"Wir haben keine physischen Ketten mehr, aber das Aufenthaltsgesetz"

Moderation: Joachim Scholl · 08.03.2012
Frauen aus inzwischen 66 Ländern kommen zu Nivedita Prasad in ihr "Haus der Frauen", die Beratungsstelle Bin Yang. Sie sind Opfer von Menschenhandel und Prostitution, aber auch Angestellte von Diplomaten, die missbraucht werden. Prasad fordert politische Mechanismen gegen die moderne Sklaverei.
Joachim Scholl: Nivedita Prasad ist gebürtige Inderin und sie kämpft gegen diese Form moderner Sklaverei: Arbeit unter Zwang und unwürdigen Bedingungen. Nicht in einem fernen Land der Dritten Welt, sondern in Berlin. In ihrer Beratungsstelle Ban Ying setzt sich Nivedita Prasad für Frauen ein, die als Zwangsarbeiterinnen missbraucht werden - in Restaurants, in Diplomatenhaushalten oder als Prostituierte in Bordellen. Jeden Monat im Jahr melden sich Betroffene allein in Berlin. Nivedita Prasad ist bei uns im Studio, willkommen im "Radiofeuilleton"!

Nivedita Prasad: Guten Tag!

Scholl: Ban Ying, diese Bezeichnung kommt aus dem Thailändischen und bedeutet Haus der Frauen. Dort können vornehmlich Frauen aus Südostasien Zuflucht finden. Wie viele haben das schon getan?

Prasad: So kann ich Ihnen das nicht sagen, aber wir waren ursprünglich eine Beratungsstelle für Frauen aus Südostasien. Mittlerweile haben wir aber Frauen aus 66 Ländern beraten. Das heißt, das ist lange nicht mehr nur asiatische Frauen, sondern zurzeit zum Beispiel vorwiegend Frauen aus afrikanischen Ländern, die eben Opfer von Menschenhandel in der Prostitution werden, aber eben auch lateinamerikanische Frauen, südeuropäische Frauen, osteuropäische Frauen, aber eben auch asiatische Frauen.

Scholl: Wie geraten die Frauen in solche Situationen totaler Abhängigkeit, also in die Situation von Sklavinnen?

Prasad: Man braucht ja da ein Druckmittel, ein Druckmittel, was sehr wirksam ist. Und leider ist häufig dieses Druckmittel unser Aufenthaltsgesetz. Sie müssen sich vorstellen, es gibt Situationen, zum Beispiel bei Hausangestellten von Diplomaten, die kommen nach Deutschland, um bei einem Diplomaten zu arbeiten. Ihr Aufenthaltsstatus ist an diesen einen Diplomaten geknüpft. Also in dem Moment, wo sie ihn verlassen, müssen sie auch das Land verlassen.

Eine wirksamere Kette können Sie eigentlich gar nicht haben. Das heißt, wir haben keine physischen Ketten mehr wie in der klassischen Sklaverei, aber wir haben - also wir sagen immer sehr zynisch, wir haben das Aufenthaltsgesetz, wir brauchen keine physischen Ketten, das ist eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit ist, wenn eine Frau komplett ohne Papiere ist oder zum Beispiel eine Scheinehe hat - das gibt es ja auch -, dann sagen die Täter ihnen: Ja, du kannst gerne zur Polizei gehen, aber wenn die Polizei weiß, dass du eine Scheinehe hattest und/oder illegal bist, wissen wir, was passiert. Auch das ist sehr, sehr effektiv. Das heißt, um in so eine absolute Abhängigkeit zu geraten - also man spricht ja von Sklaverei, wenn ein Mensch die absolute Verfügungsgewalt über einen anderen hat -, das heißt, sie brauchen einen Mechanismus, der diese absolute Verfügungsgewalt ermöglicht. Sie und ich würden gehen, ja?

Also wenn man uns solche Arbeitsbedingungen servieren würde, würden wir gehen, wir wüssten wo hin, wir können die Sprache, wir wissen, wie wir die Polizei erreichen und, und, und. Das heißt, es ist immer eine Mischung von juristischer Abhängigkeit, aber auch tatsächlich manchmal auch faktischer Abhängigkeit, dass die Frauen eingesperrt sind. Das ist aber eher selten, zum Beispiel in Restaurants macht es ja keinen Sinn, das Restaurant abzuschließen, da kommt ja auch kein Kunde rein - und auch die Bordelle sind ja nicht abgeschlossen. Aber die Frauen trauen sich nicht rauszugehen, weil sie wissen, in dem Moment, wo sie rausgehen, wird der Arbeitgeber oder eben der Täter gegen sie vorgehen.

Scholl: Letzten Herbst gab es einen Fall, der Schlagzeiten machte: Es ging um die Indonesierin Dewi Ratnasari. Können Sie uns den Fall einmal schildern? Er hat auch Sie betroffen.

Prasad: Also Frau Ratnasari ist eine junge indonesische Frau, die nach Berlin kam, um hier für einen saudischen Diplomaten als Hausangestellte zu arbeiten. Sie war damit einverstanden, ist dann über Saudi-Arabien nach Deutschland gekommen, hat hier festgestellt, dass die Arbeitszeiten völlig absurd waren, 17 bis 18 Stunden am Tag. Sie wusste vom Vorfeld, dass sie die ganze Familie, also ich glaube, fünf oder sieben Leute, pflegen musste, also pflegen, bekochen und so weiter. Damit war sie auch einverstanden - womit sie aber nicht einverstanden war natürlich, dass man sie permanent beleidigt hat, geschlagen hat, misshandelt hat, erniedrigt hat und ihr auch keinen Lohn bezahlt hat.

Und das ging über 19 Monate, Frau Ratnasari hat mehrfach versucht, Leute zu bitten, ihr zu helfen, die haben es immer den Arbeitgebern gepetzt, dann wurde die Situation immer schlimmer. Und am Ende - und ich kann Ihnen leider über die Flucht nichts sagen, weil ich ihr versprochen habe, dass das nicht öffentlich wird, weil sie Sorge um die Fluchthelfer hat -, aber am Ende hat sie es dann doch noch einmal probiert, und diese Leute haben ihr Gott sei Dank geholfen, so ist sie zu uns gekommen. Was vielleicht wichtig ist: Sie ist im November zu uns gekommen, sie hatte keine Winterkleidung, und das, obwohl sie schon einen Winter in Berlin verbracht hatte, sie trug Ballerinas ohne Socken und keine Winterjacke und sie hatte nichts Adäquates für den Winter.

Scholl: In diesem Fall, muss man hinzufügen, deswegen wurde es auch ein Skandal und ein öffentlicher Fall, hat die deutsche Rechtsprechung mit dem Hinweis auf die Immunität der ausländischen Diplomaten die Klage der Betroffenen abgewiesen. Das muss ein ziemlicher Schlag für sie gewesen sein.

Prasad: Nein, wir haben es ja erwartet. Wir haben ja mit dem Thema seit über zehn Jahren zu tun, und das ist genau das Problem: Es ist juristisch leider richtig. Wir wussten, dass es passieren würde, aber wir wollten es endlich einmal durchklagen bis nach Karlsruhe. Eine Organisation wie unsere hat nicht die finanziellen Mittel für so eine Klage, und günstigerweise gibt es zurzeit ein Projekt, das heißt "Zwangsarbeit heute", das ist angesiedelt beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Die haben einen Rechtshilfefonds, und dieser Rechtshilfefonds quasi finanziert Präzedenzfälle. Und das war quasi ein Glück, dass wir wussten, es gibt diesen Rechtshilfefonds, die sind bereit, ein Musterverfahren in diesem Bereich zu machen, Frau Ratnasari war bereit, ihren Fall zur Verfügung zu stellen. Wir wussten, dass es in der ersten Instanz so sein würde, wir wussten, dass es in der zweiten so sein wird, es wird auch in der dritten so sein - in Karlsruhe wird es interessant. Diplomatische Immunität ist sehr wichtig, die soll auch bestehen bleiben, die wollen wir gar nicht infrage stellen. Aber wie kann der Zugang zum Recht für die Betroffenen gewährt werden?

Scholl: Und vor allem auch, wie kann es sein, dass die deutsche Justiz nicht gegen ein solches offenkundiges Verbrechen vorgehen kann?

Prasad: Das ist aber richtig. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten keine diplomatische Immunität, und wir hätten schwule Diplomaten im Iran oder in Weißrussland. Also ich bin schon froh, dass wir die diplomatische Immunität haben. Also das ist mir wirklich wichtig, dass man nicht denkt, es geht darum, die diplomatische Immunität infrage zu stellen. Es geht darum, zu sagen, okay, die gibt es, aber es gibt Leute, die so da drunter leiden, und da muss der deutsche Staat einen Weg finden, mit denen umzugehen.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Nivedita Prasad. Sie kämpft in ihrer Beratungsstelle Ban Ying für die Opfer von Zwangsarbeit. Nun haben Sie schon ein wenig angesprochen, wie Sie mit Ban Ying helfen können. Zunächst einmal, woher wissen die Opfer, dass es überhaupt diese Hilfe gibt?

Prasad: Das ist das größte Problem, nämlich die Identifikation der Betroffenen. Die beste Werbung, die wir machen können, ist quasi über Klientinnen. Das spricht sich rum, also zum Beispiel in der thailändischen Community, in der philippinischen Community, und zum Teil auch in der indonesischen Community sind wir bekannt. Das heißt, wenn da irgendwo eine Frau auftaucht, die ähnliche Probleme hat, wird die Community dafür sorgen, dass sie zu uns kommt. Das ist das eine, das andere ist, dass wir regelmäßig Öffentlichkeitskampagnen machen, Polizeifortbildungen machen - so kommen zum Beispiel häufig Frauen zu uns über Krankenhäuser, über die Polizei, über andere Beratungsstellen, über Bekannte, Verwandte -, also wir sorgen dafür, dass wir quasi in der Stadt im Gespräch sind, damit man uns die Frauen schickt.

Scholl: Aber Sie haben vorhin jetzt schon geschildert, wie die Zwangslage dieser Frauen ist. Sie sind von Abschiebung bedroht, sie sind illegal hier in Deutschland. Das heißt, wie können Sie denn diesen Frauen helfen und ihnen zugleich die Angst nehmen, dass sie nicht dann doch ins nächste Flugzeug gesetzt werden oder in absehbarer Zeit ins Flugzeug gesetzt werden und abgeschoben werden. Das ist ja wahrscheinlich die größte Furcht dieser Frauen.

Prasad: Wenn Sie Opfer von Menschenhandel sind, darf man Sie nicht sofort abschieben. Sollte das passieren, würden wir einen Riesenskandal draus machen. Das heißt, in dem Moment, wo die Frauen zu uns kommen, können sie erst mal in die Zufluchtswohnungen kommen, zur Ruhe kommen und in Ruhe darüber nachdenken, was sie machen möchten. Normalerweise - also nicht bei diplomatischer Immunität, aber normalerweise - steht den Frauen ja die Möglichkeit offen, gegen die Täter auszusagen.

Wenn sie das möchten und können, gehen wir mit den Frauen zur Polizei, wir gehen zu einer Rechtsanwältin, und die Frauen werden dann Zeuginnen und bekommen dann einen Aufenthaltsstatus für eine Zeugin, der so lange nur gilt, solange sie als Zeuginen benötigt werden. Danach müssen sie dann "freiwillig" in Anführungsstrichen sicher nach Hause oder eben in ihr Herkunftsland zurückreisen. Das ist uns wirklich wichtig, und das ist Gott sei Dank auch noch nie gewesen, dass eine Frau zu uns kam und sofort die Abschiebung anstand. Und das ist auch menschenrechtlich nicht möglich.

Scholl: Sie selbst, Frau Prasad, haben persönlich erlebt, wie es ist, beständig von Abschiebung bedroht zu sein. Sie sind mit 12 Jahren nach Deutschland gekommen, und Ihre eigene Mutter wollte Sie dann nach Indien abschieben nach einiger Zeit, und daraufhin sind Sie geflohen mit 16 in ein Heim. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit, und wer hat Ihnen damals geholfen?

Prasad: Also damals hat mir ganz banal das Jugendamt geholfen. Also das war tatsächlich so, dass ich irgendwann mitgekriegt habe, dass ich nach Indien zurückgehen sollte, ohne dass ich es wusste - ich dachte, wir fahren in Urlaub -, und dann bin ich eben zum Jugendamt gegangen und hatte Glück, muss man wirklich sagen. Die Jugendamtsmitarbeiterin war ziemlich geschockt, der Richter war ziemlich geschockt, ich kam dann in ein Heim und war untergebracht, und der Pferdefuß kam ja erst später: Mir war nicht klar, dass man seine Familie verlassen kann - familienrechtlich ist alles in Ordnung -, und dann kommt quasi die Ausländerbehörde und sagt: Vielen Dank, auf Wiedersehen!

Das war ein Problem, aber ich glaube, mein Glück war, dass ich so jung war. Die Tragweite war mir damals nicht klar. Ich bin brav dann alle drei Monate zur Ausländerbehörde gegangen und war eben eine Zeit lang nur ausländerrechtlich erfasst - also das ist nicht einmal eine Duldung, sondern einfach ein Nichtstatus -, ich habe es nicht verstanden, Gott sei Dank. Also ich war wie gesagt jugendlich und dachte, es wird schon irgendwie werden. Das sind so Sachen, die im Nachhinein so klar werden, was das eigentlich bedeutet hat, wie knapp es war - das war mir damals Gott sei Dank nicht klar.

Scholl: In einem Zeitungsartikel hieß es neulich, niemand sei mehr froh, dass sie damals nicht abgeschoben worden sind, als die Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes, weil ohne Sie und Ban Ying niemand von diesem Arbeits- und Sklavenverhältnissen wüsste. Da lachen Sie jetzt schallend! Aber wie ist der Kontakt zu den politischen Stellen? Wie empfängt man Sie da? Ist man da wirklich froh, dass es sie gibt?

Prasad: Na ja, wie soll ich sagen, also ja und nein. Natürlich ist es so, dass das Auswärtige Amt nicht froh ist, wenn wir da ständig anrufen, weil wir ja mit keiner frohen Botschaft kommen. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es sie sehr interessiert. Aber ich musste auch sehr lachen, als ich die Schlagzeile da gelesen habe, weil ich mir schon vorstellen kann, dass es auch beim Auswärtigen Amt Leute gibt, denen ich lästig bin. Aber nicht wirklich, sondern sie sind schon interessiert an dem, was wir ihnen erzählen, und versuchen auch, was zu tun, aber natürlich machen wir ihnen das Leben nicht unbedingt leichter, ganz im Gegenteil.

Scholl: Welche Ansätze gibt es denn in der Politik, also gegen diese offenkundigen Menschenrechtsverletzungen? Haben Sie da Unterstützung von Parteien, von Fraktionen?

Prasad: Na, die Zuständigen wäre das Auswärtige Amt, und da ist es so, dass wir jetzt im europäischen Vergleich, sagen wir mal, die Mitte sind. Also wir sind nicht die Schlimmsten, aber auch nicht die Besten, da sind wir im Gespräch. Es ist zum Beispiel so, dass in Deutschland Hausangestellte niemals zum Auswärtigen Amt müssen. In Brüssel ist das anders, in Brüssel ist das so, dass es regelmäßig quasi verpflichtend ist, dass die Frauen mindestens einmal im Jahr zum Auswärtigen Amt müssen, damit man mit ihnen ins Gespräch kommt. Es ist eine ganz einfache Maßnahme, die könnte man umsetzen, die ist in Deutschland leider noch nicht umgesetzt. Und über solche Sachen sind wir im Gespräch.

Scholl: Nivedita Prasad, sie kämpft für Frauen, die auch bei uns versklavt werden. Frau Prasad, wir wünschen Ihnen und Ban Ying alles Gute und für Ihr Engagement, herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch!

Prasad: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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