Wikileaks, "Das Amt" und die Mediengesellschaft

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 11.12.2010
Stellen wir uns für einen kurzen Moment vor, das Internet und Wikileaks hätte es schon Anfang 1939 gegeben. Und die Internetplattform hätte massenweise Akten aus dem Auswärtigen Amt in Berlin ins Netz gestellt.
Die internationale Öffentlichkeit hätte die Chance gehabt, die wahren Absichten des NS-Regimes hinter der Propaganda zu erkennen: Dass der Eroberungswahn des nationalsozialistischen Deutschland nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei keineswegs beendet ist, dass die Appeasement-Politik ein Desaster gewesen und dass Hitler eine Gefahr für die europäischen Nachbarländer ist. Viel weniger Menschen in Großbritannien, Frankreich und den USA hätten sich Illusionen machen können. Und vielleicht wären die USA sehr viel früher in den Krieg eingetreten. Alles Spekulation, sicher. Aber das kleine Gedankenspiel illustriert, welches positive Potential Wikileaks haben könnte: nämlich offenzulegen, was es an wahren Absichten und verdeckten zweifelhaften Aktionen von ebenso zweifelhaften Regierungen gibt hinter der offiziösen Fassade der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit.

Aber Wikileaks gab es 1939 nicht, sondern ist einer breiten Öffentlichkeit erst seit wenigen Jahren ein Begriff. Und die Akten des Auswärtigen Amtes wurden nach 1949 zu großen Teilen offengelegt, aber allenfalls von einer interessierten Fachöffentlichkeit zur Kenntnis genommen. Es ist ein interessanter Zufall, dass zur Zeit parallel über zwei riesige Daten- und Informationskonvolute öffentlich diskutiert wird: Über die von Wikileaks verratenen Dateien aus dem US-Außenministerium und über die Akten des Berliner Auswärtigen Amtes über dessen Rolle in und nach der NS-Zeit. Beide Fälle haben unmittelbar nichts miteinander zu tun, aber die Behandlung beider Themen in der Öffentlichkeit offenbart interessante Muster der Mediengesellschaft im 21. Jahrhundert.

In beiden Fällen sprechen wir von Informationsmengen, die für sich genommen ziemlich wirkungslos sind. Kaum jemand hat die Zeit und das Interesse, sich durch dieses Gebirge an Daten und Unterlagen zu fräsen. Ihre Wirkungsmacht entfalten sie erst, wenn sie an Institutionen gelangen, die diese Informationen professionell auswählen, verdichten, bündeln und in ihrer Kernbotschaft zuspitzen: Das sind mehrere renommierte Zeitungen und Zeitschriften im Fall von Wikileaks; und bei den Akten des Auswärtigen Amts ist es die Historikerkommission zusammen mit der FAZ. Hier findet sich der Journalismus in einer nicht mehr ganz neuen, aber veränderten Rolle: Er liefert den notwendigen Treibsatz, um ein Thema in die zigtausendfach fraktionierte Öffentlichkeit der Mediengesellschaft zu tragen. Und zwar nicht als Ergebnis eigener Themenfindung und Recherche, sondern als Ergebnis einer strategisch verabredeten Kooperation mit den materialgebenden Institutionen.

Manche altehrwürdige Kollegen beklagen das als Kampagnenjournalismus. Und einige Altvordere des Faches Geschichte monieren: In der Studie stehe doch gar nichts Neues. Das sei doch alles längst bekannt. Beide Vorwürfe diskreditieren die Studie der Historikerkommission über das Auswärtige Amt in keiner Weise. In dem Vorwurf der älteren Historikergeneration steckt ein bisschen Neid darüber, dass sie zwar Bibliotheken mit ihren Publikationen gefüllt haben, dass sie aber die Breitenwirkung der Nachfolger nicht hatten – die ihre Arbeit medial besser vermitteln können.

In einer zigtausendfach fraktionierten Mediengesellschaft, und das gilt auch für Wikileaks, ist Aufmerksamkeit zu einem seltenen, kostbaren Gut geworden. Deshalb gibt es kaum noch einen anderen Weg als Medienkooperationen, um bestimmte Themen in eine breite Öffentlichkeit zu bringen. Das ist inzwischen auch gang und gäbe – anders wäre übrigens auch die Sarrazin-Debatte gar nicht in Fahrt gekommen. Fragwürdig ist allein, dass ein privates Medienunternehmen einen privilegierten Zugang zu der mit öffentlichen Geldern finanzierte Studie über das Auswärtige Amt bekommen hat. Wie Sie merken: Ein bisschen Neid gibt es auch bei mir.
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