"Wir plädieren sehr stark für die Kontextualisierung des Korans"

Mouhanad Khorchide im Gespräch mit Andreas Müller · 29.10.2012
Der Leiter des neuen Zentrums für Islamische Theologie Münster, Mouhanad Khorchide, hat die Bandbreite an Interpretationen des Islams betont. Diese müsse sich im Religionsunterricht wiederfinden - und deshalb auch bei der Ausbildung von islamischen Religionslehrern.
Andreas Müller: In der Debatte um Integration von muslimischen Migranten in Deutschland wird immer wieder ein Thema besonders hervorgehoben: Islamische Religionslehrer und Prediger des Islam sollen an deutschen Universitäten ausgebildet werden. Vor zwei Jahren beschloss der Wissenschaftsrat die Einrichtung von Instituten für islamische Theologie an deutschen Unis, morgen wird das erste von vier solcher Zentren in Osnabrück eingeweiht, in Zusammenarbeit mit dem Centrum für Religiöse Studien in Münster, der Leiter dort ist Professor Mouhanad Khorchide. Und den begrüße ich jetzt, schönen guten Tag!

Mouhanad Khorchide: Guten Tag, ich begrüße Sie!

Müller: Der Islam ist ja wie die christlichen Kirchen auch eine vielfältige Bewegung, mit sich untereinander nicht immer freundlich gesonnenen Strömungen, Gruppierungen, Denkschulen. Wie lehrt man, wenn man das dann zusammengreifen will, islamische Theologie?

Khorchide: Es ist eine wichtige Frage eigentlich. Es ist sehr wichtig, gerade im islamischen Kontext die Frage zu stellen, nach welcher Theologie wird gelehrt. Denn wir kennen im Islam keine der Kirche ähnliche Institution, die sagt, so oder so sieht das aus. Wir haben eine ganze Bandbreite, und das immer in der islamischen Ideengeschichte. In den 1400 Jahren hatten wir immer diese Bandbreite an Interpretationen, an Verständnissen von Islam. Deshalb ist es für uns hier sehr wichtig, das alles neu zu reflektieren, auch kritisch zu hinterfragen, nicht einfach das so hinzunehmen, was man in den islamischen Ländern unterrichtet, und zu fragen: Wie können wir – und das ist sehr wichtig – einen Islam hier vermitteln, der in Harmonie steht mit der Lebenswirklichkeit der Menschen hier in Europa, hier in Deutschland. Sodass gerade junge Menschen nicht vor der Wahl stehen: Entweder bin ich Deutscher oder Muslim, sondern wir streben das Sowohl-als-auch an.

Müller: Aber der junge Mensch kann sich die Frage stellen: Bin ich Sunnit, Schiit, Alevit, Wahhabit? Welcher Islam wird denn gelehrt?

Khorchide: Wir hier in der Ausbildung, wir stellen alle diese Strömungen dar. Wichtig ist, dass man argumentiert, dass man lernt zu reflektieren, dass man seine Position – ob man jetzt Sunnit ist oder Schiit ist zum Beispiel –, dass man weiß, warum bin ich jetzt Sunnit, warum bin ich Schiit. Dass man rational nachvollziehen kann, argumentieren kann, warum entscheide ich mich für das eine oder für das andere? Unsere Aufgabe hier ist einfach, alle diese Zugänge wissenschaftlich, objektiv, sachlich zu reflektieren, dass die Studierenden lernen zu reflektieren, zu überlegen.

Es ist nicht unsere Aufgabe, ihnen aufzusetzen, ihnen zu sagen zum Beispiel jetzt, weil ich persönlich Sunnit bin, dass ich ihnen sage, den sunnitischen Islam müsst ihr übernehmen, nicht den schiitischen, oder, wenn der Lehrer jetzt Schiit ist, umgekehrt, sondern zu sagen: Sunniten argumentieren so und so, Schiiten argumentieren so und so, innersunnitisch gibt es auch eine Bandbreite wie innerschiitisch an Schulen, wir argumentieren so und so. Letztendlich ist jeder Mensch für sich verantwortlich. Wir müssen die Studierenden dazu erziehen, mündig zu sein und für sich selbst ihre eigenen Positionen eben zu entwickeln und diese selbst zu verantworten.

Müller: Ist das vielleicht auch eine Erwartung, eine der Erwartungen an das Institut, an die Einrichtung, dass vielleicht freier auch mal diskutiert werden kann als, sagen wir mal, an einer arabischen Hochschule?

Khorchide: Definitiv. Wir haben eben das, was Sie erwähnt haben, das finde ich sehr wichtig: Dass wir eine Vielfalt haben in Deutschland, die wir sonst in den islamischen Ländern nicht so haben. Das ist viel mehr Homogenität in den islamischen Ländern, in der Türkei sind alle Hanafiten, Sunniten zum Beispiel, Iran Großteil fast alle Schiiten und so weiter, aber hier haben wir es zu tun mit den verschiedensten Strömungen. Und deshalb ist es unsere Aufgabe, an diesem Zentrum für Islamische Theologie, das morgen übrigens in Münster, nicht in Osnabrück eröffnet wird, eben beizutragen hier, dass die jungen Menschen lernen zu reflektieren, ihre eigenen Positionen selber zu beziehen dann.

Müller: Wie umstritten war die Zusammenstellung des Lehrplans und der Struktur des Institutes? Wie sehr haben sich die verschiedenen Strömungen eingemischt, wie wollten sie repräsentiert werden, gab es Druck, gab es auch Streit? Es ist ja relativ schnell jetzt alles passiert in den letzten Jahren!

Khorchide: Ja, also, es gibt ... es gab überhaupt keinen Streit. Es ist so, dass wir Beiräte haben, wir haben hier in Münster, am Zentrum für Islamische Theologie einen muslimischen Beirat, der ersetzt die Funktion einer Kirche. Das bedeutet, der Beirat mischt sich nicht in die Inhalte ein, er schreibt uns nichts vor, sondern er hat lediglich ein Vetorecht aus religiösen Gründen bei der Curricula ... , also bei den Lehrplänen. Also, wenn im Lehrplan etwas steht, was klar den Grundsätzen des Islam widerspricht, dann kann der Beirat, darf der Beirat sagen, stopp, das passt nicht zur islamischen Lehre. Also, wenn jemand den Monotheismus infrage stellt oder überhaupt der Prophetie Mohammeds zum Beispiel, also etwas Grundsätzliches. Es geht nicht um Interpretationen. Und somit haben wir doch einen ziemlich freien Raum hier zu gestalten, eigentlich.

Müller: Was ist mit Verbänden wie dem Islamrat zum Beispiel? Hat der versucht, Einfluss zu nehmen?

Khorchide: Der Islamrat ist auch ein Ansprechpartner bei uns, genauso wie die anderen im KRM, also Koordinierungsrat der Muslime. Es ist nicht so, wie das sonst verbreitet ist, dass die Verbände alle konservativ sind oder einseitig, die Verbände selbst, wenn man mit denen redet, sind viel offener, als man denkt. Die haben intern auch verschiedene Strömungen, Diskussionen, für die Verbände – ob Islamrat oder die anderen – ist überhaupt diese ganzen Entwicklungen, wie Sie gesagt haben, die schnell verlaufen sind, eine Herausforderung, etwas Neues.

Bis jetzt waren die Verbände mehr gesellschaftspolitisch tätig, jetzt sind sie herausgefordert, theologisch tätig zu sein, das ist eine neue Erfahrung, ein neuer Prozess, den sie gemeinsam mit uns machen. Und sie entwickeln sich auch gemeinsam mit uns und das finde ich gut, dass sie auch ihre Positionen dadurch neu reflektieren. Ich würde dem Ganzen eine Chance geben, auch den Verbänden, dass sie diese Entwicklung mitmachen und eventuell bestimmte, vielleicht sehr konservative Positionen neu reflektieren dann.

Müller: In Münster wird morgen das erste von vier Zentren für Islamische Theologie in Deutschland eingeweiht, ich spreche darüber mit Professor Mouhanad Khorchide. Ich habe eben schon Sie gefragt, was Sie sich erwarten vom Institut. Haben Sie eine Ahnung, was sich muslimische Bürger davon erwarten? Wird das Ereignis in der Community überhaupt wahrgenommen?

Khorchide: In der Community wird das auf jeden Fall wahrgenommen. Also, wir haben zum Beispiel im Sommer, im Juli, insgesamt hier in Münster 600 Bewerbungen gehabt für die neuen Studiengänge, die jetzt gestartet haben im Oktober. Wir haben nicht damit gerechnet, wir haben auch nicht so viel Werbung gemacht, eigentlich. Aber allein, dass 600 Studierende sich bewerben, das zeigt, wie groß das Interesse in der muslimischen Community ist. Es spricht sich schnell herum.

Man weiß auch aus den Medien, dass wir hier Theologie betreiben, es geht um Inhalte, es geht um einen neuen sachlichen Diskurs über den Islam, jenseits jetzt von nur gesellschaftspolitischen Fragestellungen, wo es bis jetzt hauptsächlich um Bau von Minaretten oder Moscheen gegangen ist. Jetzt geht es um mehr Sachliches. Und die Community heißt das alles willkommen eigentlich, und wir sind sehr stark beteiligt und das freut uns auch, dieses große Vertrauen auch vonseiten der Community.

Müller: Ein interessanter Aspekt ist ja, dass hier ein Stück Normalität entsteht, Islam in Deutschland wird jetzt an den Hochschulen gelehrt in größerem Umfang. Andererseits ist ja die Einbindung an eine staatliche Universität auch ein Stück Verweltlichung, der Islam stellt sich dem wissenschaftlichen Diskurs, der aufgeklärten, skeptischen, rationalen Kritik. Gibt es Stimmen, die darin eine Gefahr sehen?

Khorchide: Es gibt da und dort Stimmen. Allerdings, das sind keine wissenschaftlichen Stimmen, das sind Stimmen von Laien, die kommen und denken jetzt, wenn man hinterfragt, dass der Glaube womöglich jetzt infrage gestellt wird. Aber ich denke mir: Wenn jemand wirklich religiös ist, selbstbewusst ist auch und von seinem eigenen Glauben sicher ist, der hat nichts zu befürchten. Und der soll sogar und muss laut dem Koran selbst, der mehrfach appelliert, den eigenen Glauben zu reflektieren – der Koran kritisiert übrigens an mehreren Stellen eine unhinterfragte Hinnahme von religiösen Inhalten und sagt, das geht nicht, der Mensch muss reflektieren, muss wirklich sich bewusst für die eine oder andere Position entscheiden. Und somit sehe ich eine große Chance. Und wenn es Strömungen gibt, da und dort, die das kritisieren, sollen sie das tun, aber die widersprechen dann dem Koran selbst, die widersprechen dem Geist des Islam selbst dadurch!

Müller: Der Koran lässt sich natürlich interpretieren und es gibt viele Interpretationen, es gibt die Interpretation der Salafisten, die in den letzten Monaten ja ein radikales Islambild geprägt haben in unserem Land. Wie will sich das Zentrum da positionieren, wie will es da ... oder welche Positionen will es einnehmen, wenn zum Beispiel die Debatte auf die Auswüchse bei den Salafisten kommt?

Khorchide: Wir plädieren sehr stark für die Kontextualisierung des Korans. Das bedeutet, dieses Buch wurde verkündet im siebten Jahrhundert, die Erstadressaten waren die Menschen, die in Mekka und Medina des siebten Jahrhunderts gelebt haben. Wir sind heute damit gemeint, aber wir sind nicht der Erstadressat. Und das bedeutet, wir haben die hermeneutische Herausforderung, heute zu fragen, was würde Gott uns heute, im 21. Jahrhundert, hier in Deutschland sagen wollen, wenn der Koran heute verkündet würde? Und nicht den Text eins zu eins zu übernehmen, unhinterfragt, wortwörtlich, sondern den Sinn dahinter. Wir müssen zwischen den Zeilen lesen. Das ist das, wofür wir stark auftreten, wofür ich persönlich auch in meiner letzten Publikation, "Islam ist Barmherzigkeit", wo ich sehr stark auch theologisch darin argumentiere für diesen barmherzigen Gott, der eben sagt, es geht um den Menschen, nicht um sich selbst, es geht nicht um Gott, sondern es geht um die Glückseligkeit des Menschen selbst. Und das ist unsere Position hier in Münster!

Müller: Ganz kurz noch: Ist es geplant beziehungsweise gewünscht, dass Theologen des Instituts in gesellschaftliche Debatten eingreifen, wie das ja die Kirche – sei es die evangelische oder katholische – auch macht, wo sich evangelische Theologen äußern in Sachen Ethik, Armut, Sexualität et cetera?

Khorchide: Definitiv. Und es ist eine starke Aufgabe auch, und ein Auftrag in allen Religionen, nicht einfach sich zu isolieren von der Lebenswirklichkeit der Menschen, sondern sich zu äußern. Aber wenn sich äußern, dann nicht rein dogmatisch, jenseits der Lebenswirklichkeit, sondern eben Fragen zu stellen, welchen Beitrag können Religionen leisten für ein konstruktiveres, schöneres, friedlicheres Leben hier und jetzt?

Müller: In Münster wird morgen das erste von vier Zentren für Islamische Theologie in Deutschland eingeweiht. Das war dazu Professor Mouhanad Khorchide, haben Sie vielen Dank!

Khorchide: Danke Ihnen, danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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