Wie verrückt

22.12.2009
Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz möchte in seinem Buch deutlich machen, dass die Grenzen zwischen Normalen und psychisch Kranken fließend sind. Letztere seien oft die farbigeren, feinfühligeren Charaktere.
Der Anruf kam aus der örtlichen Bundeswehrkaserne: Eine "entlaufene Patientin" befinde sich dort - ob man "nicht ein paar Wärter schicken" könne, um "die Frau wieder in die Anstalt zu verbringen". Und so geschah es: Das Krankenhaus schickte, aus lauter Spaß an der Freud, seine zartestgebaute Schwesternschülerin und befreite 500 bis an die Zähne bewaffnete Soldaten von einer Dame, die in manischer Seligkeit auf Tischen und Bänken tanzte.

In seinem neuen Buch "Irre! Wir behandeln die Falschen" befasst sich der Psychiater, Theologe und Bestseller-Autor Manfred Lütz mit seinem Fachgebiet, den psychischen Krankheiten. Wie schon in seinen anderen Werken möchte er Leserinnen und Leser mit allerlei humoristischen Einlagen vergnügen. Doch schon das Vorwort von Mediziner- und Komiker-Kollege Eckhart von Hirschhausen wirkt bemüht, und Manfred Lütz selbst haut im ersten Kapitel, wetternd gegen die "wahnsinnigen Normalos" dieser Welt, so launig auf die Pauke, dass man sich beim Lesen am liebsten die Ohren zuhielte.

So weit, so schade - denn das Buch wird nach dem Fehlstart richtig fesselnd. Auf nicht mehr als 200 Seiten führt Manfred Lütz in sämtliche Krankheitsbilder der Psyche ein, von Zwangserkrankungen über Schizophrenie, Psychosen und Neurosen bis hin zu Süchten aller Art. In wenigen Absätzen gelingt es ihm, typische Symptome, Verlauf, Therapiemöglichkeiten und Heilungschancen seelischer Grenzsituationen zu umreißen. Vor allem aber erzählt Manfred Lütz von den vielen Menschen, denen er als Psychiater und Kliniker im Laufe seiner Berufsjahre begegnete: eben jener Manikerin, die eine ganze Kaserne in Angst und Schrecken versetzte. Oder der chronisch schizophrenen Patientin, die nach der Gabe von Neuroleptika die Stimme ihrer geliebten, verstorbenen Lehrerin nicht mehr hören konnte und darüber so unglücklich war, dass der Arzt die Medikamentendosis wieder schmälerte. Oder dem soeben medikamentös von seinen Wahnvorstellungen befreiten alten Mann, der mit einem delirierenden Alkoholiker auf ein Zimmer gelegt wurde und sich nur zu gern davon überzeugen ließ, es wimmele in dem Raum von kleinen Männchen.

Manfred Lütz möchte deutlich machen: Die Grenzen zwischen normal und abweichend sind fließend, sie sind kulturell gesetzt und werden von der Mehrheitsgesellschaft viel zu rigide betont. Die Berührungsängste derjenigen, die sich als gesund definieren, münden in einer folgenschweren Isolation derjenigen, die als nicht zugehörig empfunden werden. Dabei sind sie, wie Lütz glaubwürdig bezeugt, oft die farbigeren, fast immer aber die feinfühligeren Charaktere. Ausführlich reflektiert der Autor zudem seine eigene, durchaus zwiespältige Rolle als Psychiater und Angehöriger einer Zunft, die sich in den vergangenen hundert Jahren nicht immer mit Ruhm bekleckerte und einen erheblichen Teil zur Zurichtung von Menschen mit psychischen Auffälligkeiten beitrug. Und so fungiert sein Buch auch noch als Einführung in medizinhistorische Aspekte der Psychiatrie.

Stark wird Manfred Lütz, wenn er als Arzt und wohl auch als Theologe spricht - wundersam und erstaunlich sind seine Begegnungen im Krankenhaus, erinnern von Ferne in ihrer Warmherzigkeit und Aufrichtigkeit an die Bücher des amerikanischen Neurologen Oliver-Sacks. Der hat es leichter: Er muss keinen rheinischen Humor unter Beweis stellen.

Über den Autor:
Dr. Manfred Lütz, geboren 1954, ist Psychiater, Psychotherapeut und Theologe. Seit 1997 ist er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln, einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie mit Versorgungsverpflichtung für den Kölner Süden. Er ist ausgebildet unter anderem in systemisch-lösungsorientierter, verhaltenstherapeutischer und psychoanalytischer Psychotherapie. In seinen Büchern befasst er sich aus der Sicht eines Psychotherapeuten satirisch mit Gesundheitsthemen und religiösen Fragestellungen. Bekannt wurde er durch verschiedene Bestseller, darunter "Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult" (2002) und "Gott – Eine kleine Geschichte des Größten" (2007), für das er den internationalen Corine-Buchpreis 2008 erhielt.

Besprochen von Susanne Billig

Manfred Lütz,
Irre! Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde.
Gütersloher Verlagshaus. Gebunden, 208 Seiten, 17,95 Euro
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