"Wir haben ein Biest in uns"

Ang Lee im Gespräch mit Susanne Burg · 23.12.2012
Bei seiner Weltpremiere auf dem New Yorker Filmfestival hat Ang Lees neuer Film wahre Jubelstürme ausgelöst. Warum "Life of Pi" eigentlich als unverfilmbar galt und warum er seine Zuschauer gerne zu Tränen rührt - der Filmemacher gibt die Antworten.
Susanne Burg: Ang Lee, der Roman von Yann Martel ist ein Buch, in dem wenig passiert, aber viel geschieht. Vieles findet in der Gedankenwelt von Pi statt, deswegen galt das Buch auch als unverfilmbar. Sie sind bekannt dafür, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Was hat Sie daran gereizt?

Ang Lee: Nun, es ist ein faszinierendes Buch, wie wir alle wissen, und das Schwierige war natürlich, dass es ja eine Gedankenwelt gibt, die nicht aktiv ist. Es gibt keine Dialoge in diesem Buch, und es ist eine Reise über den Pazifischen Ozean mit einem Tiger und einem Menschen, und es gibt keine Hollywoodstars, wie zum Beispiel Tom Hanks, die dort die Hauptrolle übernehmen konnten.

Es sah also nach einem sehr unfreundlichen Filmprojekt zunächst aus. Nur als man mich dann gefragt hat, da ging gleich etwas los bei mir, da sprangen mir gleich gewisse Gedanken in den Kopf, und es war natürlich eine große Herausforderung für mich, das weckte mein Interesse, und ich versuchte natürlich auch, das Enigma etwas aufzubrechen von dieser Geschichte. Und das verlangt natürlich nach Kreativität, es verlangt natürlich nach der Fantasie des Zuschauers, da eine Geschichte zu erzählen, und es geht natürlich auch um den Glauben.

Es ist auch wichtig, so eine Geschichte erst einmal anzunehmen und diesen Sprung ins Ungewisse als Filmemacher zu wagen. Und ich sehe mich ja auch als ein Geschichtenerzähler und habe mir dann irgendwie gedacht, man müsste die Geschichte von Pi aus der heutigen Zeit erzählen, aus der Sicht des Pi, wie er heute ist, und die zweite Chance, die ich sah, war, das in 3D zu erzählen. Weil wenn man eine neue Dimension dieser Geschichte hinzufügt - dachte ich mir - dann könnte es klappen, dann dringt man in diese Welt von Pi auch wirklich ein, in seine Erfahrungswelten. es war dann also so, dass mir gleich sehr viele Gedanken durch den Kopf schossen.

Burg: Der größte Teil des Filmes spielt ja wirklich auf dem Boot, und es ist viel Interaktion zwischen Pi und dem Tiger Richard Parker. Pi weiß, dass der Tiger sein Feind ist, aber sie sind im Boot aneinander geschweißt, viele, viele Monate lang. Manchmal hat man das Gefühl, einem alten Ehepaar beizuwohnen, das einen inneren Kleinkrieg austrägt auf dem Boot. Ist der Film in gewisser Weise auch ein Beziehungsdrama?

Lee: Ja, irgendwie schon, aber ist es jetzt eine Heirat? Eher nicht, es ist schon eine Form von Beziehung, aber es besteht zwischen beiden keine wirkliche Freundschaft, hier entsteht keine Romanze, weil Pi liebt den Tiger, aber es ist eine sehr einseitige Liebe, das wird von dem Tiger nicht wirklich erwidert. Beide sind aber natürlich Gefährten. Nun sind Tiere emotional einfach anders gestrickt, sie sind nicht verrückt, es geht hier gerade auch um den Überlebensinstinkt des Tigers, und er wird gesehen wie eine Reflexion von Pis Fantasie. Ich glaube schon, dass auch der Tiger Emotionen hat, aber es sind eben keine menschlichen Gefühle.

Burg: Sie haben ja schon gesagt, es ist eine Beziehung, wenn auch die Liebe sozusagen unbeantwortet bleibt vom Tiger. Diese Beziehung, die sie haben, ist ja sehr gefährlich, und in gewisser Weise habe ich gedacht an einen anderen Film, den Sie gedreht haben, die Amour fou zwischen Spionin und Kollaborateur in dem von Japanern besetzten Shanghai der 40er Jahre, und zwar in "Gefahr und Begierde". Ich habe auch gelesen, dass Sie Tony Leung in "Gefahr und Begierde" gesagt haben, er soll beim Sex zwei Tiere imitieren, Wolf und eine Maus. Insofern habe ich mich gefragt, ob es nicht auch was Fabelhaftes in beiden Filmen gibt.

Lee: Ja, es geht hier um eine Fabel, und das ist ganz klar: Der Tiger, das ist Pi, allerdings ist das eine eher mentale Fabel. Natürlich, irgendwie haben wir animalische Instinkte, das ist das Intuitive, das sind unsere Impulse, das ist sozusagen das Tierische, das Animalische in uns, auch das Unbewusste, und das steht manchmal im Kontrast zu unserer Menschlichkeit. Aber wir haben ein Biest in uns, einen Tiger, einen Wolf, oder auch eine Maus. Und was Tony Leungs Charakter in "Gefahr und Begierde" betrifft – am Anfang ist er ein Raubtier, aber durch den Sex wird er langsam zu einer Maus.

Burg: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Ang Lee über seinen neuen Film "Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger". Ang Lee, die Rolle des Pi Patel hat ein 17-jähriger Teenager aus Indien übernommen, Suraj Sharma, der vorher gar nichts mit Film zu tun hatte, und seine Mutter machte Sie, Ang Lee, zum Guru, zum Berater ihres Sohnes während der Dreharbeiten. Wie sind Sie mit dieser Verantwortung umgegangen? Es war ja auch harte Arbeit für Suraj Sharma, er hat unter anderem ein Überlebenstraining auf hoher See absolviert.

Lee: Nun, es ist meine Aufgabe als erfahrener Regisseur, jemanden wie ihn dann auch zu schützen, anzuleiten, ihm ein Erklärer zu sein. Das ist die natürliche Aufgabe eines Filmemachers, eines Regisseurs, und er trägt ja den Film, er ist mein Hauptdarsteller. Es war schon so, als die Familie dann auf mich zukam und sagte, so, hier ist unser Sohn, passen Sie gut auf ihn auf, da war ich zuerst leicht geschockt, aber irgendwie natürlich auch sehr gerührt. Aber natürlich wollte ich ein gutes Beispiel abgeben, ich habe meine Aufgabe sehr ernst genommen und habe auch keine Witze mehr gemacht.

Und es ist etwas sehr Natürliches, Filme zu machen, der Prozess des Regieführens hat etwas sehr Natürliches. Und natürlich möchte ich dann auch, dass er, dieser junge Schauspieler, ein guter Mensch bleibt, bodenständig bleibt, dass er etwas lernt und dass es für ihn eine positive Erfahrung ist, und dass er nicht verwöhnt wird von dieser ganzen Erfahrung. Insofern bin ich dann auch immer ein Guru geblieben und habe ihn auch so ein bisschen gedrillt. Aber er ist wirklich ein ganz großartiger Junge, ein wahnsinniges Talent. Wir haben die letzten drei Monate der Dreharbeiten wirklich nur noch ihn gefilmt. Er musste ja auch Gewicht abnehmen in diesen Szenen, deswegen haben wir das auch chronologisch gedreht. Und er hat diese ganzen Herausforderungen wunderbar bewältigt und hat sich dann auch wirklich als Pi verstanden und wurde auch zu so einem spirituellen Führer für uns alle.

Burg: Abgesehen von der väterlichen Rolle beim Dreh, die Sie eben ausgeführt haben – in vielen Ihrer Filme arbeiten sich die Protagonisten selber auch an ihren Vätern ab. In "Eissturm" zum Beispiel hat der Familienvater eine Affäre mit der Nachbarin, "Hulk" hat gesehen, wie sein Vater seine Mutter umbrachte, bei "Life of Pi" muss der Junge ohne den Vater überleben – im hintersten Winkel lauert in Ihren Filmen immer der Vater. Woher kommt das?

Lee: Da steckt natürlich mein eigener Vater dahinter, das ist ja ganz offensichtlich. Er ist übrigens vor fünf Jahren gestorben, und insofern, diese Vater-Sohn-Beziehung, die habe ich dann ein bisschen auch bei diesem Film weiter ausgelebt. Es ist ja eine ganz besondere Dynamik in dieser Form der Auseinandersetzung, da spielen ganz viele Dinge eine Rolle, es geht einmal darum, du musst deinen alten Mann irgendwann auch vom Sockel stürzen, es ist ein Überlebenskampf, es geht auch um Territorien, um einen Territorialkampf. Es geht darum, Wissen weiterzugeben. Aber es gibt eben auch in diesen Männerbeziehungen zwischen Vater und Sohn, geht es auch immer um Machotum, es geht um Gewalt, es geht um das innere Tier in dir selbst, und natürlich spielt Liebe auch eine ganz große Rolle. Diese Vaterrolle, die dann immer wieder in meinen Dramen auftaucht, das ist natürlich etwas, was mir nicht immer bewusst ist, was aber irgendwo etwas ist, was sich für das Drama als Stoff sehr gut eignet.

Burg: Außerdem, was auch immer wieder vorkommt in Ihren Filmen, sind große Gefühle, die Liebe, die Sehnsucht, die Leidenschaft, große, melodramatische Themen – man denke etwa an "Brokeback Mountain", ich kenne kaum jemanden, der nicht bitter geweint hat im Kino, ein ganz großes Melodram. In Deutschland haben viele Regisseure Angst vor dem ganz großen Gefühl im Film. Diese Regisseure haben eben Angst, kitschig zu werden. Wie ist es bei Ihnen, wie entgehen Sie dem Kitsch, haben Sie ein Kitschwarnsystem?

Lee: Sicher habe ich da auch ein gewisses Rezept, das läuft meistens über meinen Cutter, über meinen Produzenten, die manchmal einfach sagen: So, das ist jetzt wirklich zu viel. Aber im Allgemeinen ist es so, ein Zuschauer geht ja ins Kino, um eine emotionale Reise zu unternehmen. Und das Melodrama ist für mich einfach auch ein Werkzeug, um Gefühle auszudrücken.

Nun gibt es natürlich eine Form der Koexistenz im Kino zwischen den Gefühlen, zwischen dem Melodrama, zwischen dem Herz und dem Intellekt, aber bei mir ist es einfach so, dass ich mit dem Melodrama aufgewachsen bin. Als Kind habe ich sehr schnell im Kino geweint, und einmal habe ich so doll geheult, dass sich die ganze Reihe vor mir umgedreht hat und mich ausgelacht hat: Was ist denn das für ein Kind, was da heult? Und mir war es einerseits peinlich, andererseits habe ich aber weitergeheult.

Und was ein gutes Modell für mich war, als ich ein junger Filmemacher war, das war der italienische Neorealismus. Der hat mich sehr inspiriert, weil dort gab es das alles, all diese Facetten, es waren gute Melodramen, man konnte lachen, man konnte weinen, es gab aber auch eine soziale, eine politische, eine philosophische und eine geistige Dimension. Ich stelle mir natürlich immer die Frage: Soll ich meine Gefühle zurückhalten? Wenn ich das tue, dann wirke ich allerdings zu intellektuell, und letztendlich ist es ja das Material, was entscheidet, was du tust. Und Emotionen spielen nun einmal eine ganz große Rolle.

Wie die Situation in Deutschland aussieht, das kann ich nicht genau beantworten. Da fällt mir aber eine ganz lustige Anekdote ein, als hier Interviews gab zu "Tiger and Dragon", da sagte mir eine Journalistin im Interview, sie hätte sich solche Mühe gegeben, in meinem Film nicht zu heulen, sie musste aber heulen. Aber mir ist es ganz wichtig, dann auch meine Gefühle nicht zu sehr zurückzuhalten, weil: ich möchte auch nicht arrogant oder anmaßend wirken.

Burg: Herr Ang Lee, herzlichen Dank fürs Gespräch! Thank you very much for talking to us!

Lee: Thank you!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Weitere Infos zu Ang Lee auf dradio.de:

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