anderes handelte als um eine die Stenotypistin. Manche jener Neuschöpfungen waren kabarettreif, wie das Erdmöbel, das ein Sarg war, wie der Stadtbilderklärer, der für den Fremdenführer stand, und, besonders bizarr, die geflügelte Jahresendfigur, DDR-Jargon für den Weihnachtsengel.

Was Nomenklatur bedeutete, wissen heute nur mehr Eingeweihte. Die Etymologie ist lateinisch, in die DDR kam das Wort auf Umwegen über das Russische, und die Bedeutung war Funktionärselite. Malimo, ein Kunstbegriff aus Mauersberger, dem Erfinder, Limbach, dem Herstellungsort, und Molton, der Stoffart, benannte Gewebe für Haushaltstextilien, die es heute nicht mehr gibt, denn sie taugten nicht viel. Der Kader ist französischen Wortursprungs und wurde in der DDR zum Synonym für Personal, ganz allgemein. Heute ist er wieder, wie schon zuvor, die Bezeichnung für eine Auswahl von Spitzensportlern. Die jungen Leute in der DDR kannten einen Superlativ namens urst. Der Positiv dazu war die eigentlich steigerungsunfähige Vorsilbe ur, die Bedeutung ging in die Richtung von hervorragend und außerordentlich. Heute sagen die jungen Leute im Osten toll, super oder geil. Urst ist ihnen unbekannt.

Eigentlich gibt es bloß noch zwei Wörter, bei denen sich der Sprachgebrauch in beiden Landesteilen unterscheidet. Die Ostdeutschen sagen Kaufhalle, wo die Westdeutschen Supermarkt sagen, während der Name fiir Kunststoff im Westen Plastik lautet und im Osten Plaste. Man sie also noch erkennen. Aber das ist es auch schon. Was die Sprache betrifft, erkennen wir einen geradezu triumphalen Totalvollzug der deutschen Einheit. Sollen wir darüber jubeln? Karl Kraus hat gesagt, Osterreich und Deutschland würden durch eine gemeinsame Sprache getrennt. In besonders trüben Augenblicken beschleicht mich der Verdacht, bei Deutschland-Ost und Deutschland-West verhalte es sich ebenso.


Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.