Wildwest in der DDR

Moderation: Nana Brink · 20.03.2007
Werner Bräuning war nicht nur Schlosser, Gelegenheitsarbeiter und Fördermann im Uran-Bergbau, sondern auch Schriftsteller. Er sei ein idealtypischer Vertreter für die Literatur des "Bitterfelder Weges" gewesen, sagte die Literaturwissenschaftlerin Frauke Meyer-Gosau. Trotzdem habe ihn das 11. ZK-Plenum im November 1965 "verheizt", weil er in seinem Roman "Rummeplatz" die DDR-Realität allzu wirklichkeitsgetreu dargestellt habe. Der Roman schildert das harte Leben der Arbeiter im Uranbergwerk Wismut im Westen der DDR. Zu Lebzeiten des Autors blieb das Werk unveröffentlicht. Jetzt ist "Rummelplatz" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Nana Brink: "Das Buch ist der berühmteste ungedruckte Roman der Nachkriegszeit", schreibt der Berliner Aufbauverlag selbstbewusst über seinen jüngsten Roman "Rummelplatz" von Werner Bräunig. Das Buch berichtet in weiten Teilen über das Arbeits- und Liebesleben bei der Wismut, einem Bergbaugebiet in der Nähe von Chemnitz. Geschrieben hat das, wie gesagt, ein in den sechziger Jahren aufstrebendes, junges Schriftstellertalent in der DDR. Allein sein Roman "Rummelplatz" wurde nie veröffentlicht. Erst jetzt, 40 Jahre später, erscheint das fast 800seitige Werk. Die Literaturprofessorin Frauke Meyer-Gosau, spezialisiert auf DDR-Literatur, hat den Roman gelesen. Sie ist jetzt bei uns im Studio. Schönen guten Morgen!

Frauke Meyer-Gosau: Guten Morgen!
Brink: Ist dieser Roman, wie der "Spiegel" in seiner jüngsten Ausgabe schreibt, wirklich ein "Hammer" von Roman?

Meyer-Gosau: Ja, es ist ein Hammer. Es ist erstmal - Sie haben es schon gesagt - mengenmäßig ein Hammer. Fast 800 Seiten muten sich Leser ja nur unter besonderen Bedingungen zu. Es ist aber auch ein Hammer von Roman, wenn man seine Geschichte bedenkt, also wenn man bedenkt, ein 31-jähriger Autor, der am Literaturinstitut Johannes R. Becher ein Literaturlehrer ist, der der Erfinder einer Parole zur Kulturrevolution ist, schreibt einen Roman und wird, erst 31 Jahre alt, auf dem elften ZK-Plenum im November 1965 verheizt. Der wird richtig geopfert, und das ist insofern hammerhart, könnte man sagen, als der Mann daran zugrunde gegangen ist. Elf Jahre später war er tot.

Brink: Warum ist dieser Roman verboten worden? Was war den Genossen in Berlin, was war denen so suspekt?

Meyer-Gosau: Oh, da gab es etliches. Also ich bleibe mal im Hammerbild, weil wir auch im Bergbau sind, da passt es ja ganz gut, es war für die Genossen ein Hammer, dass die Genossen sehr schlecht wegkamen, denn Werner Bräunig gehörte zu den jungen Intellektuellen in der DDR, die der Meinung waren, wir müssen die Wirklichkeit beschreiben, wir müssen nicht immer einen ideologischen Baldachin nach dem anderen aufspannen und den Leuten erzählen, wie schön und angenehm es bei uns ist, sondern wir müssen die Härte der Wirklichkeit zeigen. Das bedingte natürlich, dass die Parteigenossen oft nicht so richtig gut aussahen in diesem Roman.

Grundlegend war aber zunächst, dass er seinen Roman im Wilden Westen der DDR spielen ließ. Der Wilde Westen war die Wismut, das war ein abgegrenztes Gebiet, in dem die Sowjetunion das Sagen hatte, kann man sich richtig mit Zaun, Stacheldraht, allem Pipapo vorstellen. Und wer seinen Roman da ansiedelte, der betrat von vorne herein vermintes Gelände, und das heißt, es kamen eben sowjetische Kommandeure dieses Bergbaugebiets vor, es kam das unglaublich wüste Leben dieser Kumpels vor, weil man sich vorstellen kann, die hatten besondere Lebensbedingungen dort, einerseits weil sie ihre Papiere abgeben mussten, andererseits aber auch weil sie sehr viel mehr Geld verdienten als der Rest in der DDR und für dieses mehr Geld sehr viel bessere und mehr Waren bekamen.

Brink: Jetzt bin ich ein bisschen neugierig: Was war denn das wüste Leben? Kann man sich so gar nicht richtig vorstellen.

Meyer-Gosau: Ja, das ist sozusagen der Haupthammer in diesem Buch. Es geht um junge Desperados, kann man schon sagen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen sich in diesem Bergbaugebiet treffen und dort angelernt werden - die können das alle gar nicht richtig -, Uran abbauen, wer kann das auch schon. Der eine kommt von der Uni, der andere hat eine Knastkarriere hinter sich und fährt dann später auch noch mal in den Knast ein, und die allerunterschiedlichsten Leute treffen sich dort, und der Leser sieht, dieses Wildwestleben spielt sich im Schlamm ab, die Leute leben in Baracken, sie hauen abends ordentlich drauf, sie trinken so viel Wodka, wie sie können, steigen in eine Schiffsschaukel und machen einen Wettbewerb, wer kann mehr als 100 Mal sich überschlagen. Also das ist die Sache für die harten Kerle, und das war ein Bild der DDR, das natürlich den Ulbrichts und Honeckers der damaligen Zeit nur widerstreben konnte.

Brink: Der Autor Werner Bräunig war aber selbst auch vor Ort, er hat also auch aus unmittelbarer Kenntnis geschrieben.

Meyer-Gosau: Ja, er hat alles Mögliche aus unmittelbarer Kenntnis geschrieben. Unter anderem war er mal kurzzeitig Fördermann in der Wismut, nachdem er seine eigene gebrochene Biografie so weit absolviert hatte, dass er aus einem Erziehungsheim raus war, und danach fuhr er selber auch wieder in den Knast ein. Also er hat das alles, was er beschrieben hat, auf seine eigene Erfahrung gegründet, und das gehörte zum Literaturprogramm dieser Zeit, zum so genannten Bitterfelder Weg.

Brink: Ein bisschen mehr noch zum Autor Bräunig. Sie haben es schon angedeutet, der hatte eine sehr gebrochene Biografie. Wie müssen wir ihn denn einsortieren in der DDR-Literatur? Er ist ja dann eigentlich doch vergessen worden, sonst wäre der Roman ja nicht 40 Jahre lang eigentlich fast in der Schublade gewesen.

Meyer-Gosau: Ja, er ist vergessen worden, weil er sich im Alter von 42 Jahren zu Tode getrunken hat. Er hat noch ein paar Erzählungen geschrieben, nachdem der Roman nicht erscheinen konnte, und hat dafür noch einen kleinen Preis bekommen. Dann hat er noch ein Kollektivwerk verfasst, wie das auch in den Geist der Zeit passte. Und dann ist er gestorben. Und das Tolle ist eigentlich, dass dennoch das Buch nicht untergegangen ist. Also im Westen wusste man nichts davon oder nur Spezialisten wussten davon, aber unter DDR-Bürgern und DDR-Literaturkennern war das klar, dass dieser Roman da ruhte wie eine immer noch tickende Bombe oder ein angereichertes Stück Literatur, könnte man vielleicht sagen.

Und in der DDR-Literaturgeschichte ihn einzuordnen, fällt deswegen schwer, weil er so wenig Gelegenheit hatte, was zu schreiben. Aber man muss sagen, er gehört zum Bitterfelder Weg, zum schon erwähnten, eine Literaturbewegung, die die Arbeiter in die Höhen der Kultur, wie Ulbricht sagte, führen sollte, und die Schriftsteller in die Betriebe.

Und er war beides, er war ausgebildeter Schlosser, aber war dann im Westen rumgewandert, als Gelegenheitsarbeiter wieder in den Osten zurückgekommen, da eben kurzzeitig Fördermann in der Wismut, bevor er wegen Schmuggeltätigkeiten, die ihn immer wieder nach Westberlin führten, tatsächlich in den Knast gewandert ist, und diese Geschichte hat er seinem Haupthelden Robert Lose auch mitgegeben. Das heißt also, er ist eine idealtypische Figur eigentlich für die Literatur der Zeit gewesen, nur dass das Ideal, dem er folgte, nicht das war, was die Partei gerne haben wollte.

Brink: Was muss man denn über die Wismut wissen eigentlich, um diesen Roman auch zu verstehen?

Meyer-Gosau: Das war ein abgesperrtes Gebiet. Das gehörte der Sowjetunion. Es war das größte Reparationsunternehmen nach 1945. Die Sowjetunion, im Wettlauf mit den USA um die Atombombe begriffen, baute dieses Uranerz ab auf DDR-Territorium eben und schaffte das dann in die Sowjetunion und baute ihre eigene Bombe, die dann ein halbes Jahr nach Hiroshima und Nagasaki tatsächlich gezündet wurde, und die waren darauf angewiesen, die Sowjetunion, dieses Fördergebiet zu haben, und die haben natürlich knallhart gesagt, also wir lassen uns hier auf gar kein Spielchen ein mit der deutschen Macht, das interessiert uns alles gar nicht, wir brauchen dieses Uranerz so schnell wie möglich, und das wurde abgebaut unter Bedingungen, die uns heute wirklich nur noch gruseln können. Davon wusste man vieles damals nicht, wie extrem gefährlich das war, aber man wusste schon, dass Arbeitsbedingungen, die in der Wismut herrschten, schon Sonderbedingungen waren.

Brink: Die Schriftstellerin Christa Wolff schreibt in einem Vorwort zum Roman, er zeige, wie die Bewohner der DDR gelebt haben, und wer die Hoffnungen und die Ziele ihrer oft übermäßigen Anstrengungen verstehen will, findet in diesem Buch eine Chance für Verständigung und Anteilnahme. Das klingt sehr ambitioniert. Sie haben das Buch gelesen. Hat sie Recht?

Meyer-Gosau: Also Anteilnahme mit dem Autor hundertprozentig. Verständnis, ja, ich denke, schon, aber das trifft im Westen natürlich auf ein paar Probleme, weil man hier gar nicht gewohnt ist, zum Beispiel über lange Strecken Arbeitsprozesse in ihrer ganzen Brutalität beschrieben zu bekommen. Das ist eine Art sozialistischer Expressionismus, könnte man sagen.

Brink: Ein bisschen mühsam zu lesen, oder?

Meyer-Gosau: Nein, gar nicht mühsam, aber für uns vollkommen ungewohnt. Also wollen wir es wirklich so genau wissen, wie man Uranerz abbaut, wie die Schächte neu angelegt werden, wie das Wasser da einströmt, was da alles gefährlich und grässlich und so weiter ist? Von unseren Literaturgewohnheiten her ist uns das unbekannt, daher fremd, und das ist sicherlich eine kleine Schranke, die man zu überspringen hat. Aber man muss sagen, also eine Hälfte des Romans, so weit wie er fertig geworden ist, ist einfach toller Lesestoff. Das ist fabelhaft beschrieben, also lebendiger als selbst jemand wie Wolfgang Koeppen die frühe Bundesrepublik beschrieben hat. Das war ein Autor, der hochbegabt war, über seine Mittel vollkommen verfügte und uns eine spannende Geschichte aus einer Welt erzählt, die uns unbekannt geworden ist.

Brink: Also eine Empfehlung?

Meyer-Gosau: Eine hundertprozentige Empfehlung!

Brink: Vielen Dank für das Gespräch.