"Wir sollen uns zusammensetzen"

Moderation: Joachim Scholl · 27.02.2013
Stéphane Hessel ist im Alter von 95 Jahren gestorben. Aus diesem Grund wiederholen wir ein Gespräch mit ihm aus dem Jahr 2011, in dem er über seinen Bestseller "Empört Euch!" spricht.
Stéphane Hessel: Es war eine große Überraschung, aber ich danke es größtenteils meiner Verlegerin, der Sylvie Grossman, die nicht nur den Titel, sondern auch das Format und den Preis gehabt hat. Und das bedeutet, dass es eben sehr leicht herumzubringen ist, und es hat einen enormen, ganz unerhörten Erfolg, auf den ich nicht gefasst war.

Joachim Scholl: Von uns aus gesehen denkt man ja, nun, die Franzosen, die brauchen doch eigentlich keinen Weckruf. Für die Franzosen haben Sie es aber erst mal geschrieben, damals im Hinblick auf die Wahlen 2010, Monsieur Hessel. Franzosen gehen immer sofort in Massen auf die Straße, wenn ihnen was nicht passt, sei es eine Schulreform, eine Rentenkürzung, Verlängerung der Arbeitszeit … Ist das eine falsche Wahrnehmung oder brauchen die Franzosen eigentlich so ein Buch doch gar nicht?

Hessel: Ja, also dieses Auf-die-Straßen-Gehen, da sind die Franzosen dran gewöhnt, aber sich wirklich empören, nicht nur so zusammen manifestieren, das ist für sie gewöhnlich und die sagen, ja die Regierung, die macht nicht, was wir wollen. Aber sich richtig zu empören, also zu verstehen, welche die Gründe sind, welche die Werte sind, die vergewaltigt werden, das kommt in diesem Buch heraus und das ist glaube ich ganz besonders wichtig zu lesen und zu hören, dass es eben nicht nur so ist, mir geht’s nicht gut und ich bin darüber erregt, sondern es gibt Dinge, die nicht so behandelt werden von meiner Regierung, wie es eigentlich das Richtige wäre. Wenn man das erfährt, dann wird man zu einem besseren Bürger, einem besseren Citizen, wie die Engländer sagen. Und das ist mir besonders lieb. Und ich denke, darauf kommt auch das Lesen von diesem Buch heraus.

Scholl: Wenn Sie für einen Aufsatz, für Ihren Essay ein Vorwort, ein Extravorwort für deutsche Leser schreiben müssten, was würden Sie formulieren?

Hessel: Ich würde sagen, ihr Deutschen habt eine enorme Rolle zu spielen gerade jetzt in Europa. Was euch passiert ist in diesem letzten Jahrhundert, ist enorm wichtig für uns alle. Ihr müsst jetzt die Werte, für die ihr gekämpft habt, anerkennen, wissen, welche sind denn diese demokratischen Grundwerte. Und wenn sie nicht genügend in Kraft genommen werden, sei es von Ihrer Regierung oder sei es von anderen Regierungen, für die Sie auch mitverantwortlich sind als Europäer, da müsst ihr etwas dagegen tun. Also ihr habt einen großen Vorteil vor anderen Ländern, weil ihr so viel erlebt habt, weil ihr so viel Schreckliches und auch Gutes erlebt habt, darum habt ihr eine besondere Verantwortung, und ihr müsst uns zusammen es möglich machen, uns richtig zu empören. Nicht nur einen Moment, sondern in einer Richtung, die uns als Europäer unsere Situation in der Welt ermöglichen würde.

Scholl: Sie haben Ihren Aufsatz, Monsieur Hessel, vor dem Hintergrund Ihrer Biografie, das heißt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geschrieben …

Hessel: … ja …

Scholl: … und Sie sagen ganz offen, es war damals einfach, sich zu empören gegen die Willkür, den Terror, die Grausamkeit. Für die heutige Generation sei es nun ungleich schwerer, weil es ja doch keinen klaren Gegner gibt. – Man kann sagen, gut, die soziale Ungerechtigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich, die Finanzmärkte, die Gier der Manager, aber man genießt ja, gerade als westlicher junger Mensch, ja auch die Privilegien des Systems, das die Ungleichheit, diese Ungerechtigkeit produziert. Wie lässt sich denn Ihrer Meinung nach dieser Widerspruch auflösen?

Hessel: Also es ist gerade so, dass man das Gefühl hat, alles geht ja nicht so schlecht, ist doch ganz gut, wir leben in einem ziemlich reichen Land, in Europa. Man sieht dem nicht schnell an, dass das alles jetzt in großer Gefahr steht. Die Gefahr ist, dass diese Wirtschaftskrise sich nicht auflöst, die Gefahr ist, dass die Erde wirklich beschädigt ist. Und wenn wir das nicht schnell genug verstehen und nicht schnell genug dagegen reagieren, dann wird diese Lage für uns noch viel gefährlicher als die Lage war vor dem Zweiten Weltkrieg.

Also die Gefahren sind nicht so leicht zu erkennen wie damals, aber wenn man sie erkennt, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, wo gehen wir denn hin, wohin führt es, in welche Mauer stoßen wir, dann wird es schon notwendig, nicht nur sich zu empören, sondern darüber nachzudenken, was machen wir, damit es nicht so schlecht wird.

Scholl: Ja, wohin soll die Empörung konkret führen?

Hessel: Wir sollen uns zusammensetzen, wir sollen das benutzen, was die neue Technik uns gibt, dieses viele Zusammenkommen, diese vielen Mobiltelefone und was nicht alles, und digital und so … Dies sollen wir benutzen, um mehr zusammen zu sein. So ein Forum wie das in Dakar ist ein wichtiger Moment, man soll diese Sozialprobleme zusammen erkennen und dann gegen sie zusammen kämpfen. Nicht mehr als einzelner Mensch, nicht nur als einer, der die Wahl für eine Partei gibt, sondern auch einer, der sich wirklich einsetzt in großen Gruppen und da einen Einfluss auf die Regierungen erhält, der es möglich macht, diese wichtigen, gravierenden Probleme zu lösen.
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