Wilder Mut und kannibalische Liebe

15.06.2013
Die britischen Archäologen Thomas Wynn und Frederick Coolidge lassen die geistige Welt des Neandertalers wieder auferstehen. Sachlich und unterhaltsam - ein faszinierender Einblick in das wahre Leben und die Kultur des Neandertalers.
Dem Mann wurde im Leben nichts geschenkt: Ein Unfall hatte seine gesamte rechte Körperseite zertrümmert. Dazu fraß sich eine schwere Arthritis langsam und schmerzhaft in sein Kniegelenk. Dennoch biss er sich durch, denn Durchbeißen war seine zweite Natur: "Shanidar Nr. 1" lebte und starb vor fünfzigtausend Jahren. Seinen Namen haben ihm Archäologen verpasst - er war Neandertaler.

"Denken wie ein Neandertaler" heißt ein neues Buch der britischen Archäologen Thomas Wynn und Frederick Coolidge. Aus spärlichen Spuren lassen sie die geistige Welt des Frühmenschen wieder auferstehen, dessen Abstammungslinie sich vor mehreren hunderttausend Jahren von der unseren trennte.

Mit welchen Techniken fertigten Neandertaler ihre Faustkeile und was verrät das über ihre Art zu denken? Wie lebten sie in Höhlen zusammen und welche Familienstrukturen bildeten sich dort heraus? Mit welchen Worten mögen sie sich verständigt haben und rissen sie auch manchmal Witze?

Mit einem maßvoll-frischen Mut zur Spekulation gehen die beiden Autoren zu Werke und man gerät schon nach wenigen Seiten in den Bann ihrer Kombinationsgabe. Geballten Sachverstand verpacken sie in einen mühelosen Plauderton - als säße man im Café zusammen und ließe sich zwischen Kaltgetränk und Kuchen spannende Details aus einem etwas abgelegenen Forschungsgebiet erzählen.

"Shanidar Nr. 1" aus dem kurdischen Irak stand mit seinen Verletzungen keineswegs allein auf weiter Steinzeit-Flur, erklären die Autoren: So gut wie alle Skelette von Neandertalern weisen vielfache Zertrümmerungen und degenerative Gelenkerkrankungen auf. Was heißt das für ihre Persönlichkeit?

Spuren von Kannibalismus
Stoisch müssen diese Menschen gewesen sein und im hohen Maße schmerzbereit. Wenn die Not es verlangte, wurden sie auch skrupellos - davon zeugen Spuren von Kannibalismus. Auch die Liebe war ihnen nicht fremd - über Jahre hinweg pflegten sie schwer verletzte Artgenossen. Mit wildem Mut rangen sie der Natur ihre einzige Nahrung ab - gefährlich-großes Jagdwild.

Dabei setzten sie über Zehntausende von Jahren hinweg stets dieselbe Waffe ein, einen Holzspeer mit Steinspitze, der dem Mammut in die Rippen gestoßen werden musste. Das Gerät war leidlich kunstvoll gefertigt, wurde aber niemals zum Wurfspeer optimiert - mit ihrer Kreativität kann es nicht weit her gewesen sein. Im Kopf spazieren gehen, witzig oder frech um die Ecke denken, Zukünfte visionieren und auf lange Sicht planen - alles das war ihre Sache nicht.

Warum der Neandertaler ausstarb, bleibt bis heute ein Rätsel, beschließen die Autoren ihr Buch. Gewaltsam vom modernen Cro-Magnon-Menschen ausgerottet jedenfalls wurde er nicht. Vielleicht pflanzte er sich einfach zu wenig fort, um dem menschlichen Erfolgs- und Untergangsmodell der Evolution Paroli bieten zu können. Fantasie und Neugier, Humor, Betrug und Verrat eroberten die Welt. Der Neandertaler, der einst weite Teile Eurasiens durchstreifte, zog sich auf die Iberische Halbinsel zurück und verschwand.

Besprochen von Susanne Billig

Thomas Wynn, Frederick L. Coolidge: Denken wie ein Neandertaler
Zabern Verlag, Mainz 2013
288 Seiten, 29,99 Euro