Wilhelm Genazinos neuer Roman

Alte Unterhemden und drastische Sexualpraktiken

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino sitzt in seiner Wohnung in Frankfurt am Main an seiner Schreibmaschine (Foto vom 04.05.2007). Wilhelm Genazino, 2004 mit dem renommierten Büchner- Preis ausgezeichnet, gilt vor allem als Romancier, aber er ist auch Dramatiker. Der 64 Jahre alte Autor hat sich mit seinen Romanen als ironischer Chronist Deutschlands einen Namen gemacht.
Der Schriftsteller Wilhelm Genazino sitzt in seiner Wohnung in Frankfurt am Main an seiner Schreibmaschine. © picture alliance / Arne Dedert
Von Helmut Böttiger · 25.07.2016
Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino schickt einen namenlosen Helden in einer mittelgroßen Stadt auf Tour. Mit seinem neuen Roman "Außer uns spricht niemand mit uns" knüpft Genazino an seine Arbeit in den 70er-Jahren an.
Wieder sind zwei Jahre vergangen, und wieder erscheint ein 150-Seiten-Roman von Wilhelm Genazino. Es gibt Dinge, auf die man sich verlassen kann. Das ist umso frappierender, als die Helden in den Romanen Wilhelm Genazinos sich eben auf gar nichts verlassen können. Die Hauptfigur ist freier Sprecher bei einer Rundfunkanstalt, nebenbei moderiert er ab und zu Modeschauen in der Provinz – ein typischer Genazino-Held also, aber auch diesmal wartet er mit Überraschungen auf.
Man muss bei Genazino jedes Mal auf eine neue Überrumpelung gefasst sein. In diesem Roman gibt es zwei abrupte Wendungen, die aufs Heftigste in das Leben des Protagonisten eingreifen – aber geschrieben ist das in einer irritierend abgebrühten Coolness, und zum Schluss gar in einer noch irritierenderen heiteren Gelassenheit.

Ein Held ohne Namen

Der Held hat keinen Namen, und er spricht in einer Ich-Erzählung. Er ist scheinbar alterslos, in einer Art Grauzone. Seine Freundin Carola ist Ende Dreißig, doch genauso alt wie Carola kann der Held eigentlich nicht sein. Aber ein richtiger Greis ist er noch nicht, auch wenn er selbstironisch damit kokettiert. Er hat zwar sein Auskommen, muss sich jedoch trotzdem als ein Gescheiterter empfinden – ursprünglich wollte er Schauspieler werden, und davon ist nichts mehr übriggeblieben.
Angebote von Kleintheatern, umsonst die Hauptrolle zu spielen und die hyperrealistisch die gegenwärtige Situation treffen, lehnt er mit einem Reststolz ab. Wie frühere Protagonisten Genazinos ist auch er ein "Herumstreuner", der sich von der "Penetranz des Wirklichen" bedroht fühlt. Ebenso ist seine Freundin Carola eine neue Variante von Genazinos Frauenfiguren: Sie ist eher praktisch veranlagt, teilweise durchaus fasziniert von der dahingleitenden kryptophilosophischen Lebenshaltung des Helden, aber irgendwann verlässt sie ihn dann doch.

Man kommt aus dem Kopfschütteln nicht heraus

Danach geschehen ungeheure Dinge. Genazino hat es dabei nicht nötig, irgendwelche surrealen Szenen zu erfinden oder Fantasy-Effekte einzusetzen. Er bleibt extrem in der Wirklichkeit, hält sich im Umfeld von "Geschäften, Kiosken und Mülltonnen" auf, beschreibt äußerst genau Schaufensterauslagen – aber unter der Hand entwickelt sich eine Handlung, die irrwitzig anmutet und grotesk.
Man kommt zum Schluss mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr nach. Es geht um immer löchriger werdende Unterhemden und um Obdachlosigkeit, es geht um drastische Sexualpraktiken, die beiläufig und selbstverständlich neben Beobachtungen von Amseln und Plastiktüten stehen. Es geht um den alltäglichen Irrsinn und die Ausweglosigkeiten einer Mann-Frau-Beziehung, die jenseits aller Gefühle, aber dafür mit einem umso klinischeren Blick dargestellt werden. In gewisser Weise löst Genazino in seinem bizarren und imponierenden Alterswerk das ein, was er in seinen Anfangsjahren in der Zeitschrift "pardon" um 1970 begonnen hat: Er führt den satirischen Ansatz melancholisch über in ein ästhetisches Gesamtkunstwerk.

Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns.
Roman. Hanser Verlag, München 2016
154 Seiten, 18,00 Euro

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