"Wir dürfen keine Sackgassen produzieren"

Moderation: Marcus Pindur · 29.05.2008
Der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern, Henry Tesch, hat sich für mehr individuelle Förderung an Schulen ausgesprochen. Zugleich plädierte er dafür, an Gymnasien für "Durchlässigkeit" zu sorgen und betonte, dass sie nicht der einzige Weg seien, das Abitur zu erreichen.
Marcus Pindur: Nicht nur mit den Lehrern beschäftigen wir uns in der Schulwoche im Deutschlandradio Kultur. Heute beleuchten wir das Gymnasium. Einst eine Einrichtung nur für eine kleine Elite; heute gehen, je nachdem, 40 Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium. Das Abitur ist die Eintrittskarte für den Hochschulabschluss und ein modernes Industrieland braucht Hochschulabgänger. - Wir sprechen jetzt mit Henry Tesch. Er ist Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern. Guten Morgen!

Henry Tesch: Guten Morgen Herr Pindur! Ich grüße Sie!

Tesch: Herr Tesch, Sie sind nicht nur der nächste Vorsitzende der Kultusministerkonferenz; Sie sind auch gelernter Gymnasiallehrer. Jetzt mal aus Ihrer Erfahrung als Lehrer und Schuldirektor: Ist das Gymnasium so wie es das jetzt gibt richtig organisiert?

Tesch: Die Frage, denke ich, ist auch schon berechtigt, aber man muss natürlich sagen, dass in den letzten Wochen, Monaten und Jahren doch da schon gewisse Veränderungen eingetreten sind und über die muss man einfach auch in Deutschland berichten und sprechen, sodass, wenn man vielleicht zurückguckt, man natürlich sagen muss, das Gymnasium hat sich wie andere Schularten auch weiterentwickelt. Da gibt es mitunter unterschiedliche Auffassungen und die denke ich muss man in den Fokus stellen.

Pindur: Welche Veränderungen meinen Sie?

Tesch: Ich glaube gerade die Diskussion mit diesem auch sehr großen Medienecho "Abitur nach zwölf oder 13 Jahren", woran sich der eine oder andere ja erinnert, was eine große Resonanz gefunden hat, habe ich zumindest festgestellt auch im Gespräch mit den Kollegen aus den anderen Bundesländern, dass natürlich, wenn ich das jetzt hier für den Osten der Republik sage, mit gleichen Begriffen wir andere Inhalte meinten. Und die Frage ist natürlich: Man muss, wenn man eine solche Umstellung vornimmt, das natürlich auch acht Jahre vorher beginnen. Wir zum Beispiel haben, nachdem wir das 12-jährige Abitur dann nicht durchhalten konnten, also kurz nach der Wende zum 13-jährigen Abitur übergegangen sind, dann aber wieder mit einem Beschluss zurück das so weit vorangetrieben, dass man acht Jahre Zeit hatte.

Die Schülerinnen und Schüler, die heute jetzt in der Jahrgangsstufe zwölf in diesen Stunden und Tagen Abitur machen, haben vor acht Jahren damit begonnen, sich auf diese Umstellung einzustellen, und damit natürlich auch die Elternhäuser. Und das ist eine Anstrengung. Es ist eine Herausforderung. An der Stelle sollte man auch keinen Sand ins Getriebe streuen oder in die Augen, so nach dem Motto, das Abitur könne man im Vorbeigehen erwerben.

Pindur: Lassen Sie uns beim achtjährigen Abitur bleiben. Das setzt sich ja gerade auch bundesweit durch. Das heißt aber auch mehr Stoff in weniger Zeit. Müsste man nicht die Lerninhalte am Gymnasium dann auch dementsprechend entrümpeln?

Tesch: Wie immer man die Frage stellt, aber ich glaube so ist es gemeint: ein ganz klares "Ja". Das bedeutet natürlich auch, dass die Länder, die es getan haben, so nach dem Modell, wie ich es eben auch für richtig halte, das dann von Anfang an genau daran gekoppelt haben. Ich finde eine zweite Säule geht zu sehr unter: Dieses Institut für Qualitätsentwicklung in der Bildung, das IQB, mit den Standards, wenn man das vereinfacht darstellen will, hat hier große Fortschritte erreicht.

Der Wissenszuwachs ist so enorm. Wenn Sie das jetzt in eine Kanne füllen wollten, würde die Kanne von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Sekunde zu Sekunde, wenn Sie wollen, größer werden und das kann man nicht über den Schüler ausschütten. Insofern muss man aus den Inhalten auswählen, und genau das beschreiben die Standards. Das ist der eine Vorteil und damit ist man dann auch bei der Klammer "lebenslanges Lernen", was für die jungen Leute manchmal noch eine Frage ist, aber wo wir dafür sorgen müssen, dass die Voraussetzungen jetzt in der Schule geschaffen werden. Das zweite ist, dass diese Standards dann auch die Diskussion, die ja auch läuft, manchmal auch tobt, wie vergleichen wir miteinander Lernleistungen der einzelnen Bundesländer oder auch von Abschlussprüfungen miteinander, von der Sache her richtig angelegt hat.

Pindur: Was sind denn Lehrinhalte, auf die Sie generell eher verzichten würden, und Lehrinhalte, die Sie zum Kernbestand erklären würden?

Tesch: Das ist natürlich eine so schwierige Frage, dass ich sage, man kann das jetzt in Fächern beantworten, man kann das jetzt in Kompetenzen Fähigkeiten und Fertigkeiten beantworten. Ich will vielleicht mal sagen, wir sind so weit auch in unserem Land Mecklenburg-Vorpommern, dass wir mit einer Schulgesetz-Novelle eine sogenannte Kontingentstundentafel festlegen. Das ist natürlich das, was man in den Ländern unterschiedlich bezeichnet. Bei uns sind es die Hauptfächer Deutsch, Mathematik, Englisch und diese Dinge. Aber wir haben zum Beispiel auch in Mecklenburg-Vorpommern Geschichte als Hauptfach in diesen Fragen, weil wir das nicht für unwichtig halten.

Aber darüber hinaus muss es einen gewissen Spielraum geben, den die einzelnen Schulen, den die einzelnen Länder haben, dieses zu tun. Aber ich finde auch Gymnasien, wenn ich das so zugespitzt sagen darf, müssen sich in einer gewissen Profilbildung auch konzentrieren auf bestimmte Inhalte. Ich sage es mal vielleicht polemisch zugespitzt: Seidenmalerei kann dann sozusagen kein Angebot am Gymnasium sein.

Pindur: Eine andere Frage zum Gymnasium, die viele Eltern bewegt. Manche Bildungsforscher sagen ja, es werde bei uns zu früh die Entscheidung getroffen, ob ein Kind an ein Gymnasium kommt oder nicht. Was sagen Sie dazu?

Tesch: Interessant ist ja, dass wir vielleicht nicht im Wochenrhythmus, aber doch schon sehr, sehr häufig unterschiedliche Studien bekommen, auch hier nicht immer sozusagen mit identischen Aussagen. Das wird zwar so in den Raum gestellt, dass das unisono und überall gesagt wird, aber das ist nicht so. Viel, viel wichtiger erscheint mir: Wir dürfen keine Sackgassen produzieren. Wir müssen eine Durchlässigkeit haben. Wenn das Stichwort in Ihrer Anmoderation "Abitur" war, ist ja das Gymnasium nicht der einzige Weg, um diesen Abschluss zu erreichen.

Also Durchlässigkeit ist mir ganz, ganz wichtig und das zweite ist natürlich: Wir müssen fördern und fordern. Das ist natürlich die Kunst jetzt auch in der Schulpolitik, das zu tun. Wenn sie Kinder unterfordern, machen sie etwas falsch; wenn sie Kinder überfordern, machen sie etwas falsch. Das Lernen muss für das jeweilige Kind eine Herausforderung sein, und wir wollen natürlich, dass individuelle Förderung, wenn Sie das darunter zusammenfassen wollen, zeitlich möglich sein muss - eben im Gymnasium, aber auch in anderen Bildungsgängen.

Pindur: Und noch etwas zum Schluss gefragt. Es wird ja viel über die Vergleichbarkeit des Abiturs gesprochen. Wo ist denn das Abitur besser oder welcher Abiturient ist besser, der aus Mecklenburg-Vorpommern oder der aus Bayern?

Tesch: Gestern gab es ja gerade eine Studie, wo wir ganz gut weggekommen sind, irgendwie unter die ersten fünf. Aber ich würde sagen, das hilft auch und man sollte auch nicht gegen diese Studien wettern, sondern ich glaube - und ich habe das sehr deutlich gesagt -, Mecklenburg-Vorpommern ist bereit, ein bundeseinheitliches vergleichbares Abitur mitzuschreiben. Ich habe in der KMK gesagt, ich finde diesen Begriff "Zentralabitur" nicht richtig, weil er unterstellt, wir könnten alle zum selben Zeitpunkt ein Abitur in Deutschland schreiben. Das ist allein durch die Tourismus-Industrie sicherlich nicht verantwortbar.

Aber vergleichbar heißt für mich, dass wir über das IQB sozusagen dann auch Aufgaben haben. Und ganz platt gesagt: Wenn dann die Bayern reingucken und sagen, das können die Mecklenburg-Vorpommern schreiben und umgekehrt, dann müssen wir uns öffnen. Wir müssen durchsichtiger werden, dazu sind wir bereit. Dann wird sich sehr schnell in Deutschland herausstellen: Wo sind Stärken und Schwächen? Die Rückmeldungen, die wir bundesweit von unseren Abiturienten haben, die sind hervorragend.

Pindur: Vielen Dank für das Gespräch! – Henry Tesch (CDU). Er ist Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern. Alle Gespräche und Interviews zur Schulwoche können Sie auf www.dradio.de nachlesen und -hören.