"Wir haben eigentlich verlernt, richtig hinzuschmecken"

18.02.2013
Am Geschmack und den Nährstoffen liegt die Ablehnung von Pferdefleisch wohl nicht, sagt der Kulturwissenschaftler Gunter Hirschfelder. Die Menschen hätten sich erst seit ein paar tausend Jahren dagegen entschieden, Tiere zu essen, die ihnen nahe stünden.
Gabi Wuttke: Pferdefleisch in Lasagne, Tortellini und Ravioli – eine Schweinerei! Denn wieder mal steht auf der Packung nicht, was drin ist. Das ist ein krimineller Akt und also ein Skandal. Das andere: Pferdefleisch hat bei uns in Deutschland entweder den "Oh je"- oder den "Igitt"-Faktor – warum? Wir hoffen auf weiterführende Erklärungen, und zwar vom vergleichenden Kulturwissenschaftler Professor Gunther Hirschfelder von der Uni Regensburg. Einen schönen guten Morgen!

Gunther Hirschfelder: Hallo, guten Morgen!

Wuttke: Sind es nur die Besitzer von Hund, Katze, Maus und Pferd, die sagen, das kommt mir nicht auf den Tisch?

Hirschfelder: Das müssten wir erst mal untersuchen. Ich glaube aber, dass die Menschen erst mal ein bisschen orientierungslos sind und dass sie eine Bewältigungsstrategie suchen. Und das Ganze ist ja vorgegeben von den Medien und nicht von jemand anderes.

Wuttke: Inwiefern von den Medien?

Hirschfelder: Na ja, wir haben mal wieder eine dieser üblichen Thematisierungskonjunkturen und Skandalisierungen. Da reden wir über Pferdefleisch in der Lasagne – was ist eigentlich gegen Pferdefleisch einzuwenden? Das Schweinefleisch ist ja hinsichtlich der Produktionsmethoden und hinsichtlich der Stoffkreisläufe, bei dem Schweinefutter, viel skandalöser eigentlich als das Pferd. Ich finde, man könnte sich fast freuen, dass das Pferd in der Lasagne landet. Aber die Menschen wissen damit nicht umzugehen, sie merken, sie spüren den Skandal über die Medien, weil er als Skandal verkauft wird. Und dann reagieren sie, indem sie sagen, ja, das stimmt, ohne letztlich zu reflektieren und ohne mal in das kulturelle Gedächtnis reinzuhören.

Wuttke: Kulturelles Gedächtnis ist ein hervorragendes Stichwort. Denn ich würde gern von Ihnen wissen, ob die Menschen, die sich nicht vor Pferdefleisch ekeln, zum einen diejenigen sind, die aus der Kriegsgeneration den Hunger kennen, und zum anderen aus Gründen eines kleinen Portemonnaies vielleicht immer schon auch in Pferdemetzgereien gekauft haben.

"Seit ungefähr sieben-, achttausend Jahren hat sich die Kultur ausdifferenziert"Hirschfelder: War denn das Pferdefleisch billiger in der Vergangenheit? Das war immer eine Frage der Qualitiät. Also, wir haben ja im Prinzip zwei Stränge. Wir haben einmal – wir sind alle Menschen. Wir sind alle genetisch ziemlich ähnlich und unser Körper reagiert auf Essen ziemlich gleich, eigentlich. So, und jetzt haben wir eine Menschheitsentwicklung, die dauert, je nach Lesart, eine halbe Million Jahre oder eine Million Jahre, und in der überwiegenden Zeit haben wir eigentlich alles gegessen, was irgendwie essbar war, um überhaupt das Leben der Menschen zu sichern und das Überleben. Und das gelang ja oft gar nicht so gut. Und dann haben sich, seit dem Neolithikum, seit ungefähr sieben-, achttausend Jahren, hat sich die Kultur ausdifferenziert, und da haben wir angefangen, überhaupt erst mal bestimmte Ekelformen zu entwickeln vor bestimmten Nahrungsmitteln.

Und wir haben gelernt, dass Dinge, die im Kultus eine besondere Rolle spielen, wie etwa das Pferd, das in den früheren mobilen Kulturen stärker verehrt worden ist und manchmal gottgleich überhöht worden ist, oder Tiere wie der Hund, die ganz dicht beim Menschen leben und der Freund des Menschen werden, dass wir die nicht essen mögen, weil sie zu dicht an unserem Leben dran sind. Das ist aber ein kultureller Prozess. Und wir haben bleiben gelassen, diese Tiere zu essen.

Das war aber ein langer Prozess. Der war eigentlich erst im letzten Jahrtausend so allmählich abgeschlossen, und auch gar nicht ganz, weil in Krisenzeiten hat man immer wieder solche Tiere gegessen. Und gleichzeitig haben wir eben die Erkenntnis gehabt, dass Pferdefleisch eben ein hoch schmackhaftes Fleisch ist, ein besonders eiweißreiches Fleisch ist und dass es eben sich durchaus für den Nahrungsmittelverzehr eignet. Und deshalb haben wir in vielen Kulturen Nischen-Pferdefleisch immer noch gehabt, nicht als Abfallprodukt, nicht als billiges Freibankprodukt, sondern als ausgesprochene Delikatesse, ich erinnere etwa an den rheinischen Sauerbraten.

Wuttke: Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass, wenn jemand hier in Deutschland in ein Restaurant geht und Krokodil, Känguru oder Antilope bestellt, dann hat das was damit zu tun, dass genau diese Tiere bei uns nicht heimisch sind und also auch keine Haustiere sein können?

"Speise immer kulturell aufgeladen"Hirschfelder: Na ja, das Krokodil ist ein ganz gutes Beispiel, oder die Antilope. Krokodil isst man eigentlich selten. Herodot berichtet davon. Die Antilope ist viel weiter verbreitet, weil sie auch wohlschmeckend sind. Aber das Entscheidende ist: Wir sind ja Kulturwesen und nicht Naturwesen, sonst würden wir uns direkt gegenseitig auffressen. Das tun wir aber nicht. Wir sind Kulturwesen, und deshalb ist auch unsere Speise immer kulturell aufgeladen. Wir haben keinen ungetrübten Blick auf das Essen, wir sehen immer Symbole da drin.

Der Lachs ist ein Symbol für den Wohlstand, lange gewesen. Jetzt landet er beim Discounter – die sind also ambivalent. Der Hummer hat eine Entwicklung durchgemacht. In Amerikas Gefängnissen des 18. Jahrhunderts gab es Regelungen, dass man sagte, mehr als einmal die Woche darf man dieses widerliche Krustentier den Gefangenen nicht geben, das kann man noch nicht mal einem Mörder antun. Und heute wissen wir, wo der Hummer gelandet ist. Es ist also ambivalent.

Wir haben nichts, auf das wir schauen ohne Bilder im Kopf. Diese Bilder sind durch die Kultur vermittelt, durch die Werbung vermittelt, durch die Geschichte vermittelt und neuerdings besonders durch die Medien vermittelt. Wir haben eigentlich verlernt, richtig hinzuschmecken, sondern reflektieren über das Essen. Das ist problematisch, weil Essen ist ein physiologischer Akt und ein emotionaler Akt – und dann rutschen wir in eine Unsicherheit, wenn wir heute hören, igitt, da ist Pferd drin. Wenn wir mal hinschmecken würden, dann würden wir sagen, ist doch super.

Wuttke: Sagt der Kulturwissenschaftler Professor Gunther Hirschfelder über Pferdefleisch. Ich danke Ihnen sehr für diese Erläuterungen und wünsche Ihnen einen schönen Tag!

Hirschfelder: Ja, gerne. Danke, tschüss!

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