"Wir sind in der Liga von Tschernobyl"

Sebastian Pflugbeil im Gespräch mit Christopher Ricke · 23.03.2011
Der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, sieht die Situation am japanischen Atomkraftwerk Fukushima keineswegs als entschärft an. Die in der Umgebung des Kernkraftwerkes gemessene radioaktive Strahlung sei vergleichbar mit der nach der Katastrophe von Tschernobyl. "Es muss dringend weiter evakuiert werden, das ergibt sich daraus zwingend".
Christopher Ricke: Über die aktuelle Lage in den Katastrophenreaktoren haben wir gerade vor wenigen Minuten berichtet, jetzt soll es um die langfristige Zukunft gehen. Ich spreche mit Sebastian Pflugbeil, das ist der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, er ist auch einer der wenigen Menschen, die den Sarkophag von Tschernobyl, also diesen großen Betondeckel über dem explodierten Reaktor, nicht nur von außen, sondern tatsächlich auch von innen kennt. Guten Morgen, Herr Pflugbeil!

Sebastian Pflugbeil: Guten Morgen!

Ricke: Dieser Sarkophag von Tschernobyl – ist das eine Bauvorlage für Fukushima?

Pflugbeil: Es wird schon darüber nachgedacht, was man macht in dieser Richtung, es ist aber noch zu früh, damit zu beginnen. Die Strahlenbelastung ist viel zu hoch. Wir haben gerade gehört, dass bei dem Block 2 die Leute wieder abgezogen sind, weil mehrere hundert Millisievert pro Stunde Strahlendosisleistung dort gemessen worden ist. Also das geht noch nicht so einfach, das muss erst zur Ruhe kommen, und dann, dann wird man sehen.

Ricke: Muss man dann grundsätzlich sehen, was man tut? Ich meine, einschließen muss man diese atomare Hinterlassenschaft doch irgendwie?

Pflugbeil: Die ganze Geschichte ist ja noch nicht zu Ende, also das zerfällt jetzt vor sich hin. Man hat versucht, das mit Wasser von Hubschraubern und Feuerwehreinsätzen irgendwie ein bisschen zu verlangsamen, das scheint in gewissem Maß gelungen zu sein, aber es bricht wieder aus, es bricht ständig wieder aus und die Sache ist nicht zu Ende.

Was vielleicht interessant ist zu erwähnen: Die IAEA, also Internationale Atomenergieagentur in Wien, die nicht für Übertreibungen bekannt ist, die haben am 21. März veröffentlicht, dass sie gemessen haben in einem Gebiet 16 bis 58 Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk, also schon relativ weit weg, und die haben Werte gefunden in der Bodenbelastung mit Beta- und Gammastrahlern von 200.000 bis 900.000 Becquerel pro Quadratmeter, das ist eine Größenordnung, nur mal zum Vergleich: In der Tschernobyl-Sperrzone wurden sogenannte heiße Flecken ausgemacht, die hat man definiert als größer als 555.000 Becquerel. Also, wir sind in der Liga von Tschernobyl, was das Gebiet um Fukushima angeht, und es muss dringend weiter evakuiert werden, das ergibt sich daraus zwingend.

Ricke: Jetzt berichten wir ja seit zwölf Tagen über diese Katastrophe, und ich gebe zu, sowohl als Radiohörer als auch als Zeitungsleser als auch jemand, der im Radio über dieses Thema spricht: Es könnte sein, dass so allmählich eine gewisse Abstumpfung einsetzt, weil nichts Großes mehr passiert, weil nichts explodiert. Müssen wir vorsichtig sein, dass möglicherweise ein Gefühl der Sicherheit – die Japaner kriegen das schon hin –, dass das aufkommt, obwohl das gar nicht so ist?

Pflugbeil: Na ja, ich habe schon erlebt, dass die Nachrichten über Fukushima nach dem gestorbenen Eisbären kamen und so. Das ist ein Nachrichtenproblem, also ein Medienproblem.

Aber faktisch geht das Problem in Japan erst los, es fängt erst an. Und auch die Verteilung der Radioaktivität über größere Territorien fängt erst an und die Problematik, was man da macht, wie man mit Nahrungsmitteln umgeht, all diese Dinge, Schutz der Bevölkerung, fangen erst an; und die Probleme auf der Anlage selber, wie man mit diesen Zahnlücken jetzt umgeht in Richtung auf irgendwelche Sarkophage, das wird sich über Jahre hinstrecken.

Ricke: Auf der Anlage selber sind viele Menschen im Einsatz, die kann man möglicherweise als Helden bezeichnen. Es gibt auch Gerüchte, man würde eher gezwungen, dort eingesetzt zu werden, es gab sogar die Geschichte mit den sogenannten – das ist ein ganz böser Begriff – Wegwerf-Arbeitern. Ist das denn etwas, wo man so Hilfskräfte hinschickt, oder braucht man da wirklich Fachleute?

Pflugbeil: Na ja, es erscheint mir leider einigermaßen glaubwürdig, was da erzählt wird. Es ist ja auch in deutschen Kernkraftwerken so, dass man sich für strahlenmäßig besonders belastende Einsätze, zum Beispiel Reinigungsarbeiten und solche Dinge, dass man sich da Arbeiter von Fremdfirmen holt, um die eigene Statistik nicht zu versauen und um die Leute locker wieder loswerden zu können, wenn sie genug Strahlung abgekriegt haben. Das ist ein weltweit praktiziertes Verfahren.

Wenn man das nicht machen würde, dann müsste man die eigene Mannschaft, die relativ hoch bezahlte eigene Mannschaft für diese Einsätze verwenden, und die kämen dann relativ bald an die Strahlenschutzgrenzwerte und wären nicht mehr richtig zu verwenden. Also das ist eine sehr unerfreuliche und wenig diskutierte Geschichte.

Ricke: Ja, um Gottes Willen, wie zynisch ist denn das?

Pflugbeil: Ja, es ist vieles im Umfeld dieser Kernenergienutzung zynisch. Das ist besonders zynisch, da stimme ich Ihnen zu.

Ricke: Herr Pflugbeil, wir hatten vor einem Jahr in der Endlagerdebatte eine ganz kurze, vielleicht bizarre aber doch aufscheinende Diskussion, da hieß es, wir können uns Gorleben sparen und alles nach Russland bringen, nach Majak, da ist es eh schon verstrahlt, da stellen wir es hin, da wird es bewacht, da geben wir den Russen viel Geld. Das Thema ist wieder verstummt. Könnte es sein, dass so etwas für Fukushima wieder auftaucht – Endlager für die Welt für richtig viel Geld?

Pflugbeil: Halte ich eher für unwahrscheinlich, also die Tsunamigefahr, die ist ja da ständig vorhanden, und wenn so ein Endlager denn von einem Tsunami überrollt wird, das ist vielleicht doch nicht so das Gelbe vom Ei.

Ricke: Sebastian Pflugbeil ist der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. Ich danke Ihnen!

Pflugbeil: Bitte!