"Wir brauchen einen historischen Abstand, um wirklich verstehen zu können"

Peter Henning im Gespräch mit Christopher Ricke · 26.07.2011
Nach Ansicht des Autors Peter Henning wird in den Attentaten von Norwegen Wirklichkeit, was speziell die skandinavische Kriminalliteratur bereits beschrieben hat. Henning sagte, in Krimis seien Figuren wie der Attentäter schon länger vorweggenommen worden.
Christopher Ricke: Das Blutbad von Norwegen, die große Fassungslosigkeit, ein fundamentalistisches Gemetzel in einer offenen und demokratischen Gesellschaft – in einer der offensten und demokratischsten überhaupt. Beim Versuch, trotz aller Fassungslosigkeit, diese Tat zu begreifen, nähern wir uns heute Morgen über die skandinavische Literatur: Es ist der Kriminalroman, in dem es solche Täter und Taten immer wieder gibt.

Ich sprach mit dem Schriftsteller Peter Henning. Herr Henning, ist es denn moralisch überhaupt zu vertreten, wenige Tage nach diesem Verbrechen schon Analogien und Verknüpfungen zur Kriminalliteratur zu suchen?

Peter Henning: Ich glaube, man kann das durchaus tun, denn in diesen Romanen, speziell in Kriminalromanen, dem Genre Kriminalroman, wurden immer wieder diese Figuren sozusagen prä-porträtiert. Man hat auf die … gerade auch auf die präfaschistischen Tendenzen innerhalb der westlichen Gesellschaft hat der Kriminalroman immer hingewiesen. Und das ist nicht ein Thema, das sozusagen ab heute diskutierbar ist, sondern ich glaube, das wurde immer schon vorweggenommen in den Kriminalromanen – das, was jetzt passiert ist.

Ricke: Hat das Verbrechen die Fantasie der Autoren eingeholt oder überholt?

Henning: Ich glaube, da ist jemand, das ist eine ganz spezielle Person, mit der wir es da zu tun haben. Ich glaube, das es der Typus des Außenseiters innerhalb der Gesellschaft ist, der nach außen hin den Durchschnittsbürger repräsentiert, tatsächlich im Inneren aber längst auf Kollisionskurs zur Gesellschaft steht. So eine Figur haben wir hier – und diese Figuren wurden immer wieder, ob in Romanen von Jo Nesbö oder von Jorun Thörring, einer norwegischen Schriftstellerin, wurden immer vorweggenommen.

Ricke: Ist der Kriminalroman Vorbild, tragen die Autoren Verantwortung?

Henning: Ich glaube, der Kriminalroman spielt einfach Möglichkeitsformen durch. Er spielt das durch, was in der Gesellschaft zutiefst verankert ist, was als solches tatsächlich von der meisten oder von der Majorität nicht ausgelebt wird – aber es wird durchgespielt: Was passiert in der Psyche des Einzelnen? Und diese Figuren hat es immer wieder gegeben, und die wird es geben, und im schlimmsten Falle so wie jetzt.

Ricke: Das Gedankengut des Täters wird als krude beschrieben. Der, der sich diese 1500 Seiten im Internet angesehen hat, sagt, das ist ein Typus, den man kaum verstehen kann. Aber dieses Gedankengut muss ja auf einem bestimmten Nährboden gewachsen sein. Was ist das für ein Nährboden?

Henning: In der Tat ist es sehr überraschend, wie disparat dieses Überzeugungsgemisch – da haben wir christlichen Fundamentalismus, wir haben Fremdenhass, wir haben Weltrettungsfantasien und Antiislamismus – das ist in der Tat eine Figur, die eigentlich in kein Schema passt. Zu Beginn hieß es, da sei jemand jäh aus dem Nichts gekommen – ich glaube das nicht, sondern ich glaube, dass da jemand relativ deutlich umsetzt, was so Populisten wie Sarah Palin, Gianfranco Fini, Jean-Marie Le Pen oder Geert Wilders oder auch bei uns Thilo Sarrazin anstößt, nämlich diese riskanten, gefahrvollen Äußerungen im Hinblick auf Ausgrenzung des anderen, des Andersdenkenden und sogar anders Aussehenden. Ich glaube, dass da jemand da ein ganz krudes Bündel geschnürt hat und gesagt hat: Da ist von allem was drin.

Aber so, wie er sich jetzt darstellt, auch nach außen hin – der sozusagen noch sich damit prahlt und sagt, ich möchte eine öffentliche Verhandlung –, das ist jemand, wie wir ihn so in dieser Art fast noch nicht gesehen haben; in Kriminalromanen aber schon immer.

Ricke: Meinen Sie wirklich, dass einer der Genannten in irgendeiner Art und Weise Wegbereiter eines solchen Bluttäters ist?

Henning: Ich glaube nicht, dass man da eine Spur zurücklegen kann zu dem einen oder anderen Autor, aber es werden Dinge einfach durchgespielt, und wenn wir zum Beispiel da an jemanden wie Stieg Larsson denken, der ja jenseits seines Kriminalschreibens oder Kriminalromanschreibens sich absolut intensiv mit den rechten Szenen auseinandergesetzt hat, der von der CIA konsultiert wurde, weil er einfach ein großer, großer Kenner ist.

Es gibt diese Figuren, und ich glaube, das ist sehr, sehr viel zusammengekommen. Da ist ein Vorbild, er sagt ja, er hat Kriegsspiele favorisiert, er hat Bodybuilding favorisiert. Da ist jemand, der ein ganz, ganz eigenes Gemisch hat, aber es gibt diese Psychopathen, und das ist ja das Interessante im Kriminalroman, dass er sozusagen Dinge vorwegnimmt, dass er Dinge, Möglichkeitsformen durchspielt, wie wir sie gottlob in der Gesellschaft höchst selten finden.

Ricke: Auffällig ist ja, dass die skandinavische Kriminalliteratur besonders blutrünstig ist - sozusagen als Gegenentwurf zu einer eigentlich sehr friedliebenden, mordarmen Gesellschaft. Ist das ein Ventil?

Henning: Ich glaube schon, dass es ein Ventil ist. Ich meine, ich habe gestern auch mal nachgeguckt, und Norwegen rangiert ja, was in diesen ganzen Kriminal- und Tötungsdelikten angeht, auf verschwindend geringem Niveau. Und ich habe gestern auch noch mit befreundeten Schriftstellern in Norwegen telefoniert, beispielsweise mit Ketil Björnstad, der – und das ist ja das wirklich unheimlich Interessante – der gesagt hat: Diese Person ist eigentlich jemand von uns, er sieht aus wie wir, er spricht unsere Sprache, er ist so sozialisiert wie wir. Und er hat sich in der Tat gefragt: Wie kann etwas – was läuft in unserer Gesellschaft falsch, dass wir Menschen wie Anders Behring Breivik hervorgebracht haben?

Da ist eine große Irritation und sagt: Was ist es? Aber ich glaube, dass in der Tat – wir delektieren uns am Kriminalroman, dort werden Dinge durchgespielt, die wir sozusagen folgenlos konsumieren können, wir können folgenlos dem schlimmsten Gemetzel beiwohnen, ohne selbst dafür in Regress genommen zu werden. Der Kriminalroman spielt schon die Möglichkeiten durch, und was wir denken können, können wir irgendwann natürlich auch umsetzen.

Ricke: Die Kriminalunterhaltung hat vielleicht noch eine zusätzliche Funktion, die der Volksbildung. Manchen gelten ja in Deutschland zum Beispiel die "Tatorte" in der ARD schon als Proseminar bei gesellschaftlichen Themen wie – schauen wir in die letzten Jahrzehnte – Homosexualität, Steuerbetrug, Internetkriminalität, Krankenkassenbetrug ... Trägt die Unterhaltung, trägt auch die Literatur hier eine besondere bildende Verantwortung?

Henning: Ich glaube, dass speziell der Kriminalroman wirklich mehr und mehr zu einem Instrumentarium für das Nachdenken über Gesellschaft und über gesellschaftliche Veränderungen taugt. Ich bin selbst Belletristik-Autor, ich schreibe Romane, ich schreibe Gesellschaftsromane, aber muss gestehen, dass ich seit schon geraumer Zeit mit großer Liebe Kriminalromane lese, weil ich das Gefühl habe, dass dort auch sozusagen dem kleinen Mann – ohne dem näher treten zu wollen – sozusagen gesellschaftliche Veränderungen an Fallbeispielen erklärt werden. Dort schlagen all diese Dinge, die Sie eben sehr schön aufgezählt haben, dort wird es virulent, dort wird es gezeigt, und dort zeigt es, was es in letzter Konsequenz mit dem Einzelnen auch macht.

Ricke: Jetzt haben Sie beschrieben, dass der Kriminalroman gesellschaftliche Entwicklungen, auch gesellschaftliche Ausbrüche vorwegnimmt, beschreibt – jetzt kann man aber auch vermuten, dass das Blutbad von Norwegen wiederum Eingang in die Literatur, in den Film findet. Ist das gut oder schlecht? Ist das geboten, ist das nicht geboten?

Henning: Wenn ich in eigener Sache etwas dazu sagen darf: Ich sitze seit zwei Jahren an einem Roman über das Gladbecker Geiseldrama, das 1988 Deutschland zutiefst erschüttert hat, die Medienwelt erschüttert hat und auch die deutsche Mediengesellschaft oder die Medientreibenden, die da, glaube ich, ihre Unschuld verloren haben. Sie sehen, der Reflex ist, es dauert 20 Jahre, bis einer kommt. Ich bin sicher, dass dieses Thema über kurz oder lang in der Literatur wiederzufinden sein wird, aber ich glaube, wir brauchen einen historischen Abstand, um wirklich verstehen zu können, was da gerade passiert ist.

Ricke: Der Schriftsteller Peter Henning. Vielen Dank, Herr Henning!

Henning: Danke Ihnen!

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