Wir dringen zur Sterblichkeit vor und tanzen

Von Ulrike Gondorf · 29.10.2010
Verwandlung ist das Stichwort, unter dem Sabine Hartmannshenn in Duisburg eine aufschlussreiche Annäherung an Henzes "Phaedra" findet. Der schlüssigen szenischen Interpretation steht eine ebenso überzeugende musikalische Qualität gegenüber.
Hans Werner Henzes Oper "Phaedra" spielt in zwei Welten. "Am Morgen" und "Am Abend" – so sind er erste und der zweite Akt überschrieben, griechischer Mythos der eine, lateinische Metamorphose der andere. Und auch der Komponist selbst, zum Zeitpunkt der Komposition 80 Jahre alt, glaubte durch eine lebensgefährliche Krankheit an eine Grenze gelangt zu sein, als er die Arbeit genau zwischen den beiden Teilen unterbrechen musste. Diese Doppelgesichtigkeit von "Phaedra" scheint das Prinzip der Neuinszenierung zu sein, die die Regisseurin Sabine Hartmannshenn und der Dirigent Wen-Pin Chien im Duisburger Haus der Deutschen Oper am Rhein herausgebracht haben.

Es ist bereits die vierte szenische Realisation der 2007 uraufgeführten Henze-Oper. Der alte Meister weiß dem Theater zu geben, was das Theater braucht. Und in diesem, seinem 14. Werk für das Musiktheater, begnügt er sich mit äußerst reduzierten Mitteln: vier singende Protagonisten und ein quasi solistisch besetztes Kammerensemble von 23 Spielern. Wenn Ökonomie ein Kennzeichen später Meisterschaft ist, dann kann man "Phaedra" ein Alterswerk nennen. Das bedeutet aber nicht, dass Henze nicht immer noch für Überraschungen gut wäre.

Die größte ist die völlig unerwartete Wendung, die er – mit seinem Librettisten, dem Lyriker Christian Lehnert – der Geschichte gegeben hat. Im ersten Teil wütet der Fatalismus der archaischen Tragödie: Phaedra verfällt in hoffnungsloser Leidenschaft ihrem Stiefsohn Hippolyt, bringt Tod und Verderben über ihn und über sich. Die Menschen sind nur Marionetten willkürlicher Götter, die mit ihrem Schicksal spielen. So weit, so bekannt. Seit Euripides ist "Phaedra" immer wieder auf die Bühne gebracht worden. Aber: es gibt eine Fortsetzung der Geschichte, die kaum ein Mensch kennt. Die Göttin Artemis flickt den von seinen Pferden zerrissenen Hippolyt wieder zusammen und schenkt ihm ein neues Leben als Gottheit eines Waldes. Auch das eine antike Version des Stoffes, überliefert unter anderem von Ovid in den "Metamorphosen".

Und Metamorphose – Verwandlung – ist das Stichwort, unter dem Sabine Hartmannshenn eine aufschlussreiche (und auch die Ohren für die Unterschiede der Klangwelten öffnende) Annäherung an das Stück findet. Im ersten Teil ist alles fest gefügt, wuchtig, ritualisiert, man könnte fast sagen stereotyp: Der Raum von Dieter Richter eng und von kalter Symmetrie, die Figuren die meiste Zeit in lange schwarze Mäntel eingeschlossen (Kostüme: Susana Mendoza). Hippolyt und Phaedra wie ferngesteuerte Schachfiguren im Duell der beiden Göttinnen Artemis und Aphrodite.

Der zweite Teil stellt in der Inszenierung von Sabine Hartmannshenn das produktive Chaos gegen diese sterile Ordnung. Und unterstreicht dadurch auch, wie vital, überraschend und farbig Henzes Musik hier klingt. Es beginnt wie Grand Guignol: Hinter einem Wandschirm setzt Artemis den zerschundenen Hippolyt unter einer altmodischen OP-Lampe wieder zusammen. Sie verwendet auch eine Säge und wirft mit abgerissenen Armen und Beinen nur so um sich, ehe sie ihm passende Stücke annäht. Auf einer Schaukel schwebt Aphrodite mit Phaedra herein, die sich in eine Colombina der Commedia dell’arte verwandelt hat: mit zerfranstem Tüllkleid, roten Ballettschuhen und einer wirren weißen Lockenperücke.

Dieter Richter hat dazu einen großen Raum gebaut, der abbruchreif ist und heruntergekommen, aber vor allem: luftig. Durch die geborstene Glasdecke und die zersplitterten Fensterscheiben kommt Zug ins Geschehen. Man weiß nicht, ist das ein Traum, ein Irrenhaus oder ein Theater, aber so viel ist sicher: Es ist ein Ort, an dem verschiedene Möglichkeiten existieren, Wege ins Offene führen, Verwandlung geschehen kann. Die Götter geben ihren Stellvertreterkrieg auf und sinken endlich einander in die Arme, die Menschen müssen sich selbst auf die Suche machen. "Wir sind nackt geboren, wir dringen zur Sterblichkeit vor und tanzen" heißt der Text des Schlussensembles, zu dem die Partitur alle Stimmen vereinigt. "Sterblichkeit" scheint in dieser Inszenierung mit "Menschlichkeit" übersetzt zu sein. Und das ist sicher passend für den radikal diesseitigen Humanisten Hans Werner Henze.

Der schlüssigen szenischen Interpretation steht eine ebenso überzeugende musikalische Qualität gegenüber. Das Kammerensemble aus Mitgliedern der Duisburger Symphoniker spielt unter der Leitung von Wen-Pin Chien mit exquisitem Klangsinn, das Sängerensemble um Ursula Hesse von den Steinen in der Titelpartie ist glänzend. Der junge Countertenor Vasily Khoroshev in der Rolle der Artemis bringt das hier geforderte und in der Operngeschichte wohl beispiellose Kunststück fertig, im Wechsel von einer Phrase zur anderen im Falsett und in der Baritonlage zu singen. Großer Beifall für alle Beteiligten.

Informationen der Deutschen Oper am Rhein zur Inszenierung von "Phaedra"