Wilde Mähne und expressionistische Verse

Von Christian Linder · 03.09.2011
Ernst Meister war zu Lebzeiten ein Unbekannter der deutschen Nachkriegslyrik. Erst mit der späten Anerkennung durch den Petrarca-Preises 1976 und den Georg Büchner-Preises, der ihm nach seinem Tod 1979 posthum verliehen wurde, wurde sein eminentes Werk deutlich.
»In Kückelhausen sind wir geboren, zum Rauchen und zum Saufen auserkoren.«

Solchen Klartext liebte der wegen seiner dunkel-verschwiegenen Gedichte berühmte Ernst Meister gelegentlich. Als er einmal auf ein jugendliches autobiografisches Romanfragment zurückblickte, befand er:

"Zweihundert Seiten lang rede ich in meinem Roman von mir, ohne dass im romanhaften Sinne etwas geschieht. Sie sind eigentlich nur die Beschreibung meiner Langeweile."

Die Langeweile wird er in der westfälischen Provinz deutlich gespürt haben. Der am 3. September 1911 als Sohn eines Fabrikanten geborene Ernst Meister zog später mit der Familie von Kückelhausen ins Zentrum von Haspe, ein nach Meisters Worten »völlig ruhm- und legendeloses« Industriestädtchen, und auch das nur ein Ortsteil der nächstgrößeren Stadt Hagen. Früh versuchte Ernst Meister seine Langeweile zu kompensieren – mit wilder Mähne und wilden, expressionistischen Versen.

"Wir sind die Welt gewöhnt. Wir haben die Welt lieb wie uns. Würde Welt plötzlich anders, wir weinten. Im Nichts hausen die Fragen. Im Nichts sind die Pupillen groß. Wenn Nichts wäre, o wir schliefen jetzt nicht, und der kommende Traum sänke zu Tode unter blöden Riesenstein."

Das Gedicht "Monolog des Menschen" steht in dem 1932 erschienenen Band »Ausstellung«, mit dem der 21-Jährige debütierte. Ein Kritiker der »Vossischen Zeitung« sah in dem Buch den »gewiss nicht frivolen Versuch, Lyrik nach einer Jean Paulschen Anweisung 'aus dem Leeren' zu schöpfen.« Ernst Meister selbst kommentierte seinen Ansatz so:

"Ich ließ, vielleicht schon angesteckt von Rimbaud, 'den Menschen' einen anderen werden, setzte seine gewachsene Kausalität außer Kraft, ja, schritt gelassen zur Auflösung der Kreatur, entband die Teile vom Ganzen und objektivierte sie, wie es mir beliebte In der Malerei war das ja schließlich auch schon geschehen. Mit entsprechender Einsicht nannte ein Kritiker meine Produktion 'Kandinsky-Lyrik'."

In den 30er-Jahren studierte Meister Philosophie bei Hans-Georg Gadamer in Marburg. Im Dritten Reich publizierte er - außer einigen Prosaskizzen in der »Frankfurter Zeitung« - nichts. Nach 1945, aus dem Krieg zurück in Haspe, ließ er seine ersten neuen Gedichte als »Mitteilungen für Freunde« in Privatdrucken erscheinen, bis er sich 1953 mit dem Band »Unterm schwarzen Schafspelz« wieder an die Öffentlichkeit wandte. Er blieb zunächst - trotz Fürsprecher wie Walter Jens oder Beda Allemann - eine Randfigur in der Nachkriegsliteratur. Zu hermetisch erschien vielen seine Lyrik, in der es immer um die letzten Dinge ging, um das Verschwiegene und Nichterzählbare des Lebens, die Unlösung, das Geheimnis hinter den Erscheinungen.

Erst der Petrarca-Preis 1976 verschaffte ihm Ruhm. Zu diesem Zeitpunkt lag ein umfangreiches Werk vor: mehrere Gedichtbände, Prosaarbeiten und zahlreiche Hörspiele; nebenbei malte Ernst Meister auch. In seinem letzten, 1979 erschienenen Lyrikband »Wandloser Raum« führt er dann das ganze Wissen beziehungsweise Nichtwissen eines philosophisch hochgebildeten Kopfs vor:

"Geist zu sein oder Staub, es ist dasselbe im All. Nichts ist, um an den Rand zu reichen der Leere. Überhaupt/ gibt es ihn nicht. Was ist, ist und ist aufgehoben im wandlosen Gefäß des Raumes."

Wie diese in der Verwandtschaft mit Hölderlin oder Paul Celan geschriebene Lyrik entstehe, wurde Ernst Meister einmal gefragt:

"Es geschieht in der Tat durch den einfallenden Gedanken. Ich muss bekennen, dass bei mir Dichten identisch ist mit Denken. Wie diese Einheit zustande kommt, ist wiederum ein Rätsel, inwiefern das Denken seinen Körper im Gedicht erhält.«

Am 13. Juni 1979 erreichte Ernst Meister die Nachricht, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihn für sein Gesamtwerk mit der höchsten literarischen Auszeichnung in Deutschland ehren wolle, dem Georg-Büchner-Preis. Zwei Tage später starb er an Herzversagen.