"Wir haben immer eine Wahl"

Von Matthias Bertsch · 13.10.2012
Der schwedische Gesandte Raoul Wallenberg war 1944 und 1945 in Budapest tätig, um zu verhindern, dass sich dort wiederholte, was im übrigen Ungarn bereits geschehen war: der Transport tausender Juden in die Vernichtungslager. "Mir bleibt keine andere Wahl" heißt eine Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum in Erinnerung an den mutigen Diplomaten.
Als Raoul Wallenberg am 9. Juli 1944 in Budapest eintraf, hatte er eine Liste bei sich, auf der die Namen von 800 Juden standen, die in Schweden Zuflucht vor den Deportationen finden sollten. Ein halbes Jahr später endete seine Arbeit mit dem Einmarsch der Roten Armee in die Stadt - und es wurde bald klar, dass Wallenberg nicht ein paar hundert, sondern mehreren zehntausend Juden das Leben gerettet hatte.

"Berühmt sind natürlich die Schutzpässe, die er geschaffen hat, weniger bekannt ist vielleicht die große organisatorische Arbeit, die er für die verfolgten Juden Budapests geleistet hat. Er hat Tausende von Juden mit einem Dach über dem Kopf versehen in den so genannten Schwedenhäusern auf der anderen Seite der Donau, und er hat sie auch mit Essen und mit ärztlicher Hilfe versehen."

Wallenberg war nicht der einzige Diplomat, der sich für die Rettung der Budapester Juden einsetzte, so der schwedische Botschafter in Deutschland, Staffan Carlsson, bei der Eröffnung der Ausstellung. Aber keiner spielt in der Erinnerung an jene Zeit eine vergleichbare Rolle:

"Ich denke, es hat damit zu tun, dass Wallenberg auch persönlich anwesend war. Er war dabei, bei den Deportationszügen, bei den Todesmärschen, und die Überlebenden haben ihn persönlich gesehen und sie werden natürlich ihn nie vergessen."

Auch Andras Varga wird Wallenberg nie vergessen, obwohl er ihn nie gesehen hat - zumindest nicht bewusst. Vargas ist eine Woche nach der Ankunft Wallenbergs in Budapest geboren worden und hat mit seiner Mutter eine Zeitlang in einem der Schwedenhäuser ge- und damit überlebt:

"Dass unsere Familie lebt, mindestens meine Mutter. Ich hab 54 Angehörige verloren, die ich nur von Bildern kennen gelernt habe. Dass ich jetzt nicht in den Gaskammern von Auschwitz zur Welt gekommen und vielleicht noch hätte die Möglichkeit gehabt ein paar Minuten zu leben - das kann ich, ich weiß heute, Raoul Wallenberg bedanken."

Die Ausstellung im Centrum Judaicum zeigt auf einem Dutzend Tafeln, wie der schwedische Gesandte damals unermüdlich gegen die deutsche Vernichtungsmaschinerie und die ihr zuarbeitenden ungarischen Behörden kämpft: Er teilt von ihm selbst entworfene "Schutzpässe" aus, die die Inhaber unter den Schutz der königlich schwedischen Gesandtschaft stellen, verschafft den Verfolgten Unterkunft in exterritorialen Wohnungen - den so genannten "Schwedenhäusern" - und versucht selbst denjenigen, denen er nicht mehr anders helfen kann, wenigstens noch Lebensmittel zukommen zu lassen. Das Geld dafür kommt aus den USA: Die von der amerikanischen Regierung und jüdischen Organisationen finanzierte Flüchtlingshilfsorganisation "War Refugee Board" will möglichst viele Juden vor der Vernichtung bewahren. Als einer der Gegenspieler Wallenbergs taucht auf den Stellwänden immer wieder der Cheforganisator der millionenfachen Mordes, Adolf Eichmann, auf. Er nannte den Diplomaten einen "Judenhund", den man erschießen müsse, aber auch davon ließ sich Wallenberg nicht beirren. Welche Motivation ihn bewogen hat, sich dieser Gefahr auszusetzen, wird dagegen kaum thematisiert:

Norbert Kampe: "Die Ausstellung gibt ein bisschen einen Hinweis. Er hat Juden persönlich kennengelernt. Er war in Haifa, dort ist er mit deutsch-jüdischen Emigranten, mit Flüchtlingen von Nazi-Deutschland, zusammengekommen. Er hat Filme gesehen, wo moralisches Verhalten thematisiert wurde und Retten. Und in diesem Zusammenhang ist offenbar sein Wunsch entstanden, dass er auch etwas, was für ihn sehr sinnvoll erschien, Menschenleben zu retten, sich dafür einzusetzen. Also es muss ein ganzes Motivbündel gegeben haben für ihn, dass er diesen Auftrag angenommen hat."

Wie der Direktor der Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz", Norbert Kampe, verweist auch die Projektmanagerin des Raoul-Wallenberg-Jahres, Anja Jahn Günther, auf den Einfluss von Filmen für Wallenbergs Engagement. Vor allem der Film "The Scarlet Pimpernel" - "Das scharlachrote Siegel" -, in dem es um die Rettung englischer Adliger in der Nachfolge der französischen Revolution geht, habe bei Wallenberg einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen:

Anja Jahn Günther: "Sein eigenes Leben in Stockholm fand er vielleicht nicht so inspirierend: Er war ein kleiner Geschäftsmann und vielleicht auch etwas gelangweilt. Dann hat er diesen Film gesehen, und das hat ihn angeregt, etwas anderes zu machen - und als die Gelegenheit kam, hat er sie ergriffen."

Letztlich aber bleibt vieles über die Motivation Wallenbergs für sein engagiertes Handeln im Unklaren - was auch daran liegt, dass er selbst nach dem Krieg darüber keine Auskunft mehr geben konnte. Am 17. Januar 1945, nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Budapest, wird Wallenberg unter dem Vorwurf, ein amerikanischer Spion zu sein, vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und nach Moskau gebracht. Dokumente belegen, dass er dort mindestens zwei Jahre im Gefängnis verbracht hat, im Juli 1947 sei er 34-jährig an Herzversagen gestorben, heißt es von sowjetischer Seite später. Sicher ist das nicht. Wann und wie Wallenberg wirklich gestorben ist, darum ranken sich bis heute Gerüchte. Zeugen berichten, sie hätten ihn noch viele Jahre später in russischen Lagern gesehen, doch die Historiker bezweifeln das:

Staffan Carlsson: "Die meisten Forscher sagen, man kann sich nicht auf diese Zeugen, die gesagt haben, dass sie haben von ihm gehört in den 50er Jahren oder später, man kann sich nicht auf diese Zeugen verlassen. Aber wir wissen natürlich, dass er mindestens zweieinhalb Jahre nach seinem Verschwinden noch am Leben war."

Wallenbergs Schicksal nach dem Krieg spielt in der Ausstellung "Mir bleibt keine andere Wahl" kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt soll sein lebensrettendes Handeln stehen, betont der schwedische Botschafter, und die Frage, was wir daraus lernen können.

Staffan Carlsson: "Wir haben immer eine Wahl, und er hat seine Wahl gemacht, und die große Frage ist natürlich, wie würden wir handeln in einer ähnlichen Situation?"

Auch Anja Jahn Günther wünscht sich, dass sich möglichst viele Besucher der Ausstellung diese Frage stellen. Natürlich leben wir heute nicht in einer auch nur annähernd vergleichbaren Situation, betont sie, aber auch für unseren Alltag könne Wallenberg ein Vorbild sein:

" Es ist nicht schwer sich eine alltägliche Situation vorzustellen: Man erlebt etwas auf der Straße, ein hate crime, tu ich was oder schau ich zu, geh ich weg oder bleib ich da? Ich glaube, wir sind mit solchen Situationen oft konfrontiert, zum Beispiel, wenn jemand etwas Abwertendes über eine andere Gruppe oder einem Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung sagt. Sag ich dann: 'Nein, ich bin nicht einverstanden und werde mich an solchen Gesprächen nicht beteiligen', oder lass ich es durchgehen und mach einen Witz über die Situation? Also ich glaube, es ist gar nicht so schwer, Lehren aus dieser Geschichte zu ziehen."

Info: Die Ausstellung ist bis zum 11. November im Berliner Centrum Judaicum zu sehen.

Mehr Informationen auf dradio.de:

- Altruismus als Ausdruck von Ich-Stärke - Michel Terestchenko: "Der dünne Putz der Menschlichkeit"
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