Wie werde ich ein guter Deutscher?

Von Gerd Brendel · 30.05.2013
Özgür Erkök hat seinen deutschen Freund geheiratet. Der türkische Künstler will deshalb mehr erfahren über die deutsche Kultur und über "interkulturelle Kompetenzen". Er macht sich auf den Weg nach Weimar und stellt dort seine Frage: Wie werde ich ein guter Deutscher?
Özgür Erkök hat seine Aufenthaltsgenehmigung in der Tasche, demnächst beginnt sein Integrationskurs, aber Herr Erkök will nicht so lange warten, um mehr über die deutsche Seele zu erfahren.

Özgür Erkök sitzt im Zug nach Weimar:

"Was suche ich da? Was such ich da? Ich bin in meinem Integrationsprozess und wir gehen nach Weimar, zu fragen: Was ist die Seele von Deutsche?"

Özgür ist Anfang 30, Künstler aus Istanbul, vor kurzem hat er seinen deutschen Freund geheiratet. Demnächst beginnt sein Integrationskurs. Natürlich hat er schon von Weimar gehört:

Özgür: "Es gibt das Bauhaus, es gibt Kirchen und das Konzentrationslager und dann gibt es natürlich das Goethehaus."

Das Goethehaus: Hier lebte und arbeitete Deutschlands berühmtester Dichter. Ein paar Stunden nach unserer Ankunft erwartet uns der jetzige Hausherr Wolfgang Holler in Goethes Arbeitszimmer.

Holler: "This is what we call the Heiligtum … this is the most authentic room, because when he died in 1832 this was closed up, and in this neogothic cupboard was the manuscript of Faust II, when he died …"

Seit Goethes Tod 1832 hat sich hier nichts verändert. Das Manuskript von Faust II liegt so da, wie an seinem Sterbetag. War Goethe typisch deutsch?

Holler: "Er war wirklich ein Internationalist, er hat wirklich gesagt, wir haben nur eine Chance, wenn wir uns den anderen Kulturen öffnen, wenn wir in der Lage sind, das zu verstehen und dann dadurch was zu verstehen, was uns selber voran bringt. Da würd ich sagen, da war er schon sehr, sehr modern."

Özgür: "I am curious, how do you relate yourself to German identity?"

Holler: "Das ist schon very difficult to tell in english. Das ist schon eine schwierige Identität, muss ich sagen. Dazu kommt, dass ich viele Verwandte aus England und der Schweiz habe, insofern war die deutsche Seele bei uns immer etwas gebrochen. A little bit borderlined, etwas spekulativ, immer utopisch denkend, oft ganz fern von der Realität, aber dann wieder ganz spießig, ganz kleinbürgerlich, very narrow-minded, very strict und ich glaube auch, nicht sehr souverän. Die Deutschen sind kein souveränes Volk."

Özgür: "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust."

Typisch deutsch? Typisch Goethe? Typisch Faust?

"Kennst Du den Faust?"
"Den Doktor?"
"Meinen Knecht!"
"Fürwahr er dient Euch auf besondre Weise ... Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise."

Am ersten Abend in Weimar spielen Özgür und ein Freund in unserem Pensionszimmer den Prolog im Himmel nach. Gott fragt Mephisto nach Faust.

Özgür: "Vom Himmel fordert er die höchsten Sterne. Und von der Erde jede höchste Lust."

Der Tierbestatter in Weimar: Muss ein guter Deutscher tierlieb sein?

Özgür: "Das also war des Pudels Kern."

Am nächsten Morgen am anderen Ende der Altstadt. Özgür hat ein Ladengeschäft entdeckt: "Tierbestattungen" steht im Schaufenster. So etwas hat der Istanbuler noch nie gesehen.

Özgür: "This place is very interesting for me, a funeral place for pets. So can you explain what you do?"

Volker Somann: "Der Ursprung war, ich hatte eine Colly-Hündin, die musste ich vor nunmehr 13 Jahren einschläfern lassen. Die konnte nicht mehr …"

Volker Somann ist der einzige Tierbestatter in Weimar.

Somann: "Ich war damals der Meinung, die Tiere werden verbrannt, wenn man sie beim Tierarzt lässt. Erst ein paar Wochen später hab ich erfahren, was wirklich mit den Tieren passiert, wenn man sie da lässt: die werden gekocht und geschreddert und verarbeitet zu allem möglichen. Das war für mich ein leichter Schock."

Um andere vor diesem Schock zu bewahren, gründete er seine Firma.

Somann: "Hab gesagt: Wenn Sie mich kontaktieren, kann ich Ihnen einen schöneren Weg aufzeigen."

Özgür: "Welche Rolle spielen Tiere im Leben der Deutschen?"

Somann: "Für viele ältere Leute, wo jetzt der Partner gestorben ist, ist das natürlich auch so eine Art Ersatz. Das hab ich auch schon festgestellt, für viele ältere Leute, wenn da das Tier stirbt, das ist für die eine Katastrophe, die haben bis jetzt noch einen Kameraden gehabt, Hund oder so."

Özgür: "Ah, Kamerad!"

Muss er als "guter Deutscher" tierlieb sein? Schaden könne es nicht, meint Somann:

"Da lernt er viele Leute kennen. Das ist so: Ein Hundehalter, wenn er einen anderen trifft, wenn man Gassi geht, nach dem dritten Mal sagt man: Guten Tag. Und nach dem zehnten Mal unterhält man sich. Und das ist eine gute Basis für Integration."

Eine letzte Frage an den Tierbestatter: Glaubt er an einen Tierhimmel oder gar Menschenhimmel?

Somann: "Nichts passiert da, ich bin auch der Meinung, dass bei mir nichts passiert. Ich bin Atheist."

Chorsänger unter sich: Ist der Deutsche fromm?

Özgür: "Sag, lieber Faust, wie hältst Du´s mit der Religion?"

"Was können Sie mir darüber erzählen, was die Deutschen für ein Verhältnis zur Religion haben, und wie Religion ihren Alltag prägt?"

Sebastian Kircheis: "In dem Teil von Deutschland, indem wir sind, spielt es eine ganz geringe Rolle. Neun von zehn Menschen in Thüringen gehören keiner Religionsgemeinschaft an."

Pfarrer Sebastian Kircheis beantwortet Özgürs Gretchenfrage in der Herderkirche.

"Eine geringe Rolle, aber unser Landschaftsbild ist religiös bestimmt, in jeder dieser Dörfer steht eine Kirche und sendet irgendein Signal aus."

In Weimar zählt das Signal zum Weltkulturerbe. Wir stehen unter dem Flügelaltar von Lukas Cranach und Özgür will wissen, wie fromm er als guter Deutscher sein soll und entdeckt als ehemaliger Chorsänger Gemeinsamkeiten:

Kircheis: "Ich komme von der Musik her, ich habe als Knabe in einem Knabenchor gesungen, natürlich bei den Kruzianern und wenn ich das irgendjemanden beschreiben soll, dann ist das meine geistliche Grundlage, die sitzt ganz tief, das ist etwas, worüber man nicht nachdenken muss."

Özgür: "I was in a choir for several years, and we sang church music and Schubert."

Kircheis: "Wo?"

Özgür: "In Ankara and than in Istanbul … so I am very interested in you choir career."

Pfarrer Kircheis erzählt von seiner Zeit als Kruzianer, als Mitglied eines christlichen Knabenchores mit Internat unter staatlicher DDR-Aufsicht:

"Als ich in die vierte Klasse kam, da hing an der Wand ein Bild von Erich Honnecker und wir haben so aus Knete so Kügelchen gemacht und haben da drauf geschossen und dabei ist das Glas vom Bild kaputt gegangen und da gab es eine Untersuchung an der Schule, die grenzte an Gestapo."

Eine Geschichte aus einem untergegangen deutschen Staat. Deutsche Identität? Pfarrer Kircheis zeigt auf den Cranach-Altar.

"Man kann Identität in dieser Kirche ganz schön ablesen, das ist ein Stück von Weltrang und dort bei der Kanzel da hat es einen Schriftzug gegeben, der ist im dritten Reich entfernt worden, weil es ein jüdisches Wort, den Gottesbegriff enthielt."

In der Stadt Goethes, Herders und Cranachs konnten die Nazis schon in den 20er Jahren Fuß fassen. Im besten Hotel der Stadt war Hitler oft zu Gast und auf dem Ettersberg errichtete die SS ab 1937 das Konzentrationslager Buchenwald.

Buchenwald: Wie gut muss ich die Geschichte kennen?

Am nächsten Tag sind wir mit dem Stellvertretenden Direktor der Gedenkstätte Rikola-Gunnar Lüttgenau im ehemaligen KZ verabredet. Es ist das erste Mal für Özgür, dass er einen solchen Ort besucht. Schweigend folgt er Lüttgenaus nüchternen Erklärungen, bis es irgendwann aus ihm herausbricht:

"Warum? Wie konnten diese Verbrechen geschehen?"

Lüttgenaus historisch detaillierten Erklärungen zur Machtergreifung Hitlers beantworten den Kern der Frage nicht. Vor dem Krematorium bleibt der Historiker stehen:

Lüttgenau: "Es ist menschengemacht. Es ist nicht vom Himmel gefallen. Zum Beispiel am 16. April kommt Margaret Bourke White hier in das Lager, eine der berühmtesten Fotografen, und es wäre so einfach gewesen zu sagen: Jetzt haben wir den Beweis, wozu die Deutschen in der Lage sind. Und ich finde es bemerkenswert, dass sie sagt, dass was mich am meisten erschreckt hat, war dieser Leichenhaufen, das waren Menschen mit Augen und Ohren und Herzen und Beinen, die das gemacht haben."

Im Museum wird noch einmal der Alltag im Lager erzählt.

Özgür: "Wie gut muss ich mich in der Geschichte auskennen um ein Deutscher zu werden?"

Lüttgenau: "Im Wesentlichen hat das ja mit ihrer Neugier zu tun und nicht mit irgendwelchen Vorschriften."

Özgür: "Wie kann ich mich heute für die Vergangenheit verantwortlich fühlen, wie kann ich sie erklären?"

Lüttgenau: "Ich kann nicht sagen: Ich hab damit nichts zu tun."

Özgür: "Ich werde auch dauernd auf die türkische Vergangenheit angesprochen, auf die Armenier, die Kurden. Irgendwie stehe ich für diese Geschichte - ob ich will oder nicht, muss ich erklären, was zum Beispiel mein Großvater gemacht hat."

Lüttgenau: "Sie haben keine Möglichkeit dem zu entfliehen, außer Sie beschließen, deutscher Einsiedler zu werden."

Wie lebendig auch diese Vergangenheit in Weimar ist, erlebt Özgür am Abend, im "Falken" einer Studenten-Kneipe. Wir kommen ins Gespräch mit Georg, Künstler wie Özgür, leidenschaftlicher Landschaftsmaler und gebürtiger Weimarer. Von Buchenwald weiß er von seiner Mutter:

Georg: "Sie hat mir erzählt, dass sie in dem Dorf, wo sie aufgewachsen ist, in Udestedt, das zehn km von Buchenwald entfernt ist, ein Häftlingskonvoi durchzog, und die haben die in der Nacht in die Kirche eingesperrt und in der Nacht versuchten zwei Häftlinge auszubrechen und diese Häftlinge wurden erschossen."

Kann man auch ein guter Deutscher sein, ohne mit diesem Familiengeschichten aufgewachsen zu sein? Was bedeutet für Georg Heimat?

Özgür: "Heimat - What does it mean to you?"
Georg: "Ja, ich bin eine deutsche Seele, selbst wenn ich in Tadschikistan rumkrabbele und sehe diese unglaublichen Gletscher, fühle ich mit einem Mal so eine Sehnsucht nach einer Blumenwiese. Das ist doch verrückt so eine Sehnsucht nach Zuhause."

Georg fragt nach, wie Özgür das meine, mit dem Deutsch werden.

Georg: "He? If he is not a German, he cannot learn to be a german. What nation are you belonging?"

Özgür: "I am from Turkey."

Georg: "So you are belonging to turkey not germany. You can live here. And you can like it, and people can like you, but you are turkish."

Deutsch werden, das gehe doch nicht. Ihm könne es hier gefallen, er könne den Leuten hier gefallen aber er sei türkisch. Warum?

Özgür:"So what makes you german?"

Georg: "That I am growing in this place."

Özgür: "So what about turkish people who grew up here?"

Georg: "Mostly they are geprägt … of their families. The genetic material they have. I don’t know if you can feel like a German, I don’t think so … actually."

Weil er hier nicht geboren sei. Und die Kinder türkischer Eltern, die könnten auch keine Deutschen werden, wegen der Prägung und der Gene.

"I was quiete shocked by it."

Sagt Özgür später.

Özgür: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Künstler so naiv über nationale Identität sprechen kann. Ich hab ihn dann später gefragt, ob er denn auch Transsexuellen das Recht absprechen würde, ihr Geschlecht zu ändern. Und an diesem Punkt war das Gespräch zu Ende."

Seelenverwandte Handwerksgesellen: Gehört das Trinken zum deutsch sein?

Heimat, Sehnsucht, Herkunft, Frauen- und Männerrollen - ds wird ein sehr deutscher letzter Abend in Weimar: Denn zufällig ist der Falken das Stammlokal wandernder Handwerksgesellen, die Abschied von zwei Kameraden feiern.

Karl: "What we do it is typical german, but not typical for all of Germany. After your apprenticeship you have the possibility to go on a traditional walk: Wanderschaft, Tippelei. Walz."

Typisch deutsch, aber nicht typisch für alle Deutschen, erklärt Zimmermanns-Geselle Karl die Tradition, nach der Lehre auf Wanderschaft zu gehen. Die Hose, das Jacket , die Weste, die Staude - also das Hemd, der Hut, das sind so die Erkennungsmerkmale … und natürlich der goldene Ohrring.

Özgür: "I am really curious about the earrings, because I heard, the earrings are very important."

Karl: "Früher war der Goldring dafür gedacht, die Beerdigung zu bezahlen, sollte man auf der Walz sterben. Und das Loch für den Ring wird bis heute auf der Abschiedsparty mit einem Nagel durch das Ohrläppchen geschlagen."

Wandernde Handwerksgesellen sind eine Männergesellschaft mit rauen Bräuchen. Mit einer Ausnahme: Angela. Als Einzige trägt sie statt schwarz blau:

"Als Goldschmiedin, die mit Metall zu tun hat, muss ich blau tragen. Mein grauer Schlips steht für meine Verbindung: freier Begegnungsschacht, da dürfen auch Frauen Mitglied werden, im Gegensatz zur Verbindung der Zimmerleute hier heute Abend."

Wie sie sich als einzige Frau unter all den Männer fühlt?

Angela: "I am just a Kamerad."

"Kamerad" den Begriff hat Özgür schon beim Tierbestatter gehört.

Angela: "Klar muss ich beweisen, dass ich Eier in der Hose habe, wenn ich zum Beispiel mit meiner Kluft in eine Kneipe komme, werde ich erst mal angestarrt, als sei ich ein Clown, und wenn ich mal bewiesen hab, dass ich ein paar Bier vertragen kann, unterhalten sich die Männer auch ganz normal mit mir."

Gehört das Trinken zum Deutschsein? Und was braucht man noch, um ein guter Deutscher zu werden?

Angela: "A little bit a strange question."
Özgür: "Yes it is a strange question."
Angela: "How can I become a good turkish?"
Özgür: "Yeah, don’t ask, I am lucky I am asking the question."

Ja, stimmt, ist eine komische Frage, aber zum Glück stelle er, Özgür, hier die Fragen. Es wird ein langer Abend mit trinkfesten Handwerksgesellen und einer trinkfesten Gesellin.

Am nächsten Morgen im Zug erinnert sich Özgür:

"Das waren echte Obermachos, und Angela wollte es ihnen beweisen und dazu gehören, wenn ich es richtig verstanden habe. Ich hab das nicht erwartet, auf der einen Seite traditionelles Handwerkerbrauchtum auf der anderen Seite Männer mit Dreadlocks, die irgendwie wie Hippies in schwarzen Cordhosen aussehen, aber trotzdem keine Probleme haben, in kleinen Orten, Arbeit und Unterkunft zu finden."

In den Handwerksgesellen hat Özgür Seelenverwandte gefunden:

"Ich komme mir manchmal auch wie so ein Nomade vor. Jetzt bin ich in Berlin zu Hause, aber ich kann mir vorstellen mich in vielen Ländern zuhause zu fühlen. Viele meiner Künstlerkollegen führen so ein Nomaden-Leben, unterwegs von einem Stipendium zum nächsten."

Aber sollte er sich entscheiden zu bleiben, wüsste er jetzt, was er braucht um ein guter Deutscher zu werden?

"Mal überlegen: Okay, ich muss die Sprache lernen, pünktlich sein, irgendwie zerrissen und unsicher, ich sollte Kirchenchoräle singen. Ich sollte mir ein Haustier anschaffen und als Geselle auf Wanderschaft gehen. Was ich an Geschichte lerne, bleibt mir überlassen. O weh, ich glaube ich überlege mir das noch mal."