Wie Mediziner zu Mördern wurden

Moderation: Britta Bürger · 06.03.2013
Im Buch "Die Belasteten" beschreibt der Historiker Götz Aly, wie psychisch Kranke und körperlich Behinderte in der NS-Zeit von Ärzten umgebracht wurden. Die betroffenen Familien reagierten damals "sehr gemischt", so Aly. Sie hätten nicht "automatisch auf der Seite des Widerstands gestanden".
Britta Bürger: Jeder achte heute erwachsene Deutsche ist direkt mit einem Menschen verwandt, der zwischen 1940 und 45 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, weil er oder sie psychisch krank oder körperlich behindert war. Das schreibt der Historiker Götz Aly in seinem neuen Buch über die Euthanasie. An die 200.000 Menschen wurden in dieser Zeit ermordet, unterstützt und geduldet von Ärzten und Pflegern, auch von vielen Angehörigen. Götz Aly nennt sein Buch deshalb "Die Belasteten – eine Gesellschaftsgeschichte". Herr Aly, ich freue mich, dass Sie bei uns sind. Herzlich willkommen!

Götz Aly: Guten Tag!

Bürger: Sie stellen dem Buch die Widmung voran "Für Caroline". Das ist Ihre heute Anfang 30-jährige Tochter, die, wie wir später im Buch erfahren, kurz nach ihrer Geburt an einer Hirnhautentzündung erkrankt ist, die ihr Gehirn bleibend geschädigt hat. Wie hat diese persönliche Erfahrung Ihre Perspektive auf das Thema Euthanasie nach vielen anderen Studien, die Sie ja zum Nationalsozialismus gemacht haben, wie hat diese persönliche Erfahrung Ihre Perspektive diesmal gelenkt, vielleicht auch verändert?

Aly: Ja, also meine Tochter heißt nicht Caroline, sondern Carline, und sie wird in der Tat bald 35, sie lebt jetzt – erst ganz neuerdings – in einer Wohngemeinschaft, weil man eben als Eltern auch mal gucken muss, wie es dann irgendwann weitergeht, wenn man älter wird. Ja, sie hat mich eigentlich auf das ganze Thema gebracht.

Ich hatte vorher keine Studien zum Nationalsozialismus veröffentlicht. Ich habe, nachdem sie geboren war, begonnen, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, das war damals noch vollständig tabu. Ich habe gemerkt, dass einer meiner Großväter sogar einen Propagandaartikel für diese Euthanasie geschrieben hatte. Ich habe gemerkt, dass es Ambivalenzen gibt im Verhalten der Eltern, also von uns selbst, also dass man Todeswünsche hat und natürlich auch völlig aus der Bahn geworfen wird, wenn man realisiert, wie schwer ein solches Kind behindert sein wird. Es hat auch eine merkwürdige Frage auf der Intensivstation hier in Berlin gegeben, nämlich so am dritten Tag dieser sehr schweren Erkrankung – da war das Kind sieben Tage alt – kam der Oberarzt und zog uns so zur Seite und sagte, na ja, wir wissen nicht, ob ihre Tochter die nächste Nacht überlebt, aber wenn sie das tut, dann wird sie sehr schwer geschädigt sein. Und irgendwie habe ich das für eine Frage gehalten. Jedenfalls, wir haben sehr eindeutig geantwortet.

Ja, das ist tatsächlich die Grundlage dieses Buches, die Erfahrung mit der eigenen Tochter, aber die kommt nur sehr gelegentlich vor. Es ist interessant, dass ihr sehr zugewandter Amtsgutachter hier in Berlin, also der sie in ihren Behindertengrad einstufte, der von Anfang an sehr hoch war, dass das ein Arzt war, der selber an den Euthanasiemorden beteiligt war – das habe ich erst später herausgefunden, damals noch vor 30 Jahren. Der Arzt einer befreundeten Familie, mit dem ich gesprochen habe, Fritz Kühnke in Hamburg, hatte in Süddeutschland 40 Kinder hintereinander ermordet und war – ich habe ihn dann besucht, mit ihm gesprochen, er war zugelassener Arzt, er war wie gesagt ein sehr guter, beliebter Arzt in Hamburg-Altona –, er konnte das nicht erklären, er hatte es gemacht, und hatte gerade, als ich mit ihm sprach, den Aufruf Ärzte gegen den Atomtod unterschrieben. Also man darf sich diese Ärzte nicht einfach als skrupellose Mörder nur vorstellen.

Bürger: Ein Baustein, ein Mosaiksteinchen Ihrer wirklich akribischen Recherche in diesem Buch – Sie haben die Systematik der nationalsozialistischen Euthanasie untersucht, die Beweggründe, die Organisation, den Umfang der Morde, die Ausführung –, war Ihnen von Anfang an klar, dass daraus, wie das im Untertitel heißt, eine Gesellschaftsgeschichte wird?

Aly: Na, ich habe einen Großteil dieser Texte, habe ich schon früher jedenfalls die Forschungen dazu gemacht, und eine Gesellschaftsgeschichte ist es erst später geworden, jetzt, in der neueren Bearbeitung. Das liegt daran, dass man heute mehr über das Verhalten der Angehörigen weiß, der Krankenschwestern, und vor allem, dass man auch mehr über das Verhalten, die Lebensäußerung der Ermordeten selber weiß. Also inzwischen sind eben die Krankenakten zugänglich, man hat Korrespondenzen mit den Angehörigen dadurch, man hat abgefangene Briefe, die die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten geschrieben haben – man muss sich klar sein, die meisten waren alphabetisiert. Wenn jemand schizophren ist oder manisch-depressiv, der hat ja Phasen, in denen er alles begreift und aufschreibt und so, also das ist erst jetzt in den vergangenen Jahren möglich geworden.

Außerdem ist ja klar, der geschichtliche Abstand erlaubt Manches. Wenn Sie sich zuerst damit beschäftigen, dann schauen Sie natürlich auf die unmittelbaren Mörder und die Struktur des Mordens, die bürokratischen Abläufe. Wenn das dann getan ist und so einigermaßen bekannt und auch nicht mehr geleugnet wird, dann können Sie sich mit der Frage des ganzen gesellschaftlichen Dazwischen – wie haben sich eigentlich die Menschen so verhalten in dieser Zeit.

Bürger: Erzählen Sie uns mehr über die Rolle der betroffenen Eltern und Angehörigen damals, wie sind die damit umgegangen, wenn sie erfahren haben, dass ihre Kinder, ihre Geschwister, ihre Ehepartner abtransportiert und ermordet werden?

Aly: Ja, sehr gemischt, natürlich, aber es ist eben nicht so, dass die Angehörigen sozusagen automatisch auf der Seite des Widerstands gestanden hätten. Und ich glaube, das kann sich jeder vorstellen, der sich mal klarmacht, also wenn man so einen Verwandten hat, einen weitläufigen, der in die Psychiatrie kommt, oder auch einen Bekannten, der geistig entgleist, und man merkt irgendwann, das wird nicht besser, das wird sich wohl so verfestigen, dann wächst die Distanz relativ schnell. Ich glaube, diese Erfahrung kennt man auch aus der Gegenwart, auch von sich selber, wie schwierig es ist, dann den Kontakt zu halten.

Nun muss man sich die damalige Zeit und den Krieg vorstellen. Der Krieg führt dazu, dass die Leute sich auf das Unmittelbare konzentrieren, auf die Gesunden, die Angehörigen in den bombardierten Städten, die Männer an der Front, und natürlich sich weniger kümmern können um angehörige in Psychiatrien, dann die ganze Diskriminierung, die ohnehin besteht, aber durch die rassenhygienische Diskussion, diese ganze Erbpropaganda, dann auch sich klar machen muss, dass heute – in meinem Fall, im Falle meiner Tochter, bekommen Sie vom Staat unglaublich viel Unterstützung und Hilfe, das kann man gar nicht genug loben. Damals wurden Ihnen alle Unterstützungen entzogen wegen eines solchen Angehörigen. Auch für die gesunden Kinder wurde das Kindergeld Ihnen weggenommen.

Bürger: Gab es auf der anderen Seite aber Möglichkeiten für Angehörige, Widerstand zu leisten, sich erfolgreich zu wehren? Gab es dafür Spielraum?

Aly: Ja, klar, wenn Sie sich mit aller Kraft dagegen gewehrt haben, wenn Sie sofort gefragt haben, wenn Sie an Hitler telegrafiert haben: Wo ist der? Der ist heute früh abtransportiert worden, dann hatten Sie große Chancen, denjenigen wiederzubekommen. Und Sie hatten auch große Chancen, wenn Ihr Kind, das ein anderes Verfahren, also eine Todesspritze erhalten wollten, wenn Sie gesagt haben, definitiv nein, ich pflege das Kind zu Hause, dann ist da nichts gemacht worden. Also der Spielraum war groß, aber die Angehörigen sind natürlich auch manchmal bewusst und gezielt hintergangen worden, es ist ihnen gesagt worden, ja, das ist die beste Therapie und nun warten Sie mal ab, da passiert schon nichts.

Das hat es gegeben, aber man kann es auch statistisch messen: Es gibt inzwischen gute Untersuchungen darüber, im Fall der ermordeten Kranken war nach Aktenlage in 19 Prozent der Fälle der Kontakt der Familien zu den Insassen in den Heil- und Pflegeanstalten gut. Also regelmäßige Besuche, Taschengeldüberweisungen, Briefe und so weiter. Im Fall der Überlebenden war er in 40 Prozent der Fälle gut. Also man sieht, das Verhalten der Angehörigen beeinflusste das massiv.

Bürger: Erschreckend ist, dass Sie die Täter nicht nur in der strammen nationalsozialistischen Ärzteschaft ausmachen konnten, sondern wohl, das haben Sie eben auch schon angedeutet, auch in Wissenschaftskreisen, die durchaus reformorientiert waren. Wie lässt sich das erklären? Warum waren auch Reformer für den Euthanasiegedanken empfänglich, was für eine Ethik, was für ein Menschenbild hat da vorgeherrscht?

Aly: Es ist nicht nur das Menschenbild des Nationalsozialismus, sondern es ist ein Menschenbild, das wir heute auch sehr gut kennen, nämlich das moderne Streben nach möglichst vollständiger Gesundheit und Krankheitsvermeidung, und für alles und jedes eine Therapie zu finden, also einen Ausweg, dass es nicht so schlimm wird. Und in der Psychiatrie gab – und das ist eigentlich bis heute so –, gibt es ja nur symptomatische Therapien, also man kommt bis heute ja nicht richtig an die Ursachen heran. Man kann die Menschen irgendwie beruhigen oder gucken, dass es besser läuft, aber so richtig heilen, das ist oft schwer.

Und diese Ärzte im Nationalsozialismus, die wollten heilen. Die haben neue Heilverfahren eingeführt, und sie waren Reformer gewesen in der Weimarer Zeit. Es ist völlig verrückt, man muss dann wirklich sagen, verrückt – Sie haben da Dokumente, da suchen ärztliche Kommissionen dieses Mordapparates, suchen Menschen aus den Anstalten raus, sagen, die müssen noch ermordet werden, die haben wir vergessen. Also die sagen nicht ermordet, sondern desinfiziert oder behandelt oder so. Und in dem selben Bericht schreiben sie: In dieser Anstalt werden noch Patienten geschlagen und gefesselt, das muss unbedingt im Sinne einer modernen Psychiatrie abgestellt werden. Und damals, um das noch zu ergänzen, hießen psychiatrische Krankenhäuser Heil- und Pflegeanstalten – das ist 1942 abgeschafft worden, seit 1942 heißen sie Landeskrankenhäuser, Nervenkliniken und so weiter, so, wie wir es heute haben. Also den Ton auf das Heilen legen.

Bürger: Herr Aly, sie befassen sich seit über 30 Jahren mit diesem Thema. Warum kommt Ihr Buch erst jetzt, warum haben Sie das nicht längst zu Zeiten veröffentlicht, in denen noch kein anderer darüber geschrieben hat, in denen es auch noch keine Selbstberichte gab, in denen das Thema noch viel stärker tabuisiert war als heute?

Aly: Es ist immer noch tabuisiert. Ich schreibe ja in dem Buch, es werden immer noch nicht die Namen genannt. Das ist das erste Buch, in dem dort, wo ich sie habe, die vollständigen Namen der Ermordeten genannt werden, auch die Namen anderer Beteiligter, und das wird nicht getan – und warum? Aus Scham. Man sagt nämlich, mit Rücksicht auf die heute lebenden Verwandten. Nun sind das aber Opfer des Nationalsozialismus, und die haben ein Recht darauf, dass wenigstens ihre Identität, ihre Namen, ähnlich wie im Fall der ermordeten Juden auch bekannt ist, ganz egal, was irgendwelche Nachfahren darüber denken könnten. Ich glaube übrigens, die meisten stehen dazu sehr positiv.

Das ist das eine, und das andere ist, dass diese Themen – wie haben sich die Angehörigen verhalten, wie hat sich das gesellschaftliche Mittelfeld verhalten? –, dass die sehr stark ausgespart worden sind aus den oft überdetaillierten und auch langweiligen Spezialforschungen der letzten 20 Jahre. Und da kommt es mir drauf an, ein Gesamtbild, ein gesellschaftliches Gesamtbild zu entwerfen, das einem diese Zeit nahebringt, aber auch in einer Weise, dass man sich davon nicht ohne Weiteres distanzieren und auf die bessere Seite schlagen kann.

Bürger: "Die Belasteten – Euthanasie 1939 bis 1945 – eine Gesellschaftsgeschichte", morgen erscheint das Buch von Götz Aly im Verlag S. Fischer, und am Abend morgen wird er es gemeinsam mit dem Theater RambaZamba in der Berliner Charité vorstellen, um 19:00 Uhr im alten Hörsaal der Nervenklinik in Berlin-Mitte. Herr Aly, herzlichen Dank für Ihren Besuch und für das Gespräch!

Aly: Danke schön!


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