Wind

Matrosen-Schreck und Gottes-Atem

Ein Windsurfer auf einem Board ist am 16.05.2014 auf dem Tempelhofer Feld in Berlin unterwegs.
Stephan Cartier hat eine Kulturgeschichte des Windes geschrieben. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Michael Opitz  · 26.05.2014
Vom lauen Lüftchen bis zum gefährlichen Wirbelsturm: Den Spuren, die der Wind in Kunst und Literatur hinterlassen hat, geht Stephan Cartier in einer kurzweiligen und gut geschriebenen Kulturgeschichte nach.
Wer den Wind zu fassen versucht, wird ins Leere greifen. Der Wind ist flüchtig, und er tritt in unterschiedlicher Gestalt in Erscheinung. Als lauer Luftzug ist er an heißen Sommerabenden willkommen, während die verheerende Kraft eines Hurrikans gefürchtet wird. Diesem Grenzgänger, der weht, wo er will, stellten im 17. Jahrhundert "Windfütterer" eine aus Salz und Mehl bestehende "Speise" in einer Schale auf den Dachfirst, um ihn milde zu stimmen.
Den Spuren, die der Wind in der Literatur, der Kunst und der Kultur hinterlassen hat, geht Stephan Cartier in seiner kurzweilig und gut geschriebenen Kulturgeschichte "Der Wind oder das himmlische Kind" nach. Gegliedert hat er sein mit zahlreichen Abbildungen versehenes Buch in zwölf Kapitel, wobei er der Anfang des 19. Jahrhunderts von Francis Beaufort aufgestellten Skala mit 12 Windstärken folgt.
Während Windstille von den Matrosen auf Segelschiffen gefürchtet wurde, weil sie melancholisch und lethargisch stimme, stellte sie für den Philosophen Friedrich Nietzsche die Voraussetzung dafür dar, dass seine Gedankenschiffe erfolgreich in See stechen konnten. Als sich der englische Landschaftsmaler William Turner die Frage stellte, wie der Wind zu malen wäre, ließ er sich bei Sturm an den Mast eines Segelschiffes binden und studierte sein Sujet.
Die eigentliche Bedeutung des Wetterhahns
Dass der Wind besonderer Herkunft ist, wird im Grimmschen Märchen von "Hänsel und Gretel" erzählt. Als die Hexe die Kinder fragt, wer denn an ihrem Häuschen knabbere, antworten sie: "Der Wind, der Wind, das himmlische Kind". In ihrer Not hoffen sie auf göttlichen Beistand, denn der Wind gilt als Symbol des Lebens schlechthin, war es doch göttlicher Atem, durch den Adam zum Leben erweckt wurde.
Cartier kommt auf interessante, mit dem Wind in Verbindung stehende Phänomene zu sprechen, wodurch sich überraschende Einblicke eröffnen. So ist der auf Kirchturmspitzen angebrachte Wetterhahn nicht in erster Linie dazu gedacht, die Windrichtung anzuzeigen, sondern er ruft eine Episode aus dem Leben Jesu mahnend in Erinnerung. Jesus prophezeite seinem Jünger Petrus, dass dieser ihn verraten werde, noch bevor der Hahn dreimal gekräht habe.
Papst Nikolaus I. erließ 860 ein Dekret, wonach ein Hahn auf jede Kirchturmspitze gehört, damit die Menschen diesen Verrat stets vor Augen haben. Beweglich sollte der Wetterhahn sein, um an den menschlichen Wankelmut zu erinnern. Der Hahn symbolisiert den "veränderlichen, unbeständigen Menschen", heißt es in Christoph Adelungs zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienenem "Wörterbuch der hochdeutschen Mundart".
Es ist erstaunlich, welche kulturhistorisch höchst aufschlussreichen Geschichten der Wind Cartier ins Ohr geflüstert hat. Er weiß sie überzeugend zu präsentieren, sodass dieses Buch deutlich länger als eine plötzlich auftauchende und schnell wieder verschwindende Windböe in Erinnerung bleibt.

Stephan Cartier: Der Wind oder das himmlische Kind. Eine Kulturgeschichte
Transit Verlag, Berlin 2014
174 Seiten, 19,80 Euro