"Wir haben tatsächlich eine Gotteskrise"

Matthias Matussek im Gespräch mit Philipp Gessler · 29.12.2012
Eine Gesellschaft, die den Glauben als Quelle der Kraft und des Zusammenhalts verliert, produziere jede Menge Ausfallerscheinungen, meint der Schriftsteller und "Spiegel"-Journalist Matthias Matussek. Die Zunahme von seelischen Erkrankungen in den Wohlstandsgesellschaften sei ein Beleg dafür.
Kirsten Westhuis: Zwischen Weihnachten und Neujahr atmet der eine oder die andere auf, dass die Feiertage heil überstanden sind. Denn beim Fest der Familie kann es schon mal zur Abrechnung kommen – und damit nicht zuletzt auch zum familiären Weltuntergang.

Kurz vor der Endabrechnung seines eigenen Lebens steht die aktuelle Roman-Titelfigur von Matthias Matussek. "Die Apokalypse nach Richard" heißt seine aktuelle Novelle. Und darin schlägt der Buchautor und "Spiegel"-Journalist einen katholischen Bogen von Weihnachten als Fest der Familie bis zum Jüngsten Gericht.

Mein Kollege Philipp Gessler hat mit dem bekennenden Katholiken Matussek über sein Buch und seinen Glauben gesprochen und wollte zunächst einmal von ihm wissen, ob er denn selbst an den Weltuntergang und das Endgericht glaubt.

Matthias Matussek: Erst mal ist zur Apokalypse zu sagen, dass die ja ein großer Hoffnungs-Hymnus ist. Sie ist ja die Vorbereitung für ein Tausendjähriges Reich des Friedens und des Glücks. Und ist verbunden mit der Wiederkehr des Herrn. Was den Weltuntergang angeht, ist eines mal sicher: Jeder von uns wird seinen Weltuntergang erleben, das ist so klar wie Kloßbrühe. Und es kommt darauf an – wie Apostel Paulus im Korintherbrief sagt –, darauf vorbereitet zu sein, und da ist es dann unklug, zu sehr an den Dingen der Welt zu hängen, von der Welt, aber nicht in der Welt zu sein, wie der heilige Vater in seiner berühmten Freiburger Rede sagt, wenn er von der Entweltlichung spricht.

Philipp Gessler: Haben Sie denn selbst Angst vor dem Jüngsten Gericht, und dass der Herr Ihre arme Seele für zu leicht bewerten würde?

Matussek: Also ich gehe schon regelmäßig zur Beichte und bitte darum, dass mir meine Schuld vergeben wird. Ich glaube, ohne den Gedanken an ein Jüngstes Gericht oder an eine Rechenschaft, die wir ablegen müssen, ist der ganze Glaube ein bisschen haltlos und gestaltlos und hängt in der Luft. Ich glaube, dass das Christentum und der christliche Glaube schon eine Aufforderung an uns darstellt, uns zu benehmen, um es mal trivial zu sagen.

Gessler: In den früheren Jahrhunderten ist ja der Glaube vor dem Jüngsten Gericht oft so gewesen, dass die Leute richtig Angst hatten, und für manche hat das sich sogar psychisch sehr negativ ausgewirkt. Ist das nicht ein Fortschritt, dass heute dieses Jüngste Gericht eher symbolisch gemeint wird?

Matussek: Ach, weiß ich nicht. Ich glaube, eine Gesellschaft, die völlig schuldfrei lebt in dem Gedanken eines fast infantilen Verständnisses von Sündenfreiheit und Schuldfreiheit, droht zu verdeppen. Ich glaube, dass die innere Stimme wichtig ist, und dass man die wachhalten muss.

Ich bin aufgewachsen mit dem Gedanken, dass es einen Himmel gibt und dass es auch eine Hölle gibt, dass man auch bestraft wird, wenn man was Unrechtes getan hat. Mein Sohn zum Beispiel, wir hatten kürzlich darüber gesprochen, ob Hitler in der Hölle ist, und ich sagte, das wissen wir nicht. Vielleicht hat er im letzten Moment bereut und so weiter. Und den fand er so empörend, den Gedanken, dass er sagte: Der muss doch bestraft werden. Also ich halte es mit Dostojewski, der sagte: Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt, dann ist auch Mord erlaubt.

Gessler: Nun sind Sie ja lange Marxist gewesen, Sie haben ja selber schon darüber geschrieben und gesprochen. War das ein langer Weg, sozusagen diesen katholischen Glauben wiederzufinden?

Matussek: Nö. Der war in meiner Kindheit angelegt, und das marxistische Zwischenspiel war eben dieses Zwischenspiel. In meinem Buch, in der Novelle "Die Apokalypse nach Richard" –- ja, sozusagen, der Richard geht ja auf das Endgericht zu, aber für ihn ist es eine freudige Idee, weil es mit der Wiederkunft des Herrn verbunden ist –, da gibt es einen Sohn, Roman, der ist Journalist, und der ist ein ziemlich wütender Journalist, und der ist empört, als er sieht, dass da mitten in dem Weihnachtstrubel stehen Leute, die demonstrieren für einen Pastor, der in Teheran inhaftiert ist, und die Leute gehen vorbei, und das mitten im Weihnachtstrubel, das empört den Roman – Ähnlichkeiten sind rein zufällig, steht vorne in der Erklärung.

Gessler: Tatsächlich, wenn man das liest, dann denkt man immer wieder an Sie, auch wie die Reaktion der Redaktion auf die Texte von Roman sind.

Matussek: Ich glaube, jeder, der ab und zu mal über Religion oder Gott schreibt bei uns, der macht da die gleiche Erfahrung wie der gute Roman, ja? In dem Gespräch schlägt dann der geschäftsführende Redakteur dann vor, ob man nicht vielleicht Gott ersetzen könnte durch etwas weniger Anstößiges, ja?

Gessler: Aber Sie leben das bestimmt auch im "Spiegel", dass Sie, wenn Sie über religiöse, kirchliche Dinge schreiben, dass Sie dann angefeindet werden so nach dem Motto, jetzt übertreib nicht so.

Matussek: Ach na ja, angefeindet nicht. Ich habe ja im Spiegelverlag "Das katholische Abenteuer" veröffentlicht, hat schon einiges Augenrunzeln gegeben, aber der "Spiegel" ist im Prinzip doch eine sehr liberale Veranstaltung. Natürlich gibt es den einen oder anderen, der sich da ignorant und stur und auch aggressiv verhält, aber das gibt es in jedem Betrieb, glaube ich.

Gessler: Erleben Sie denn eigentlich so schöne Heiligabende, wie sie in dem Buch beschrieben werden, also zumindest am Anfang doch sehr schöne familiäre, harmonische Weihnachten?

Matussek: Na ja, das harmonische Weihnachten kommt doch erst zum Schluss, es existiert in den Erinnerungen der Kinder und auch in Richards Erinnerung. Da ist Weihnachten immer das Fest des Glanzes und des Lichtes und der Freude, also das ist ein ganz wichtiges Fest. Es gibt diese berühmte Geschichte von dem Christmas Truce am 24. Dezember 1914 an der Westfront, wo die Kommandeure der Deutschen und der Engländer die Gräben getauscht haben und wo es offenbar einen gemeinsamen Gottesdienst gegeben haben soll, also dass wir diesen einen Tag im Jahr haben, an denen wir den anderen versprechen und uns selber versprechen, bessere Menschen zu sein, und den anderen erklären, dass wir sie liebhaben.

Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Tag, für uns alle, für die Hygiene der Gesellschaft auch, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und es ist eigentlich ein Fest der Familie. Insofern ist mein Buch ja nicht nur eine Weihnachtsgeschichte, sondern es ist, ein Kritiker hat geschrieben, die größte Feier der Familie in der Nachkriegsliteratur, und wahrscheinlich auch die naivste. Der Richard will alle noch mal um sich versammeln.

Gessler: Eine Ihrer Thesen, und das wird ja auch zumindest angedeutet in dem Buch, in den letzten Jahren ist ja, dass ohne den Glauben – ich sage es jetzt mal in meinen Worten – unsere Welt flach und leer würde. Woran machen Sie das denn fest?

Matussek: Also, ich sehe nur, dass die seelischen Erkrankungen steigen, gerade bei uns in den Wohlstandsgesellschaften, dass die Leute über Burnout klagen, was nichts anderes bedeutet, also ein anderes Wort für Depression ist, dass es schon dieses Sinndefizit gibt. Und dass eine Gesellschaft, die hier den Glauben verliert an den spirituellen und geistigen Halt verliert, doch jede Menge an Ausfallerscheinungen produziert.

Gessler: Nun sind ja in Ostdeutschland etwa 70 Prozent der Menschen konfessionslos. Haben die dann mehrheitlich ein leereres und flacheres Leben als in Westdeutschland?

Matussek: Nein, das natürlich nicht. Schauen Sie, es gibt bei uns im Westen zwar sehr viele eingetragene Kirchenmitglieder, also kirchensteuerzahlende Mitglieder, aber wenn ich bei uns sonntags in die Messe gehen, das ist eigentlich immer der gleiche Trupp von 120 Verwegenen, die sich da versammeln. Also selbst auf der Seite der Eingetragenen des Westens, wo es vermeintlich – wenn wir um Statistiken reden – ein regeres Glaubensleben gibt, selbst da ist der Glaube im Schwinden.

Aber es ist natürlich schon ein Unterschied, ob ich in einem Staat aufwachse, der Glaube und Gott als Humbug erklärt und den Menschen sozusagen zum Maßstab aller Dinge macht, völlig zweifelsfrei, oder ob ich in einem kirchlichen Milieu - mit Kindergarten, mit Religionsunterricht - aufgewachsen bin. Übrigens muss ich bei der Gelegenheit sagen, selbst Karl Marx hat gesagt: Die Religion ist der Geist in einer geistlosen Zeit.

Gessler: Nun werden aber die säkularen, laizistischen Gruppen ja immer stärker in der Gesellschaft, der Einfluss der Volkskirchen nimmt ab. Würden Sie denn dieser Analyse zustimmen?

Matussek: Ganz sicher. Ich glaube aber, dass wir keine Kirchenkrise haben, sondern dass wir tatsächlich eine Gotteskrise haben. Menschen glauben immer weniger, deshalb kann ich der Kirche nur zurufen und raten, doch an ihrem Glaubensbestand festzuhalten. Und wenn ich heute die CDU-Ministerin Kristina Schröder höre, die sich über das Vokabular in den Märchen aufregt – die sagte also, das muss man genderneutral machen, und wenn sie zu Hause betet, dann betet sie nicht zum lieben Gott, dann sagt sie nicht der Gott, sondern das Gott –, also da greife ich mich an die Nuss, da ist sozusagen die Korrosion des Glaubens und des Volksglaubens so weit fortgeschritten und hat einer derartigen Dämlichkeit Platz gemacht, dass es wirklich zum Haare raufen ist. Und dass so eine Dame unsere Familienministerin ist, spricht Bände.

Gessler: Was bedeutet das denn für unsere Gesellschaft, wenn sie immer mehr christliche Prägung verliert? Wird sie dadurch unmenschlicher?

Matussek: Ich befürchte ja. Ich befürchte, dass was Wesentliches verloren gegangen ist. Ich glaube, dass all die Zivilreligionen, die uns einfallen, dann doch ziemlich blass sind in ihrer Strahlkraft. Ich erlebe da eine religiöse, spirituelle Verkarstung – ich habe ja in Brasilien gelebt und in New York gelebt, in Amerika gelebt, da habe ich ein ganz anderes Kraftfeld betreten, was den Glauben angeht.

In Rio war selbstverständlich, dass die Gemeinde zusammengearbeitet hat und gesammelt hat für die Favela, die benachbarte Favela. Und unser Fahrer hat sich jedes Mal bekreuzigt, wenn er an irgendeiner Kirche oder einem Friedhof vorbeigekommen ist. Das sind so ganz normale Gesten, die klarmachen, wir leben nicht nur hier und jetzt, sondern auch immer mit dem Blick ins Jenseits. Es kommt schon darauf an, sich für diese andere Welt auch in irgendeiner Weise vorzubereiten. Und die Dimension geht bei uns wirklich buchstäblich und sehr traurig verloren.

Westhuis: Das war der "Spiegel"-Journalist und Buchautor Matthias Matussek im Gespräch mit Philipp Gessler. Matusseks Novelle "Die Apokalypse nach Richard" ist im Aufbau-Verlag erschienen, hat 189 Seiten und kostet 16,99 Euro.


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