"Wir haben immer wieder einen neuen Klassiker zu entdecken"

Moderation: Frank Meyer · 03.07.2008
Für Literaturkritiker Jörg Plath besteht die Faszination Kafka vor allem im "Reflektieren, in dieser Tendenz zum Essayistischen und zur Allegorie". Kafka habe seine Schriften "gegen die realistischen Lesarten verschlossen". Lesern, die sich intensiv mit dem Kosmos Kafka auseinandersetzen wollen, empfahl Plath die Kafka-Edition aus dem Stroemfeld-Verlag.
Frank Meyer: Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das ist einer der stärksten Sätze, die je über Literatur gesagt wurden, einer der vielen großen Sätze von Franz Kafka. Seine Bücher haben selbst diese Stärke, das gefrorene Meer in uns aufzuhauen. Dazu müsste man Kafka aber erst einmal lesen oder wieder lesen und sich vorher dafür entscheiden, welche der konkurrierenden Kafka-Ausgaben man dafür verwenden will. Über diese Ausgaben will ich jetzt mit unserem Literaturkritiker Jörg Plath sprechen. Jörg Plath, schauen wir aber zuerst mal heute am Geburtstag, am 125., auf die Faszination Franz Kafka. Wir hatten vor einer knappen Woche die dienstälteste Witwe von Kafka zu Gast – so nennt sich der Verleger und Kafka-Biograf Klaus Wagenbach, der hat uns vor allem ein Buch von Kafka dringend ans Herz gelegt: den "Landarzt". Aus diesen Gründen:

Klaus Wagenbach: Ich würde den "Landarzt" wählen, weil er so disparat ist. Da sind Legenden drin, da sind kurze Anekdoten drin, das nächste Dorf, man erreicht es nie. Da sind Parabeln drin, vor dem Gesetz. Da zeigt Kafka wirklich, was er kann. Da ist diese wunderbare Rede des Rotpeter vor akademischem Publikum, da ist der seltsame Landarzt selber, "und ich reise hier ohne Pelz durch die Kälte des unglückseligsten Zeitalters". Da denkt man immer, die Sprichwortähnlichkeit, auch im "Landarzt" selber, "freut euch ihr Patienten, der Arzt ist euch ins Bett gelegt". Ja, was soll man damit anfangen? Also, es ist ein sehr erheiternder und, da zeigt Kafka wirklich, was er kann.

Meyer: Klaus Wagenbach, Verleger und dienstälteste Witwe von Franz Kafka. Jörg Plath, wie ist das bei Ihnen, die Faszination Kafka, worin besteht die für Sie?

Jörg Plath: Die besteht in diesem Reflektieren, in dieser Tendenz zum Essayistischen, auch zur Allegorie, also eben darin, dass er alle seine Schriften so gegen die realistischen Lesarten verschlossen hat. Da kann man eben nicht herausfinden, wo genau liegt das Schloss oder wo genau ist das Gericht in dem Prozess. Das ist sicherlich auch erzwungen von seinen schweren Krankheiten, diesen Aufenthalten in Sanatorien. Er tendiert da zum Nachdenken, und das sind die Probleme, die uns heute immer noch umtreiben. Deswegen konnte, glaube ich, immer wieder jede Zeit ihren eigenen Kafka entdecken. Die eigene Gegenwart von Kafka eben konnte ihn nicht entdecken, da war es offenbar zu nah dran, aber dann später in den 50er Jahren, dieses existenzialistische Bild von Kafka, dann das Religiöse von ihm, er wurde dekonstruktivistisch gelesen. Inzwischen findet man den komischen Kafka, man findet einiges zum Lachen bei ihm. Das ist neu, da sind auch die Auswirkungen der 80er und 90er Jahre mit ihrer Ironie. Und das ist, glaube ich, ein Kennzeichen für einen Klassiker. Wir haben immer wieder einen neuen Klassiker zu entdecken.

Meyer: Ich danke Ihnen für diesen schnellen Durchmarsch durch die verschiedenen Etappen der Kafka-Deutung. Wir wollen jetzt reden über die verschiedenen Editionen, in denen man Kafka lesen kann. Warum gibt es die überhaupt, so verschiedene Editionen?

Plath: Das liegt eigentlich an Kafka selbst. Der hat einfach zu wenig veröffentlicht zu Lebzeiten, aber er hat viel mehr geschrieben. Er hat 5000 Blatt überliefert jedenfalls, er hat wohl auch noch einiges zu Lebzeiten vernichtet. Er hat nur sieben kleine, schmale Bände veröffentlicht, und die passen alle in einen Band alleine. Nun haben wir aber Gesamtausgaben von Kafka, zunächst die von Max Brod, seinem engen Freund, der den ganzen Nachlass gerettet hat, der ihn nicht verbrannt hat, wie Kafka wollte. Die haben dann sechs Bände oder später elf Bände. Und dann fragt man sich, wo kommen die denn her? Und Max Brod hat eben nicht nur nicht verbrannt, er hat auch alles zurückgefordert von Freunden und Eltern, was Kafka ihnen jemals geschickt hat an Briefen, an Aufzeichnungen, an Postkarten. Und dann hat er es veröffentlicht, indem er aus diesem Nachlass von den 5000 Blatt es zusammengestellt hat. Er hat einfach auch die Romane zusammengestellt, erst "Der Prozess", "Das Schloss", "Amerika". All das kommt eigentlich durch seine Kompilationsarbeit. Er hat dabei vereinheitlicht, er hat geglättet, er hat angeordnet, er hat als Co-Autor gehandelt. Und das wurde dann irgendwann ein ziemliches Problem, weil man merkte, na ja, da stimmt ja vielleicht einiges nicht.

Meyer: Max Brod also als Co-Autor, aber auch als Retter der Schriften von Kafka. Bei dem Punkt würde ich gerne noch einen Moment bleiben, das ist ja diese alte Geschichte, Kafka wollte sein Werk eigentlich vernichtet wissen. Wie weit wollte er das eigentlich, und warum wollte er das?

Plath: Uns sind ja nur die Texte, also die zwei Testamente überliefert von Kafka, und dann ist natürlich uns auch überliefert, wie viel Skrupel Max Brod sich gemacht hat, dass er es nicht verbrannt hat. Er hat dann unter anderem gesagt, er hätte auch schon Kafka zu Lebzeiten gesagt, er würde das auf keinen Fall verbrennen, im Gegenteil. Und er schrieb dann hinterher, im Nachwort zum "Prozess", Kafka habe sich damals, als er es geschrieben hat, alles solle verbrannt werden, in einer Krise befunden. Ich muss sagen, das sind zugleich auch Zeilen von Kafka, die in sich auch widersprüchlich sind. Und man kann nur heute sagen, ein Glück, dass Brod es nicht getan hat, sonst hätten wir heute von Kafka nichts aus den sieben zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungsbänden.

Meyer: Sie haben gesagt, Max Brod hat da Abschnitte genommen aus Kafkas Werk, neu zusammengefügt, also neue Texte hergestellt ja eigentlich. Warum hat er das eigentlich gemacht?

Plath: Das musste er machen, weil der Nachlass ist sehr gemischt. Es gibt in Kafkas Schreiben eine Mischung von Notizen, von Tagebuch-ähnlichen Eintragungen, von Skizzen, auch gemalten Skizzen übrigens, Entwürfe zu den Erzählungen, fertige Erzählungen, politologische Reflexionen, Aufzeichnungen des Tages. Und das alles wird in Heften festgehalten. Kafka hat offenbar sich immer des Heftes bedient. Das sind Oktavhefte oder Quarthefte, je nach Größe. Und da musste einfach Brod zugreifen. Manche Erzählungen sind auf zwei, drei Hefte verteilt, hängen aber durchaus zusammen. Und man kann sagen, das ist eine Erzählung. Beim "Prozess" ist es ein bisschen glücklicher, da gibt es immerhin Blätter, die durch umgeschlagene Blätter dann zu 15 Konvoluten zusammengefasst sind – immerhin. Und die selbst hat aber dann Kafka auch selbst schon aus seinen Heften herausgetrennt und eben diese 15 Konvolute erst hergestellt. Und Brod sagt nun, na ja, 15 Stück sind das, aber zehn ergeben die Kapitel dieses Romans, so hat er es auch veröffentlicht. In der zweiten Auflage sagt er dann, hier gibt es auch noch fünf Fragmente, die in den Zusammenhang gehören. Und in der dritten Auflage sagt er dann, na ja, vielleicht hat Kafka eine ganz andere Kapitelreihenfolge, als ich sie jetzt gefunden habe, beabsichtigt, aber das wissen wir nicht. Und dann fangen die Diskussionen natürlich an. Dann kann man sich überlegen, das neunte Kapitel "Im Dom", wie ist das, wo kommt das hin.

Meyer: Das ist ja wirklich herrlich vertrackte Lage und viel Betätigungsfeld für Germanisten. Was haben dann nun die späteren Editionen unternommen, um da eine sinnvolle Ordnung hineinzubringen?

Plath: Man hat ja gehofft, die späteren Editionen würden endlich uns lehren, wie dieser Kafka, dieser dunkle Kafka, endlich zu verstehen ist. Und diesen Editionen geht deswegen auch so eine große Diskussion voraus. Da sagt man dann, wie ist die Chronologie, die stimmt ja so nicht, wie sie von Brod hergestellt worden ist. Wie ist die Abfolge der Jahreszeiten im Roman, muss man nicht ganz anders anordnen? Wie sind die psychischen Zustände von Josef K., der da in diesen Prozess verwickelt ist, wie ist es mit Kierkegaards Philosophie, die ganz offenbar das Modell liefert, glaube man jedenfalls. Wie sieht es mit Papierqualitäten aus? Und all diesen Problemen widmen sich dann eben auch in der Diskussion diese Editionen, die endlich uns Klarheit bringen sollen. Editionen, kritische Editionen, greifen ja zurück auf Handschriften oder auf Maschinenschriften des Autors oder auf andere Aufzeichnungen und versuchen daraus dann einen Urtext, den eigentlichen Text, einen zuverlässigen Text jedenfalls, herzustellen. Und die erste Edition, die das probierte, die war dann die S. Fischer Edition.

Meyer: Und ist ihr das gelungen?

Plath: Es bleiben immer Unklarheiten und Dunkelheiten. Man muss dann sehr genau gucken, das können wir leider im Rundfunk gar nicht nachvollziehen und das können Sie auch nur in längeren Auseinandersetzungen nachvollziehen, ob denn die Entscheidungen, zu denen Malcolm Pasley, der Herausgeber der kritischen Ausgabe von Kafka bei S. Fischer, dann in den 80er Jahren kam. Die Ausgabe erscheint ja immer noch, jetzt wieder überarbeitet. Sie hat zwölf Bände, sie ist recht teuer, es gibt sie auch im Taschenbuch. Man kann sich also davon durchaus ein Bild machen.

Meyer: Jetzt haben Sie uns gerade die S. Fischer Edition vorgestellt, vorher haben wir über die Edition von Max Brod geredet, es gibt außerdem noch eine große Edition aus dem Stroemfeld-Verlag. Sagen Sie uns, welches ist denn die beste, welche würden Sie uns empfehlen?

Plath: Ich weiß nicht, welche ich empfehlen würde. Es gibt drei Ausgaben, die dritte Ausgabe ist eben eine, die uns die Handschrift zeigt, die Handschrift von Kafka, mit allen Änderungen. Da können Sie genau sehen, wie hat er geschrieben. In einer sehr schönen Schrift übrigens, aber es gibt zahlreiche Änderungen und es gibt dann rechts auf der anderen Seite oder links auf der anderen Seite, je nachdem, wo das Foto nun steht, gibt es eine Umschrift, eine maschinenschriftliche Umschrift. Und die ist sehr leicht lesbar, deswegen, weil man dort keine Klammern und eckigen und runden und Sternchen und so was hat, sondern man hat einfach durchgestrichen ist durchgestrichen, und man hat drübergeschrieben, ist drübergeschrieben, sodass Sie einfach nachvollziehen können, was ist denn da von Kafka geschrieben worden. Und das ermächtigt eigentlich jeden zu sehen und zu lesen, wie Kafka geschrieben hat. Nämlich unregelmäßig, phasenweise, ein dauerndes Umschreiben, ein Verwerfen, ein Abbrechen, ein Neu-Ansetzen. Und wir blicken auf diesen Text im Augenblick dieses kreativen Prozesses, des letzten jedenfalls Augenblickes. Er wollte ja immer dieses vollständige Begreifen meiner Lage, und dazu dient eben dieses immer wieder neu ansetzende Um- und Fortschreiben. Und das ist sehr modern, glaube ich, deswegen ist die Ausgabe auch die jüngste, sie erscheint ja erst seit 95, und sie auratisiert diese Schrift, erlaubt aber zugleich dann eben auch den Zugriff auf das, was da Kafka, jedenfalls vielleicht, durch den Kopf ging. Wir blicken so dem Dichter schamlos über die Schulter. Und das ist natürlich sehr schön.

Meyer: Da höre ich doch deutlich heraus, Ihre Sympathien gehen stark zu dieser Ausgabe aus dem Stroemfeld-Verlag?

Plath: Ja, wobei natürlich, ich muss sagen, wenn ich im Bett liege, dann möchte ich ein Buch in der Hand halten und nicht diese, was ja schön ist, diese 15 Konvolute. Die sind bei Stroemfeld, bei dieser Franz-Kafka-Ausgabe, ja einzeln gebunden, so wie sie ja auch von Kafka mit Einschlagblättern versehen wurden. Da hat man sich nicht gesagt, wie Brod oder auch wie die Herausgeber der S.-Fischer-Ausgabe, wir schaffen jetzt eine Kapitelanordnung, sondern wir geben dem Leser die Möglichkeit, jedes einzelne Konvolut einzeln als separate Broschüre in die Hand zu nehmen. Das ist sehr schön, aber wenn ich im Bett lesen möchte, dann würde ich wahrscheinlich doch zu der S.-Fischer-Ausgabe greifen, und wenn ich es dann genauer wissen will, dann greife ich zu beiden Ausgaben.

Meyer: Also eine diplomatische Empfehlung am Ende. Jörg Plath über die konkurrierenden Kafka-Ausgaben und die ganze schwierige Orientierung im Kosmos Kafka