"Wir brauchen die Vielfalt, um langfristig leben und überleben zu können"

Moderation: Hanns Ostermann · 19.05.2008
Der Verlust der Artenvielfalt bedroht nach Ansicht von Europarc Deutschland auch das Überleben der Menschen. In den vergangenen fast zwei Jahrzehnten habe durch den Menschen bedingt der natürliche Artenschwund um das Hundert- bis Tausendfache zugenommen. Das sei eine drohende Gefahr für das eigene Überleben, sagte Vorstandsmitglied Holger Wesemüller. Europarc Deutschland ist der Dachverband für Nationalparks, Naturparks und Biosphärenreservate.
Hanns Ostermann: UN-Naturschutzkonferenz – so lautet die deutsche Bezeichnung jenes großen Konferenzspektakels, das heute in Bonn beginnt. Mit dabei rund 5000 Vertreter aus 190 Staaten. In korrekter UN-Sprache handelt es sich um die neunte Vertragsstaatenkonferenz zur UN-Biodiversitätskonvention. Sicher: es wird auch über Nationalparks geredet werden, aber anders als es der deutsche Titel suggeriert geht es in Bonn in den nächsten zwei Wochen vor allem auch um handfeste Wirtschaftskonflikte zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
Am Telefon von Deutschlandradio Kultur ist jetzt Holger Wesemüller, Vorstandsmitglied von Europarc Deutschland, dem Dachverband der Nationalparks, UNESCO-Biosphärenreservate und Naturparks. Guten Morgen Herr Wesemüller!

Holger Wesemüller: Schönen guten Morgen Herr Ostermann.

Ostermann: Wir haben es eben gerade gehört: schon 1992 schrillten die Alarmglocken. Ist in den letzten 16 Jahren eigentlich überhaupt nichts Positives passiert?

Wesemüller: Doch, es ist sicherlich einiges passiert. Nur es braucht lange, bis so etwas wirkt. Viele Staaten haben zwar etwas unterschrieben und wollen mitmachen, aber in der Praxis ist das eben dann doch noch nicht so weit. Wir sind es gewohnt, auf internationaler Ebene mit Zeiträumen von zehn und mehr Jahren zu rechnen, bis etwas greift. Aber hier muss man sagen, nach 16 Jahren ist die Bilanz leider immer noch negativ. Der Artenverlust hat sich noch beschleunigt. Das wurde in dem Beitrag vorhin schon gesagt. Wenn wir hier das Hundert- bis Tausendfache an natürlichem Artenschwund jetzt durch den Menschen bedingt haben – das heißt, wir wissen gar nicht, wie viel heute verloren geht, was wir morgen noch brauchen -, dann ist das eine sagen wir sehr drohende Gefahr für unser eigenes Überleben. Wir müssen hier also wirklich viel tun. Leider wissen wir von den 10 bis 100 Millionen Arten kaum genug über 40.000, 50.000 Arten, die richtig exakt beschrieben sind auch auf ihre Gefährdung hin. Das heißt, da ist noch eine große Wissenslücke. Vor dem Hintergrund muss man gerade heute schon sagen, alles stoppen was nur geht, um nicht noch mehr Natur zu zerstören.

Ostermann: Wie beim Klimawandel gibt es natürlich keine einfachen Antworten. Nehmen wir aber ein Beispiel. Wie steht es um die weltweiten Schutzgebiete zu Land und zu Wasser?

Wesemüller: Da gibt es gerade mit dieser Konvention ein Arbeitsprogramm Schutzgebiete, was auch international in Durban 84 noch beschlossen worden ist und wo die Weltgemeinschaft ein Schutzgebietsystem aufbauen möchte, was mindestens zehn Prozent der Landfläche umfasst. Das heißt, das liegt auch an der Erkenntnis, dass man die Arten heute nicht in Zoos und botanischen Gärten richtig erhalten kann, sondern in ihren natürlichen Systemen. Deswegen braucht man auch große Schutzgebiete. Wenn man bis 2010 den Verlust an Arten gestoppt haben will, dann müsste man auch schon eine Menge an Schutzgebieten zusätzlich ausgewiesen haben, um da wirklich einen Fortschritt zu erzielen.

Ostermann: Aber sind dazu die Länder bereit? Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Wesemüller: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Länder, die sind weiter als wir Industriestaaten. Wir haben vielleicht das bessere Wissen, aber andere Staaten (Entwicklungsländer) haben große Schutzgebiete. Leider kommt dann – das wurde in Ihrem Beitrag vorhin auch schon gesagt – durch unsere wirtschaftliche Nutzung (zum Beispiel die Agrokraftstoffe, die wir beimischen wollen) der Druck auf die Schutzgebiete in den Drittländern. Bei uns selber in Europa haben wir mit der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie wirklich einen wegweisenden Beschluss gefasst, den auch alle europäischen Staaten umsetzen müssen, und wo wir große Gebiete, die repräsentativ sind für Europa, erhalten müssen. Das ist fallweise gut gelungen. Da war Deutschland beispielsweise nicht so berühmt und hat einen großen Zeitverzug gehabt. In der Summe geht der Weg dahin, aber es dauert natürlich viel zu lange, um den Artenverlust zu stoppen.

Ostermann: Kann man in der Summe auch festhalten, dass die Industrienationen bislang die Entwicklungsländer noch viel zu wenig unterstützen und anders herum ein Schuh daraus wird "wir beuten kräftig aus"?

Wesemüller: Ja. Damit haben Sie es voll getroffen. Leider geht das immer noch weiter so. Solange die Wirtschaft alleine bestimmt ohne feste Regeln, werden wir diesen Trend auch kaum aufhalten können. Ich denke da an gerade an diese Beimischung von den Kraftstoffen. Vorhin wurde das Beispiel Soja genannt für die Fleischproduktion. Aber es ist genauso, dass die Kraftstoffe 20 Prozent der Anteile an Soja enthalten. Wenn wir hier Palmölplantagen in Indonesien einrichten – letztlich nicht wir, sondern das machen die Indonesier oder die Brasilianer -, dann tun sie das, um zu uns die Dinge zu exportieren, die wir hier als noch klimaschutzrelevant ansehen. Völliger Quatsch ist das, sondern das Gegenteil ist der Fall. Diese Industrienationen – die USA sind da ein negatives Beispiel, aber auch Japan und letztlich auch wir, wenn wir solche Beschlüsse fassen – die müssen sich an die eigene Nase fassen und die USA müssen schleunigst unterzeichnen und mit eingebunden werden.

Ostermann: An die eigene Nase fassen beziehungsweise umgekehrt mit dem Finger auf andere zeigen. Es ist ja immer ganz leicht zu sagen, die Politik muss die entsprechenden Weichen stellen oder auch die Wirtschaft. Was Sie und mich betrifft oder den Hörer, wen auch immer, wo kann man eigentlich konkret selbst im Alltag anfangen?

Wesemüller: Es geht schon darum, wie Sie Ihren Lebensstil führen, auf was Sie Wert legen, ob Sie ein großvolumiges Auto fahren, in dem Sie sehr viel Benzin durchjagen und damit zum Klimaschutz nicht beitragen, sondern das Gegenteil bewirken. Wir gehen aber auch ganz konkret in die Schutzbereiche in Deutschland hinein, einmal überhaupt kennenlernen wie Natur aussieht, wie Vielfalt aussieht - der Mensch braucht das auch zum Leben – und dort mit sich einzusetzen für die schönsten Landschaften in Deutschland. Ich glaube, da haben wir noch große Defizite. Da sind beispielsweise die USA ein Stück weiter voraus mit ihrem Nationalpark-Service, den großen Landschaften. Die haben sie immerhin recht gut geschützt und in Deutschland wissen wir noch nicht mal, dass wir Nationalparks haben.

Ostermann: Wenigstens da sind die USA weiter. – Die deutsche Industrie kritisierte, bei uns gäbe es einen viel zu umfangreichen Katalog an Zielen und Maßnahmen. Wir seien überambitioniert und riskieren unsere Wettbewerbsfähigkeit. Was würden Sie Vertretern der Wirtschaft antworten?

Wesemüller: Das Gegenteil ist der Fall. Wir können hier nicht der Vielfalt der Natur mit einfältigen Maßnahmen begegnen. Es braucht ganz unterschiedliche Bereiche, um die große Variabilität auch von nutzbaren Arten – und das sage ich bewusst in Richtung Wirtschaft – für die veränderten Bedingungen etwa durch Klimawandel bereit zu halten. Wenn wir hier nach der Industrie gingen, dann würden wir nur noch Hochleister als Arten schützen. 30 Arten liefern 95 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel. Dann haben wir die Seuchengefahr. Dann kann es schnell zu einem Kollaps kommen. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir brauchen die Vielfalt, um langfristig leben und überleben zu können.

Ostermann: Holger Wesemüller, Vorstandsmitglied von Europarc Deutschland, dem Dachverband der Naturparks und Nationalparks in Deutschland. Vielen Dank Herr Wesemüller für das Gespräch heute Früh.