"Wir sehen uns als Verteidiger der Grundrechte"

Fanny Dethloff im Gespräch mit Philipp Gessler · 29.09.2012
Wenn Gemeinden Flüchtlinge vor der Abschiebung schützen, geht es vor allem darum, eine neue rechtliche Bewertung der Lage der Betroffenen zu erreichen. In gut zwei Drittel der Fälle kann ein Bleiberecht für die Menschen erwirkt werden. Finanziert werden Kirchenasyle meist durch Spenden.
Kirsten Dietrich: Flucht ist kein Verbrechen – das ist das Motto der interkulturellen Woche, die heute zu Ende geht. Sie lenkt das Augenmerk vor allem auf diejenigen, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen müssen, und dann, nach einer Flucht unter schwierigsten Umständen, in den Ländern, in denen sie schließlich landen, fast durchweg auf Ablehnung stoßen. Eine der Anlaufstellen sind dann oft Kirchengemeinden.

Fanny Dethloff ist eine derjenigen, die sich in der Kirche hauptberuflich um Flüchtlinge kümmern, sie ist die Flüchtlingsbeauftragte der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirchenasyl. Philipp Gessler hat mit ihr gesprochen und wollte zunächst einmal wissen, ob das nicht eine unglaublich frustrierende Aufgabe ist, der sie sich da stellt.

Fanny Dethloff. Die Frage ist immer: In welchen Zeiträumen denkt man? Ja, eine Abschiebung von einer Familie, die vielleicht auch sogar getrennt abgeschoben wird, tut immer noch weh, und das finde ich auch wichtig, dass man da sensibel bleibt, aber sie tut eben auch weh als Menschenrechtsverletzung, weil es ist eine Familientrennung und weil es teilweise auch sehr ungerecht den Kindern gegenüber ist. Aber es gibt Bleiberechtsinitiativen, jetzt auch im Bundesrat, und das werte ich erst mal als Erfolg, wenn sich Bundesländer da wieder eindeutig aufstellen. Und auch das Verfassungsgerichtsurteil zu Asylbewerberleistungsgesetz ist meiner Meinung nach - nach all den harten Jahren des Kampfes, wo wir immer gesagt haben, das widerspricht den Menschenrechten -, ein Erfolg.

Philipp Gessler: Sie sind zugleich Pastorin der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland. Hilft Ihnen Ihr Glaube in manchen Situationen, der Verzweiflung nicht nachzugeben?

Dethloff: Ich bin weder verzweifelt noch halte ich diesen Arbeitsbereich für permanent durch Depressionen gekennzeichnet. Aber ja, ich finde schon, dass der Halt, den ich habe, auch in meinem Glauben, eine ganze Menge dazu beiträgt, Dinge auch anders vielleicht zu bewerten. Wir haben halt die Tradition der Bibel, und meiner Meinung nach ist die Bibel ein Buch der Migrantinnen und Migranten, der Wirtschaftsflüchtlinge, die ja meistens irgendwie immer sehr negativ davonkommen, aber für mich ist Josef und seine Brüder zum Beispiel nicht nur ein interner Familienkonflikt, weshalb Josef floh, sondern seine Brüder eben mit die ersten Wirtschaftsflüchtlinge, die wir hatten. Von daher lese ich bestimmte Sachen und habe eine andere Tradition, die ich mitbringe, woran ich mich auch orientiere.

Gessler: Sie sind zugleich die Vorsitzende der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche. Stehen die Kirchen zu dieser Aufgabe? Das Kirchenasyl kann die Kirchen ja auch in eine Konfrontation mit den staatlichen Behörden bringen.

Dethloff: Ja, wobei ich finde, das muss es eben nicht, sondern es ist eine Bitte um Zeitaufschub. Wir meinen ja nicht, es besser zu wissen als der Staat oder gar Selbstjustiz üben zu dürfen, sondern wir bitten um einen Zeitaufschub, weil wir bestimmte Dinge und Sachlagen anders bewerten in Einzelfällen. Das waren zum Beispiel letztes Jahr 31 Fälle mit 69 Personen. Das ist jetzt auch nicht etwas, wo man irgendwie die Demokratie in Gefahr sehen muss, sondern wir sehen uns als Verteidigung der Grundrechte an diesen Stellen und bitten um Aufschub in den Entscheidungen. In immerhin 70 bis 80 Prozent haben wir damit auch Erfolg vor Gericht. Von daher kann ich nicht erkennen, dass wir in irgendeiner Weise dort, ich sage mal, den Staat herausfordern.

Das sehen viele Kirchengemeinden ganz ähnlich, und ich bin sehr froh, dass das nach immerhin, jetzt 2013, dann nach 30 Jahren so etwas wie eine Institution geworden ist, wo viele einfach auch schon von gehört haben und sagen, aha, das ist eine Möglichkeit, das ist eine Option in diesem Fall, und wir versuchen da noch mal, um Zeitaufschub zu bitten. Meistens ist es ja auch sehr im Dialog mit den Behörden und mit den ganzen Vertretern sowohl der Innenbehörden wie des Bundesamtes. Da bin ich sehr froh, dass wir nicht mehr so konfrontative Aufstellungen haben.

Gessler: Dass es heilige Orte gibt, die Schutz gewähren – so etwas findet man ja schon im alten Israel und in der griechischen Antike. Auf welche Tradition berufen Sie sich in Ihrer Arbeit für das Kirchenasyl?

Dethloff: Also natürlich ist für mich die Kirche so etwas wie ein heiliger Ort. Nichts desto trotz gibt es keinen Anspruch darauf, dass nun die Demokratie an diesem Ort ausgesetzt wäre, sondern das Ordnungsrecht wäre auch dort durchzusetzen, wenn es denn hart auf hart kommt. Wir sagen: Wir schützen als Gemeinde diese Familie und bitten um Aufschub, um neue Beweise vorzulegen. Und das ist eher ein, ich sage mal, demokratischer, dialogischer Ansatz, den ich auch für angemessen halte.

Gessler: Warum gab es denn überhaupt Anfang der 80er-Jahre in Westdeutschland wieder neue Fälle von Gemeinden, die Flüchtlingen Asyl gewährt haben?

Dethloff: Das hängt damit zusammen, dass man ein Asylverfahren durchführen durfte, dann wurde man abgelehnt und in sehr häufigen, hohen Prozentzahlen abgelehnt, und der darauf folgende Prozess hatte keine aufschiebende Wirkung. Das ist bis heute so in vielen Verfahren. Das heißt, man konnte abgeschoben werden, obwohl man vielleicht im nächsten Verfahren doch noch Recht bekommen konnte.

Und da haben Kirchengemeinden gesagt: Das geht doch nicht. Wir werden, selbst wenn die dann recht haben, diese abgeschobenen Asylbewerber nicht zurückholen, weil sie da jetzt anerkannt wurden, das geht so nicht. Sie sind dann zwar anerkannte Flüchtlinge, aber leider in ihren verfolgenden Staat wieder zurückgeschoben worden. Und in dieser Situation haben Kirchengemeinden gesagt: An der Stelle müssen wir Abhilfe schaffen.

Gessler: Worauf müssen sich denn heute die Gemeinden einstellen, wenn sie sich entschließen, Flüchtlingen Kirchenasyl zu gewähren?

Dethloff: Wir haben also zurzeit 18 Kirchenasyle, davon sind die Hälfte sogenannte Rückschiebungsfälle nach Dublin-II-Verfahren.

Gessler: Das bedeutet?

Dethloff: Das bedeutet, dass Flüchtlinge eigentlich in Italien gelandet sind zum Beispiel oder Ungarn und dort um Asyl gebeten haben, dann aber gesehen haben, dass sie entweder überhaupt keine Unterstützung bekamen im Asylverfahren, auf der Straße landeten, vielleicht waren Angehörige krank. Und sie sind dann nach Deutschland weitergeflohen, haben hier Hilfe erfahren und sollen jetzt nach Italien zurück.

Und in dem Moment sagen solche Menschen: Das schaffen wir nicht noch mal. Wir haben eine Flucht hinter uns, wir können nicht noch mal innerhalb Europas hin- und hergeschoben werden. Und das sind Fälle, die uns, aktuell jedenfalls, auch große Sorgen machen, weil wir mit Sorge sehen, wie Menschenrechte dann auch innerhalb Europas auf der Strecke bleiben.

Gessler: Ist das eine Belastung für die Gemeindevorstände, dass sie wissen: Das Kirchenasyl kann als eine Ordnungswidrigkeit geahndet werden?

Dethloff: Ja, natürlich. Also das macht jetzt keiner irgendwie, ich sage mal, heroisch, tatenkräftig und sagt, das ist uns alles egal, sondern das sind Beratungsprozesse in den Kirchenvorständen, das wird abgewogen, dass das eine Ordnungswidrigkeit ist, und das muss wirklich auch ein Fall sein, wo man sagt: Dafür riskieren wir es, weil wir sehen hier die menschenrechtlichen Grundbedingungen nicht mehr gegeben, also hier soll eine Familie getrennt werden, hier gibt es eine Rückschiebung eines Kranken, und dann wird gearbeitet.

Also das ist jetzt auch nichts leichtfertig Ausgerufenes, sondern die Kirchenasyle, die dort beschlossen worden sind, bedeuten dann immer, dass man noch mal sich auf die Suche macht, noch mal ein Gutachten vorlegt, noch mal die Geschichte versucht, genauer zu recherchieren. Und viele, das muss man auch sagen, viele Menschen sind eben im Asylverfahren ganz schlecht beraten, hören auf irgendwelche Schlepper, erzählen irgendwelchen Unsinn. Und das wieder zu heilen, also das wieder geradezuziehen und zu sagen, wir haben die Geschichte hinter der Geschichte jetzt endlich mal gehört und dieser Geschichte versuchen wir jetzt noch mal Raum und auch Recht zu verschaffen, das ist die eigentliche Arbeit.

Gessler: Wie viel Geld braucht denn eine Gemeinde, die sich für ein Kirchenasyl entscheidet, um finanziell auf der sicheren Seite zu sein?

Dethloff: Das ist ganz unterschiedlich. Es kommt darauf an. Also natürlich müssen wir die Leute insgesamt versorgen, wir müssen die medizinische Versorgung tragen, manchmal müssen Gutachten angefertigt werden, das muss bezahlt werden. In vielen Fällen tritt da der Kirchenkreis auch mit ein. Es gibt Kollekten für solche Gemeinden, die das tun. Wir erleben jedenfalls auch in der Bevölkerung eine hohe Solidarität. Also in all den Fällen, wo das bekannt war oder Schulen auch dahintergestanden haben, können wir nicht sagen, dass wir da jetzt alleine stehen und es große Löcher reißt.

Aber ja, also ich sage mal, wir hatten hier in Hamburg letztes Jahr noch eine syrische Familie, die nach über 14 Jahren aus Niedersachsen abgeschoben werden sollte, mit acht Personen – und wenn Sie das über 14 Monate durchhalten, ist das natürlich eine teure Angelegenheit. Und zum Glück, kann man nur sagen, haben wir diese Menschen davor bewahrt, zurückzukehren, wenn man die heutigen Verhältnisse anguckt, und natürlich haben die auch einen Aufenthaltstitel inzwischen.

Gessler: Wird ein Kirchenasyl eigentlich immer nur mit Spenden finanziert, damit die offizielle Kirche da nicht direkt darin verwickelt ist?

Dethloff: Ja, das kann man so sagen. Also wir versuchen auf jeden Fall, das aus Spendenmitteln aufzutreiben. Es gibt sehr kreative Aktionen von Kirchengemeinden, dass sie Konzerte machen, dass sie Auktionen machen, Basare machen, um diese Gelder zusammenzukriegen.

Gessler: Korrigiert das Kirchenasyl nicht die Fehler der staatlichen Stellen? Wird da nicht in gewisser Weise Flickschusterei betrieben?

Dethloff: Ja, genau das tun wir. Wir sind gute Flickschuster. Also dazu stehe ich auch. Jeder Einzelfall zählt. Wir wollen nicht irgendwas verschlimmbessern an dieser Stelle, sondern wir sagen, dass, obwohl Recht gesprochen ist, in manchen Fällen dennoch das eine Ungerechtigkeit darstellt, und diese Meinung hat sich auch durchgesetzt und findet sich bis eben ins Zuwanderungsgesetz mit der Härtefallregelung wieder. Es kann sein, dass es wirklich nicht angemessen ist, eine Familie nach langjährigem Aufenthalt wieder abzuschieben, einfach weil die Kinder zum Beispiel hier verwurzelt sind und hier zu einer Gemeinde, zu einer Schule, zu einem Kindergarten gehören.

Und diese Fälle haben auch zu Bleiberechtsregelungen geführt. Da macht es auch nur Sinn, wenn Menschen das verstehen, wie hart es ist, wenn sie mal erlebt haben, dass das ihre Nachbarn auch treffen konnte. Und in diesen Fällen Solidarität mit einzustiften in die Gesellschaft, halte ich für einen guten Auftrag.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.