"Wir haben eine Dreiklassenmedizin"

27.08.2011
Stolz sei die Ärzteschaft aber darauf, dass die Qualität der Behandlung dennoch für alle gleich sei, so Montgomery. Der Mediziner ist der Auffassung, dass in Zukunft genauer festgelegt werden muss, welche Leistungen von den Kassen und welche aus eigener Tasche zu bezahlen sind.
Deutschlandradio Kultur: Während die Realeinkommen der Bundesbürger seit Jahren praktisch stagnieren, haben die niedergelassenen Ärzte allein seit 2007 einen Einkommenszuwachs vor Steuern von rund 30 Prozent. Als Präsident der Bundesärztekammer machen Sie sich aber stark für höhere Ärzteeinkommen. Warum muss es denn jetzt noch mehr sein?

Frank Ulrich Montgomery: Wir wissen aus Untersuchungen, die übrigens auch erst vor kurzem in dem Journal "Stern" veröffentlicht wurden, dass die Ärzteschaft in der Zeit davor einen Reallohnverlust in der Dimension von etwa 50 Prozent gehabt hat gegenüber den 60er-, 70er-Jahren. Und wir holen jetzt nur das wieder auf, was wir in der Vergangenheit verloren haben.

Deswegen sage ich, diese 30 Prozent sind in der Tat notwendig gewesen, um Einkommensverluste der Vergangenheit wieder wettzumachen.

Wir müssen daneben aber auch feststellen, dass wir im internationalen Wettbewerb mit anderen Ländern stehen. Und der Arbeitsmarkt für Ärzte ist heute global und die jungen Kolleginnen und Kollegen sprechen alle Englisch oder auch noch andere Sprachen, und sind gesucht in allen Ländern.

Wenn wir diesen Arbeitsmarkt betrachten und wenn wir die Arbeitsbedingungen betrachten, dann stellen wir fest, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen lieber entweder im Ausland arbeiten, oder aber in Deutschland nicht als Arzt, sondern als irgendwas anderes arbeiten, weil ganz offensichtlich die Arbeitsbedingungen, das Arbeitsentgelt und die Arbeitszeit, die man auch verbringen muss, zusammen nicht stimmen, um diesen Beruf materiell attraktiv zu machen für die Kollegen.

Deutschlandradio Kultur: Womit wir bei Ihrer zweiten Kernforderung wären, den Arbeitsbedingungen. Das Stichwort haben Sie schon genannt. Was soll sich denn da für Klinikärzte einerseits und niedergelassene Ärzte andererseits nach Ihren Vorstellungen ändern.

Montgomery: Nun, bei den Arbeitsbedingungen müssen wir erstens die Arbeitszeit insgesamt runterbringen. Ärzte arbeiten immer noch zu viel in Deutschland, und zwar sowohl in der Praxis wie in der Klinik. Die von der EU vorgesehene 48-Stunden-Woche ist für viele Ärzte noch weit in der Ferne.
Obwohl, hier hat sich seit 2005 einiges getan. Es ist besser geworden. Das muss man auch fairerweise zugeben.

Aber es geht nicht nur um Arbeitszeit, sondern bei den Bedingungen geht es auch um den Umgang miteinander. Zum Beispiel ist das Verhältnis von Pflegeberufen und Ärzten in einem englischen Krankenhaus, in einem skandinavischen Krankenhaus sehr viel mehr davon geprägt, dass man dem Arzt als Leistungsträger zuarbeitet, dass man ihn tun lässt und nicht erwartet, dass der Arzt die halbe Verwaltung nebenher mit erledigt, dass er das Bestell- und Einkaufsverfahren mit regelt, dass er Röntgenbilder holt, dass er Befunde absortiert oder auch noch gar diktiert oder selber schreibt. Das gibt es in diesen Krankenhäusern nicht.

Also, wir müssen etwas an dem Verhältnis der einzelnen Berufsgruppen im Krankenhaus und ähnlich auch in der Praxis zueinander tun.

Deutschlandradio Kultur: Vor 20 Jahren hieß es, in Deutschland haben wir eine Ärzteschwemme. Inzwischen haben wir 50 Prozent mehr niedergelassene Ärzte, und die Rede ist von Ärztemangel. Wie passt das zusammen?

Montgomery: Es hat einen immensen Zuwachs von Möglichkeiten in der Medizin gegeben, der naturgemäß auch mehr Köpfe brauchte, um ihn zu bewältigen. Also, wir brauchen mehr Ärzte, um diese moderne Medizin bewältigen zu können. Zweitens, wir haben neue Arbeitszeiten, neue Arbeitsformen. Wir sprachen eben schon vom Arbeitszeitgesetz. Es hat ja die Arbeitszeiten der Ärzte im Krankenhaus runter gebracht. Das bedeutet, man muss die gleiche Arbeit mit mehr Köpfen machen.

Aber, drittens, gibt es einen sehr positiven Strukturwandel in der Medizin. Die war in den 60er-, 70er-Jahren fast ausschließlich ein Männerfach, von Männern, die bereit waren, 80 bis 120 Stunden in der Woche zu arbeiten und ihr gesamtes Familienleben und alles hintan zu stellen. Die Medizin wird zunehmend weiblicher und das tut ihr ausgesprochen gut.

Frauen wollen mehr Teilzeitarbeitsplätze. Frauen sind nicht bereit, so viel Arbeitszeit ihrem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Denn – aus welchen Gründen auch immer, ich möchte das hier wirklich nicht kommentieren...

Deutschlandradio Kultur: Und die Männer wollen auch nicht mehr 80 bis 120 arbeiten…

Montgomery: Und die Männer ändern sich auch, und das ist ja auch gut, weil 80 bis 100 Stunden Arbeit sind auch nicht gut. Das heißt, wir erleben hier einen strukturellen Gesellschaftswandel bei der jüngeren Generation, die nicht mehr bereit ist, so apodiktisch immer Tag und Nacht zu arbeiten wie früher.

Das hat ein Soziologe mal etwa so zusammengefasst: Die Generation der 70er-, 80er-, in der ich ja auch noch sozialisiert wurde, studiert habe und dann angefangen hab' zu arbeiten -, lebte eigentlich nur, um zu arbeiten. Und dann gab es in den 80er-, 90er-Jahren diese Generation X. Die arbeitete, um zu leben. Und die heutige Generation macht es eigentlich völlig richtig. Die wollen beim Arbeiten auch leben. Und das finde ich richtig. Das finde ich gut. Das müssen wir unterstützen.

Und das führt nun wiederum dazu, das können wir übrigens in Statistiken der Bundesärztekammer beweisen, dass mehr Köpfe in Krankenhaus und Praxis – zum Beispiel insgesamt für den Zeitraum 2000 bis 2007 6,9 Prozent Ärzte, die wir registriert haben – gleichwohl insgesamt 1,3 Prozent weniger Arbeitszeit zur Verfügung stellen, weil sie halt diesen sozialen Wandel inzwischen durchgemacht haben.

Und so wird ein Schuh draus, dass wir auf der einen Seite immer mehr Ärzte haben und trotzdem Ärztemangel, nicht Ärzteüberschuss.

Deutschlandradio Kultur: Es ist ja allgemein bekannt: Im Prinzip haben wir zu viele Ärzte in den Städten, in den Ballungsgebieten, und zu wenig Ärzte auf dem Land. Sie haben jetzt dieser Tage einen eigenen Vorschlag gemacht, wie man den Ärztemangel außerhalb der Ballungsgebiete bekämpfen sollte, nämlich Medizinstudenten aufs Land schicken. Was schwebt Ihnen da konkret vor?

Montgomery: Ich glaube, wenn es uns gelingt, schon Medizinstudenten, indem sie die Chance erhalten – wohlgemerkt, nicht den Zwang, aber die Chance – mal vier Wochen in einer Landarztpraxis zu famulieren, zu hospitieren, dabei zu sein und wir das unterstützen und wir das moderieren. Ich glaube, dass dann ganz viele merken, was für eine spannende Herausforderung und schöne Tätigkeit das auch sein kann. Ich glaube, man muss die Schwellenangst der jungen Leute überwinden vor der Tätigkeit auf dem Land.

Denn sehen Sie mal: Wer in der Stadt studiert hat, eventuell sogar in der Stadt aufgewachsen ist, dann seine Weiterbildung in einem städtischen Krankenhaus durchlaufen hat, einen Partner gefunden hat, der auch einen Job haben will, dann vielleicht für seine Kinder schon eine Schulbildung, die der seinen entspricht, haben will, der hat eine immense Schwelle davor, sich in "Klein-Kleckersdorf" oder "Hinterpuhvogel" niederzulassen, weil er einfach Sorge hat, dass er seinen Lebensstandard nicht halten kann.

Dem muss ich irgendwie entgegenkommen und übrigens gar nicht mal nur mit Mitteln der Gesundheitspolitik. Da ist auch Infrastrukturpolitik und Kommunalpolitik gefordert.

Wir müssen eben dafür sorgen, dass diese jungen Kolleginnen und Kollegen einen Job für ihren Partner finden, dass sie mehr Lebensqualität finden, dass die Kinder eine anständige Ausbildung bekommen können etc. Und da sind wir aber auf einem guten Weg. Und in dem Versorgungsstrukturgesetz, was im Moment in der Debatte ist, finden Sie auch eine ganze Reihe von Anreizen, die das befördern sollen.

Deutschlandradio Kultur: Versorgungsstrukturgesetz ist sozusagen das nächste Stichwort. Das steht ja jetzt gerade in Rede. Noch ist es nicht in Gesetzesform gegossen. Es soll kommen, von Gesundheitsminister Daniel Bahr angeregt.

Nun wird von der Kritik gesagt -, und das kann ich sehr gut nachvollziehen, Sie möglicherweise nicht -, das rein rechnerisch Naheliegende wird nicht getan, nämlich die Ärzte auf dem Land zu unterstützen, was Geld kostet, und dafür halt in den Ballungsgebieten die Überversorgung abzubauen, also da wieder einzusparen. Genau das hat Daniel Bahr aber nicht vor. Und nun entstehen Mehrkosten im dreistelligen Millionenbereich. Die Kassen sagen sogar, bis zu einer Milliarde.

Kritiker sprechen schon von einem so genannten "Ärzteversorgungsgesetz". Ist das eine Frucht auch Ihrer Lobbyarbeit?

Montgomery: Wir haben an dem Gesetz an vielen Punkten mitgewirkt. Wir haben auch Vorarbeiten geleistet. Das ist aber ganz normal in Gesetzen. Und ein "Ärztebeglückungsgesetz" ist es deswegen noch lange nicht geworden.

Aber, um auf Ihre Eingangsbemerkung über die Überversorgung in der Stadt zu kommen: Gehen Sie doch mal hin und erzählen Sie einem Patienten, der ein halbes Jahr auf einen Termin beim Neurologen oder beim Augenarzt warten muss, dass es eine Überversorgung in der Stadt gäbe.

Ich glaube, wir machen uns hier etwas vor. Die Überversorgung in der Stadt entsteht dadurch, dass unsere Bedarfsplanungsräume, auf die wir die fachärztliche Versorgung berechnen, immer nur die politisch gewählten Grenzen berücksichtigen und deswegen eine relative Überversorgung konstruieren, wo gar keine ist.

Das will ich Ihnen jetzt mal versuchen zu erklären: Ich komme aus Hamburg. Die Bedarfsplanung für die niedergelassenen Ärzte bezieht sich auf 1,8 Millionen Hamburger Einwohner und vergisst völlig, dass wir zusammen mit dem Speckgürtel um Hamburg herum etwa 4 Millionen Menschen versorgen mit der fachärztlichen Versorgung.

Und so kommt es dann, dass diese Menschen aus dem Umland, die gehen ja nicht wegen der allgemeinärztlichen Versorgung, wegen der hausärztlichen Versorgung in die Stadt, die haben sie wohl vor Ort, das ist in Ordnung, aber sie gehen wegen der fachärztlichen Versorgung da hin. Und so kommt es, dass wir einen theoretischen Überversorgungsgrad in den Großstädten haben, der aber gleichzeitig sich bei den Patienten nicht in schnellen Terminen auswirkt, sondern eher im Gegenteil, weil nämlich das gesamte Umland mit versorgt werden muss.

Wir haben deswegen übrigens gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vorgeschlagen, eine kleinräumigere, mehr wirklich auf den Versorgungsbedarf bezogene sektorenübergreifende Bedarfsplanung in dieses Gesetz mit zu installieren. In Ansätzen ist das mit drin. Wir hoffen, dass wir das mit den Ländern hinterher gemeinsam umsetzen können, weil, das würde dann auch wieder konkret Patienten helfen. Und es ist viel sinnvoller, mit konkreten Modellen zu versuchen hier zu helfen, als mit irgendwelchen abstrakten Gesetzen.

Deutschlandradio Kultur: Für den Durchschnittspatienten, auch das haben Sie schon angesprochen, sieht es auch oft so aus -, sofern er denn Kassenpatient ist -, er muss lange warten auf den Termin, auch möglicherweise bis er dann, wenn er in der Praxis sitzt, wirklich dran kommt. Und dann hat der Arzt für ihn in der Regel doch nur relativ wenig Zeit. Das ist gerade für ältere Menschen, und damit für die Hauptklientel in deutschen Arztpraxen, oftmals wirklich eine Zumutung. Ginge das nicht auch anders?

Montgomery: Ich glaube, das Dilemma ist, dass in den Städten wirklich die Arztdichte eben immer noch in den spezialisierten Facharztdisziplinen zu niedrig ist und ich es dem Arzt andererseits aber auch nicht verdenken kann, wenn er in einem pauschalierten Abrechnungssystem eben nicht nach seiner Leistung vergütet wird, sondern nach einer Pauschale, dass er dann versuchen muss, auf diese Art und Weise, eben durch einen schnelleren Umsatz von mehr Patienten, wieder auf seine Kosten zu kommen.

Dass er darüber hinaus aber auch einen Privatpatienten schneller behandelt, ist auch völlig natürlich, weil die Private Krankenversicherung mehr bezahlt für die Einzelbehandlung als die Gesetzliche Krankenversicherung. Und hier greift auch wiederum das Prinzip des Wettbewerbs. Und da wundere ich mich immer über die anklagende Haltung der Politik, die offensichtlich verkennt, dass sie uns selbst in den Wettbewerb gestellt hat – gegen unseren Willen – und sich jetzt wundert darüber, dass wir die Prinzipien des Wettbewerbs anwenden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Montgomery, haben Sie Verständnis für Kollegen, die gegen Ende eines Quartals ihre Praxis schließen mit der Begründung, nun sei der Honorarrahmen ausgeschöpft, die Arbeit rechne sich nicht mehr? Oder haben Sie auch Verständnis für Kollegen, die sagen, ich mache nur noch die Behandlung von Privatpatienten, das andere bringt es nicht?

Montgomery: Es ist das Recht eines jedes Kollegen, seine Kassenzulassung zurückzugeben und nur noch Privatpatienten zu behandeln. Mit einem zunehmenden Anteil an Privatpatienten kann sich das durchaus rechnen. Das Problem bleibt dann bei den Krankenkassen, aber vor allem den Kassenärztlichen Vereinigungen, wie sie die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung aufrechterhalten.

In manchen Feldern kann ich das verstehen, dass Kollegen nur noch Privatpatienten behandeln wollen, weil die Vergütung, die für die Behandlung dieser oft komplexen Krankheitsbilder ausgelobt wird, einfach zu niedrig ist.
Problematischer ist, wenn ein Kollege zum Ende des Quartals mit der Begründung, jetzt sei sein Budget zu Ende, die Praxis schließt. Wenn er es mit dieser Begründung tut, dann muss er sich fragen, ob er denn seinen Vertrag, den er ja mit den Kassen, mit der Kassenärztlichen Vereinigung abgeschlossen hat, da noch erfüllt.

Deutschlandradio Kultur: Muss er sich nicht auch fragen, ob er das gegenüber den Patienten verantworten kann?

Montgomery: Absolut. Davon gehe ich immer aus. Ich meine, Sie haben selber vorhin von einer Überversorgung gesprochen. Dann hat der Patient ja durchaus auch die Chance, sich von einem anderen Arzt behandeln zu lassen.

Deutschlandradio Kultur: Überversorgung in bestimmten Ballungsgebieten, nicht überall.

Montgomery: Mir ist ja bisher nicht bekannt geworden, dass Patienten deswegen wirklich zu Schaden gekommen wären, oder dass es hier Fälle gibt.

Nur, ich sage immer: Da würde ich jedem Kollegen immer raten, achte auf deine vertragsärztlichen Pflichten. Nur, wissen Sie, Herr Steinhage, dass wir überhaupt über diese Art des Handelns diskutieren müssen, hängt ja mit einem wirklich von der Politik oktroyierten verkorksten Vergütungssystem, was auf Pauschalen, auf Budgets abhebt, zusammen.

Und wir sollten eher konstruktiv versuchen, ob wir nicht diesen Knoten durchhauen können und ein Vergütungssystem konstruieren können, in dem erstens diese Systematik nicht eintritt, dass der Kollege glaubt, nach zwei Monaten sei sein Budget schon zu Ende, und in dem zweitens auch eine höhere Zufriedenheit von Ärzten und Patienten in dem System generiert wird.

Deutschlandradio Kultur: Aber dann würde man zu Recht, zum Beispiel bei Ihnen in Hamburg sagen, das wird ein bisschen teuer.

Montgomery: Ja, das wird teuer. Aber wir müssen der Bevölkerung schlicht und einfach sagen, der medizinische Fortschritt in einer ja Gott sei dank weiter an Alter zunehmenden Gesellschaft ist nicht zum Nulltarif zu haben.

Wenn ich gerade heute mal wieder festgestellt habe, dass wir zum Beispiel die Verweildauer im Krankenhaus halbiert haben, dass wir immer mehr Fälle trotzdem im Krankenhaus haben, 25 Prozent mehr Fälle, wenn wir da gleichzeitig ein Drittel der Krankenhausbetten geschlossen haben und 20 Prozent der Krankenhäuser einfach dicht gemacht haben, dann haben wir hier einen immensen Leistungszuwachs, eine Arbeitsverdichtung. Wir können unendlich viel mehr in einer Zeiteinheit. Und die Leute werden älter. Den Menschen geht es besser, die Lebensqualität der Menschen steigt. Das ist nicht alles zu den Tarifen von 1980/1990 zu haben.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben in Deutschland "pi mal Daumen" 10 Millionen Privatpatienten, 70 Millionen Kassenpatienten. Unter denen gibt’s dann wieder viele, die sich Zusatzversicherungen leisten können.

Montgomery: … 31Millionen Zusatzversicherungen insgesamt bei der Privaten Krankenversicherung.

Deutschlandradio Kultur: Was sagen Sie: Haben wir da schon eine Zweiklassenmedizin, vielleicht sogar Dreiklassenmedizin?

Montgomery: Also, wir haben mit Sicherheit eine Dreiklassenmedizin, wenn nicht noch mehr. Das, worauf wir als Ärzte stolz sind, ist, dass die Qualität der Behandlung immer die gleiche ist. Also, wir haben bisher noch nicht gehört, dass Privatpatienten qualitativ besser behandelt werden als gesetzlich versicherte Patienten. Aber der Komfort, die Geschwindigkeit, in der das abläuft, die Schnelligkeit, einen Termin zu bekommen, auch die Zeitaufwendung, die man zum Beispiel hat, um mit seinem Arzt zu sprechen, die sind in der Privaten Krankenversicherung sicherlich besser als in der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Und hier hat die Gesetzliche Krankenversicherung auch einen erheblichen Nachholbedarf, indem sie auch durch entsprechende Finanzierungsmodelle und Entlohnungsmodelle für Ärzte eben auch die sprechende Medizin besser bewertet, wie es die Private Krankenversicherung heute tut.

Deutschlandradio Kultur: Ihr Amtsvorgänger Jörg-Dietrich Hoppe hat über Jahre hinweg einer Ranglistenmedizin das Wort geredet, Begründung, jetzt mit meinen Worten: Weil die Geldmittel immer knapper werden, die Zahl der Kranken aber immer größer und der medizinische Fortschritt ständig teurer müsse überlegt werden, ob noch jeder Kranke künftig die bestmögliche Therapie bekommen könne. Sie haben sich ebenfalls für diese so genannte Priorisierung ausgesprochen. Warum?

Montgomery: Weil es eben nicht darum geht, ob noch jeder Kranke die bestmögliche Therapie bekommt. Die soll natürlich jeder Kranke bekommen. Aber wir wissen einfach, dass in unserem Gesundheitssystem heute – Sie haben das selber eben schon auch angesprochen – implizit rationalisiert wird, indirekt rationiert wird dadurch, dass am Ende eines Quartals Leistungen einfach nicht zur Verfügung gestellt und verschoben werden. Das ist ja eine Form der Rationierung aus Sicht des Patienten.

Das ist intellektuell eigentlich nicht begründbar und ist auch nicht vernünftig. Und deswegen sagen wir: Bevor nun diese rein zufällige Rationierung - weil Sie zu einem Arzt gehen, der halt den letzten Monat im Quartal zumacht -, diese rein zufällige Rationierung, die wollen wir durch einen von der Gesellschaft getragenen intelligenten Prozess ersetzen, indem wir zu allererst mal definieren, was sind genau die Leistungen, die von ihrer Wertigkeit so unabdingbar sind, dass sie immer und für jeden Kranken und zu jeder Zeit bezahlt werden müssen. Das sind natürlich die ganz großen Leistungen der Medizin. Ich denke jetzt an Dinge wie Krebsbehandlung…

Deutschlandradio Kultur: …lebensrettende Maßnahmen.

Montgomery: Aber wenn wir ganz ehrlich sind, gibt es auch in der Medizin Eingriffe, die von ihrer Wertigkeit durchaus Zeit haben, ohne die Lebensqualität eines Patienten extrem beeinträchtigen zu müssen. Ich denke da zum Beispiel an so Dinge wie Linsenkorrekturen, wo man auch mit einer Brille hinkommt, oder ähnliches.

Und es gibt auch Dinge in unserem Gesundheitssystem, da werden wir auf Dauer mal darüber diskutieren müssen, ob wir die uns alle leisten können.

Auch hier will ich Ihnen mit einem Beispiel dienen. Wir haben vor etwa 20 Jahren die Brille auf Krankenschein abgeschafft, weil wir gesagt haben, das kann sich unser Versorgungssystem nicht mehr leisten. Und eine Brille braucht jeder. Wenn ich mich so im Raum umgucke, stimmt das.

Deutschlandradio Kultur: Und wenn ich das anfügen darf: Rentner mit kleinem Einkommen haben 600 Euro netto im Monat, und eine Brille kann auch schon mal schnell 600 Euro kosten.

Montgomery: Ja, ich persönlich kaufe meine Brillen deutlich preisgünstiger – aber ich mache jetzt hier keine Werbung für einen Optiker.

Ich glaube, auch bei einer Brille, das trifft jeden im Leben und mehr oder weniger unweigerlich, da kann man Vorsorge tragen. Und unsere Gesellschaft ist doch deswegen nicht blinder geworden, weil wir damals die Zahlungspflicht für Brillen aus der gesetzlichen Krankenversicherung rausgenommen haben. War übrigens eine klassische Priorisierungsmaßnahme, ohne dass das irgendjemand jemals so formuliert hätte.

Und deswegen glaube ich, dass der Weg gut ist. Weil, eines wollen wir verhindern: Dass wir als Ärzte alleine entscheiden müssen wegen fehlender Geldmittel, was jetzt gemacht wird und was nicht gemacht wird. Wenn es wegen fehlender Geldmittel ist, dann muss das die Gesellschaft entscheiden in einem intellektuell geleiteten Prozess, in dem die Politik ihre Verantwortung mit übernimmt, indem sie sagt, wie viel Geld sie dafür bereit ist zur Verfügung zu stellen, indem uns Ethiker, Juristen, aber auch Ärzte, also Leistungserbringer, beraten, was geht, was nicht geht.

Das klingt alles jetzt so schrecklich kompliziert und als ob am nächsten Tag dann die Operationssäle geschlossen würden. So ist das ja nicht. Schauen Sie in die skandinavischen Länder. Zum Beispiel Schweden hat ein seit 15 Jahren laufendes Priorisierungsprogramm, in dem sich jedes neue Verfahren zum Beispiel stellen muss, ob es von der Priorität, von der Wertigkeit her wirklich sinnvoll in die Versicherung integriert wird oder nicht.

Bei uns hat ja spannender Weise Ulla Schmidt sofort reflexhaft, wie auf alles, was von der Ärzteschaft kam, reagiert und das Verfahren vehement abgelehnt.

Deutschlandradio Kultur: Daniel Bahr, der FDP-Minister hat es auf dem Ärztetag auch abgelehnt. Und ich darf erinnern an den Politiker Philipp Missfelder, der in jugendlichem Leichtsinn davon sprach, ob Opa mit 85 noch eine neue Hüfte braucht. Das würde er heute nicht mehr machen, denn es hat ihm sehr geschadet.

Deswegen auch meine Frage: Glauben Sie wirklich, die Politik wird sich auf diese Priorisierungsdebatte tatsächlich einlassen?

Montgomery: Aber sie tut es ja schon. Wenn Sie mich eben hätten ausreden lassen, hätte ich das zu Ende führen können.

Ulla Schmidt hat ja wenige Tage, nachdem sie die Priorisierung verdammt hat, selber priorisiert. Denn sie hat gesagt: Der Schweinegrippeimpfstoff, den wir jetzt für die Bevölkerung sukzessive und nicht auf einmal zur Verfügung stellen können, der Schweinegrippeimpfstoff wird zuerst Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sowie Kranken und Schwangeren zur Verfügung gestellt und dann erst allen anderen. Das ist eine klassische Priorisierungsmaßnahme dann, wenn es nicht auf den ersten Schlag für alle im gleichen Maße reicht.

So, jetzt zu der Frage, ob die Politik sich darauf einlässt: Ich glaube, der Politik wird gar nichts anderes übrig bleiben. Die heutigen Reflexe, die aus dem Lagerdenken zwischen den Parteien kommen und aus dem ja immer noch, im Moment gerade sogar relativ gut gefüllten Gesundheitsfonds, das wird spätestens dann, wenn die Mittel wieder knapp werden, einer gewissen Rationalität weichen. Und dann wird die Politik sich mit uns auf die Priorisierungsdebatte einlassen müssen.

Ich finde es dann immer schade, dass es nur dann gemacht werden kann, wenn die Mittel schon knapp sind und wenn die Hütte schon brennt. Ich würde es sehr begrüßen, wenn man so was machen könnte in der Zeit, wo man darüber nachdenken kann.

Deutschlandradio Kultur: Herr Dr. Montgomery, wir haben in dieser knappen halben Stunde ausschließlich über Fragen logischerweise der Gesundheitspolitik gesprochen und fast immer ging es dabei - oder eigentlich die ganze Zeit ging es dabei - auch um Geld. Das ist sozusagen den Umständen geschuldet.

Haben Sie sich eigentlich zu Beginn Ihrer Laufbahn als Arzt oder als Arztfunktionär vorstellen können, dass sich im Gesundheitswesen einmal fast alles um die Frage der Finanzierung drehen würde? Oder war das nie anders?

Montgomery: Ich stamme aus einem alten Arzthaushalt. Bei mir zu Hause - mütterlicherseits waren alle Ärzte. Deswegen hat hier schon eine Verschiebung stattgefunden. Ich erinnere mich nicht, dass wir in meiner Jugend am Essenstisch so viel über Geld geredet haben wie heute.

Ich sage es noch mal. Politik hat uns ja in ökonomisch begründete Kriterien gestellt. Mein Großvater und meine Mutter kannten nicht eine Debatte mit der gesetzlichen Krankenversicherung über Budgets oder über die gesamten der Bevölkerung zur Verfügung gestellten Mittel. So wurde die Debatte damals nicht geführt. Die kannten aber auch keinen Wettbewerb. Und die Stellung des Arztes war sozial eine noch deutlich herausgehobenere als heute.

In dem Moment, in dem die Politik geglaubt hat, über einen Wettbewerb auch die Qualitätsfragen und die Leistungsfragen in der Medizin regeln zu können, hat sie gut ausgebildete, hochqualifizierte Menschen in ein Wettbewerbssystem gestellt. Und sie wundert sich jetzt heute, dass diese Menschen dieses Wettbewerbssystem bedienen und beherrschen.

Insofern erfüllt sich hier nur eine Prophezeiung, die wir damals gemacht haben, indem wir gesagt haben: Seid vorsichtig, ob ihr das Gesundheitswesen wirklich mit Wettbewerbsideen überziehen könnt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie Wettbewerbsideen ablehnen, das klang jetzt mehrfach an, was wäre denn die Alternative?

Montgomery: Die Alternative wäre zum Beispiel, über eine Priorisierungsdebatte, über eine Frage, was ist der gesetzliche Leistungskatalog, den nicht die Ärzte führen, sondern den auch Gesellschaft führt, über fair ausgehandelte Preise und fair ausgehandelte Bedingungen der Leistungserbringer, dass man dann in Verträgen zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen zu guten Leistungsbedingungen käme – so, wie es übrigens mal in der Vergangenheit war.

Deutschlandradio Kultur: Was aber implizit bedeuten würde, die Bereitschaft eben auch der Bevölkerung, mehr für die eigene Gesundheit auszugeben.

Montgomery: Die Bereitschaft der Bevölkerung, mehr für die eigene Gesundheit auszugeben, ist ja größer als die Bereitschaft der Arbeitgeber, ihren Teil hier mit beizutragen. Das erleben wir bei allen Umfragen.

Ich glaube, Menschen geben ja sehr viel mehr Geld für Gesundheit aus, als es der Haushalt der Gesetzlichen Krankenversicherung abbildet. Und ich glaube, wenn man hier zu einer vernünftigen Debatte käme und endlich mal aufhören würde, in den Menschen die Illusion zu erwecken, dass man aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung alles und auf alle Zeit würde bezahlen können, und jeden auch mehr an Eigenverantwortung erinnern könnte, auch sagen könnte, was er selber beitragen könnte dazu - ich denke zum Beispiel an ungesunde Lebensformen, an Prävention, die wir mehr betreiben müssen -, wenn das gelänge, dann würden wir auch die Kostendebatte in der gesetzlichen Krankenversicherung etwas entspannter führen können.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.