"Wir sind es einfach den Opfern schuldig"

Kurt Schrimm im Gespräch mit Katrin Heise · 30.11.2009
Der Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Kurt Schrimm, hält den Prozess gegen John Demjanjuk für gerechtfertigt: "Wir sind moralisch dafür verantwortlich, auch nach so langer Zeit, auch noch ältere Männer strafrechtlich zu verfolgen, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt."
Katrin Heise: Seit heute läuft in München der Prozess gegen John Demjanjuk, es wird wohl einer der letzten großen NS-Kriegsverbrecherprozesse sein. Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden im Vernichtungslager Sobibor wird ihm vorgeworfen. Er war dort in der Wachmannschaft gewesen. Im Mai dieses Jahres wurde Dmjanjuk von den USA ausgeliefert, seitdem sitzt der 89-Jährige in Untersuchungshaft. Die Ärzte erklärten, er sei täglich zwei Mal 90 Minuten verhandlungsfähig. Neben der Anklage der Staatsanwaltschaft München sind 35 Nebenkläger zugelassen. Demjanjuk hat bisher keine Aussagen zu den Vorwürfen gemacht. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Kriegsverbrechen in Ludwigsburg hat die Fakten zusammengetragen.
(…)
Am Telefon begrüße ich jetzt den Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Guten Tag, Kurt Schrimm!

Kurt Schrimm: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Ihre Behörde, Herr Schrimm, hat die Vorarbeiten zu diesem Prozess geleistet und erst im Oktober, also wenige Wochen jetzt her, hat das Bundesverfassungsgericht schließlich zwei Beschwerden Demjanjuks abgewiesen, mit denen der Prozess nochmals verhindert werden sollte. Ich nehme an, Sie sind erst mal vorrangig erleichtert, dass Ihre Arbeit nicht umsonst war und der Prozess begonnen hat, oder?

Schrimm: Ja, wir haben sehr viel Arbeitszeit und auch Engagement in diesen Prozess oder in diesen Fall investiert, zwei Kollegen, zwei Mitarbeiter der Zentralstelle haben über acht Monate lang recherchiert und niemand arbeitet gern acht Monate umsonst, und deswegen sind wir zunächst mal, wie Sie sagen, erleichtert, dass der Prozess stattfinden kann.

Heise: Lassen Sie uns mal über diese Ermittlung, die Sie da führen, dann sprechen. Was heißt das eigentlich, diese Vorarbeiten? Der Fall Demjanjuk war in Deutschland ja eigentlich jetzt seit Jahren vergessen mehr oder weniger. Wieso hat Ihre Behörde sich überhaupt an seine Fersen geheftet?

Schrimm: Das ist mehr oder weniger einem Zufall zu verdanken. Sie wissen – und das wurde auch gesagt soeben –, er wurde damals in Israel freigesprochen. Er ging dann zurück in die Vereinigten Staaten und wurde wieder amerikanischer Staatsbürger. Wir hatten keine Veranlassung, uns weiter um Demjanjuk zu kümmern. Er war, wie gesagt, amerikanischer Staatsbürger. Wir sind nicht berechtigt, gegen diese zu ermitteln, und haben dann durch Zufall im Internet erfahren, dass die amerikanischen Behörden beabsichtigen, ihm erneut die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Das hat uns veranlasst, unsererseits zu fragen, weshalb wohl, ob wohl neues Beweismaterial vorläge. Wir haben uns dann bei den zuständigen Stellen in den Vereinigten Staaten erkundigt und haben dann erfahren, dass tatsächlich neue Erkenntnisse vorliegen.

Heise: Und dann werden Sie daran beteiligt, und wie gehen Sie dann weiter vor?

Schrimm: Ja, das ist von Fall zu Fall verschieden. In diesem Fall haben wir noch einmal ganz intensiv versucht, die Lebensgeschichte des Herrn Demjanjuk zu ergründen. Das war leider in der Vergangenheit nicht so, wie Sie wissen, er war zunächst in Israel, er war dann in den Vereinigten Staaten, wir haben versucht, sein Leben nachzuvollziehen, nachzuvollziehen, was er getan hat in Sobibor. Wir haben dann als Beweismittel diesen Ausweis, in dem seine Aufenthaltsdauer in Sobibor vermerkt ist, und wir haben dann – und das ist ziemlich einmalig –, dann diese Listen gefunden, diese Transportlisten von einem Lager ins Lager Sobibor. Wir haben hier also nicht Tausende, wie das sonst ist, von namenlosen Opfern, sondern wir haben die Namen von über 29.000 Opfern, die während der Zeit Demjanjuks in Sobibor ermordet worden sind.

Heise: Und dann gehen Sie oder Ihre Leute auf die Suche nach, genau da, nach Überlebenden, um die auch zu befragen?

Schrimm: Ja. Es ist natürlich für uns sehr wichtig, wenn Überlebende da sind – in Sobibor ist die Chance sehr, sehr gering, dass es Überlebende gibt ... Es war ein reines Vernichtungslager, anders als andere Lager. Wer nach Sobibor kam, der wurde meist dort auch umgebracht. Trotzdem suchen wir und man wird ab und zu noch fündig. Aber es ist natürlich so, dass nach so langer Zeit die Zeugen auch oftmals nicht mehr in der Lage sind, genauere Angaben zu machen.

Heise: Wie bestimmt man eigentlich – zum Beispiel jetzt gerade im Fall von Herrn Demjanjuk – erst mal ein deutsches Gericht, was überhaupt zuständig ist für den Fall? Da müssen Sie doch auch Vorarbeit leisten.

Schrimm: Ja. Hier gab es zweierlei Möglichkeiten. Wir waren da anfangs anderer Ansicht wie die Münchner Kollegen. Ein deutsches Gericht ist normalerweise zuständig, wenn die Tat in dem Bezirk begangen wurde oder wenn sich der Tatverdächtige oder Beschuldigte in dem Bezirk aufhält. Beides war bei Demjanjuk nicht der Fall. Die Tat wurde im Ausland begangen, er selbst hielt sich auch im Ausland auf. Dann gibt es aber noch eine dritte Möglichkeit. Für einen Mann, der sich in Deutschland aufgehalten hat, ist das Gericht oder die Staatsanwaltschaft des letzten Aufenthaltsortes ebenfalls zuständig. So haben wir gemeint, dass die Kollegen in München dafür verantwortlich wären. Die Münchner Kollegen waren anderer Ansicht, und dann gibt es die Möglichkeit, die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung vorzulegen und der Bundesgerichtshof bestimmt dann nach eigenem Ermessen ein zuständiges Gericht.

Heise: Das heißt, Sie müssen aber auch erst mal wirklich alle Aufenthaltsorte dieses Menschen minutiös quasi nachvollziehen?

Schrimm: Ja. Ich möchte mal sagen, es war beinah eine Hangelei von Einwohnermeldeamt zu Einwohnermeldeamt, einfach um zu erfahren: Welchen Weg hat er in Deutschland genommen, bevor er in die USA auswanderte? Anders als in anderen Ländern gibt es in Deutschland keine Zentralregister, das ist für uns in jedem Fall eine sehr, sehr mühsame Arbeit, den Aufenthaltsort oder ehemaligen Aufenthaltsort eines Beschuldigten zu ermitteln.

Heise: Der Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Kriegsverbrechen Kurt Schrimm über seine Arbeit, die unter anderem eben zum Prozess gegen John Demjanjuk geführt haben. Eine Verteidigungslinie, Herr Schrimm, ist ja, einfach anzuzweifeln, ob es sich auch diesmal vielleicht gar nicht um den richtigen Demjanjuk handelt.

Schrimm: Ja, das wird sicherlich eine zentrale Frage sein in diesem Prozess. Ich möchte der Argumentation der Münchner Kollegen jetzt nicht vorgreifen, die letztendlich jetzt die Verfahrensherrschaft haben, was die Anklage anbetrifft, aber es ist ja so, dass der Ausweis eine sehr, sehr große Rolle spielte. Hier wurde geltend gemacht teilweise, dieser Ausweis sei gefälscht. Deutsche Fachleute wie zuvor schon US-amerikanische Fachleute haben die Echtheit dieses Ausweises bestätigt und ich glaube, es wird den Münchner Kollegen gelingen, nachzuweisen, dass es sich um den richtigen Demjanjuk handelt.

Heise: Haben Sie in dem Fall eigentlich selbst ermittelt und ihn auch vielleicht schon selbst verhört?

Schrimm: Nein. Zum Zeitpunkt unserer Vorermittlungen war Demjanjuk noch in den Vereinigten Staaten und konnte von uns deshalb nicht vernommen werden.

Heise: Wenn man sich jetzt noch so an die Bilder erinnert: Dieser hinfällige Demjanjuk wird in ein Flugzeug verfrachtet im Mai dieses Jahres – da taucht ja irgendwie immer wieder die Frage auf: Wie viel Sinn machen eigentlich solche Verfahren?

Schrimm: Ich möchte diese Bilder nicht kommentieren. Ich weiß nur eines: Als vor vielen, vielen Jahren, als Josef Schwammberger nach Deutschland ausgeliefert wurde, vermittelte er den Eindruck, als würde er keine zwei Monate mehr leben und er lebte dann noch 15 Jahre. Aber wie gesagt, ich möchte diese Bilder, die wir gesehen haben, nicht kommentieren.

Ich meine aber, es macht insgesamt nicht nur Sinn, sondern ich meine, wir sind moralisch dafür verantwortlich, auch nach so langer Zeit, auch noch ältere Männer strafrechtlich zu verfolgen, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt. Wir sind es einfach den Opfern schuldig, das waren ungeheure Verbrechen, wie sie bisher die Welt nicht kannte, und ich glaube, wir können hier in Deutschland nicht einfach sagen, Deckel drauf, Akten zu, das interessiert uns nicht mehr, der Mann ist zu alt. Ich glaube nicht, dass wir das vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen können.

Heise: Jetzt ist Demjanjuk aber auch jemand, der sehr weit unten in der Befehlskette angesiedelt ist. Beeinflusst Sie das in Ihren Ermittlungen?

Schrimm: Nein. Wir sind zunächst mal gehalten – und vor allen Dingen hier in Ludwigsburg, die ja mit dem Verfahrensausgang nichts mehr zu tun haben –, wir sind gehalten, einfach mal den Sachverhalt zu ermitteln. Die juristische Bewertung kommt dann später von der Staatsanwaltschaft beziehungsweise endgültig vom Gericht. Wir ermitteln zunächst mal unabhängig von Alter und Gesundheitszustand der Beschuldigten. Er rangierte sicherlich am unteren Ende der Befehlskette, das ist richtig, aber dies wird, wenn er denn verurteilt werden sollte, sicherlich im Strafmaß berücksichtigt werden.

Heise: Es wird ja immer wieder gesagt, Herr Schrimm, dies ist einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse. Ermittelt Ihre Behörde denn zurzeit noch in anderen Fällen?

Schrimm: Wir ermitteln in anderen Fällen, ohne dass ich allerdings im Augenblick sagen könnte, es ist ein sehr erfolgsversprechender dabei, aber wir ermitteln vor allem weiter. Wir ermitteln systematisch, nicht nur anhand von bekanntem Tatgeschehen oder bekannten Namen, sondern wir suchen in Archiven, vor allem in Osteuropa und in Südamerika, einfach noch systematisch nach Hinweisen auf Dinge, die wir vielleicht bisher noch gar nicht kennen.

Heise: Informationen von Kurt Schrimm, er leitet in Ludwigsburg die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Kriegsverbrechen. Herr Schrimm, ich bedanke mich recht herzlich für das Gespräch!

Schrimm: Bitte sehr, Frau Heise!
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