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Neuer Roman von Yasmina Reza
Virtuoses Kammerspiel mit Schwächen

Die Geschichten der französischen Dramatikerin Yasmina Reza bewegen sich immer im gleichen Milieu: dem des gut situierten, gebildeten französischen Bürgertums. In ihrem neuen Roman "Babylon" geht es um Entwurzelung, das Diktat des Banalen - und um einen Mord. Der allerdings kommt wenig überraschend.

Von Tanya Lieske | 31.07.2017
    Buchcover des Romans "Babylon" von Yasmina Reza.
    In Yasmina Rezas Krimi "Babylon" eskaliert eine Flrühlingsparty, die als nettes Event geplant war. (Hanser Verlag / dpa / pa / Peer Grimm)
    Die Erzählerin führt ein unauffälliges Leben. Sie wohnt in einem kleinen Apartment im fiktiven Städtchen Deuil-l'Alouette. Sie ist verheiratet mit einem netten Mann, Pierre; sie hat einen Sohn großgezogen. Ihr sicher gut bezahlter Job ist der einer Patentingenieurin, Spezialgebiet europäisches Recht. Dem Konzept von einem erfolgreichen Leben ist sie nachgekommen. Die Erzählerin heißt Elizabeth Jauze und ist jetzt über 60, ein Alter, das sie selbst erstaunt, denn 60, sagt sie gleich zu Anfang:
    "60 war das Alter von Eltern. Ein gewaltiges, ein abstraktes Alter. Jetzt bist du selbst so weit. Wie kann das sein?"
    Erinnerungen an die verlorene Zeit, der näher rückende Tod, auch die nicht ausgesprochene Frage, ob das schon alles war in ihrem Leben – all das versetzt Elizabeth Jauze in einen Zustand gesteigerter Wahrnehmungsbereitschaft. So entdeckt sie ausgerechnet in dem etwas täppischen Nachbarn Jean-Lino einen Gleichgesinnten. Jean-Lino ist ebenfalls in seinen 60ern. Eine gescheiterte Ehe und ein ebenfalls gescheiterter Lebenstraum, er wollte ein Restaurant führen, liegen hinter ihm.
    "Am Ende hatte ihm das Arbeitsamt eine Umschulung zum Großhandelskaufmann finanziert und eine Arbeitsvermittlungsagentur platzierte ihn im Kundendienst bei einem Filialisten für elektrische Haushaltsgeräte. Kinder hatte er keine. Sonst wollte er den Mächten, die sein Leben gelenkt hatten, keine Vorwürfe machen."
    Das Diktat des Banalen
    Höhere Mächte, die einst ein Schicksal entwarfen, sind im Universum der Autorin Yasmina Reza schon lange dem Diktat des Banalen gewichen. Ihre Figuren sind immer Durchschnittstypen, die sich daran aufreiben, dass sie dem, was ihnen widerfahren ist, keinen Sinn abringen können. Entfremdung ist ein passendes Wort; Reza selbst spricht öfter vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie von Entwurzelung. Ihre Figuren so weit zu treiben, dass sie genau diesen Zustand offenbaren, das ist das dramatische Movens in Yasmina Rezas Werk. Dabei gelingt es ihr, den tragikomischen Resonanzraum ihrer Figuren auszuleuchten, ohne diese der Lächerlichkeit preiszugeben. Etwa wenn sie Elizabeth Jauze in einen Zustand der Wohlstandspanik versetzt. Sie plant eine Frühlingsparty, rund 40 Personen sind eingeladen, alles soll zwanglos scheinen, doch nachts liegt sie wach:
    "Die Gläser! Mitten in der Nacht stand ich auf, um unsere Gläser zu zählen. 35, mehr oder weniger zueinander passend. Plus sechs Champagnergläser in einem anderen Schrank (...). Pierre sagte, es gibt doch Champagnergläser aus Plastik. Ich sagte, oh nein, bloß das nicht, ich bin schon über die Pappteller nicht glücklich."
    Gesellschaftlicher Knirschfaktor
    Der gesellschaftliche Knirschfaktor ist groß, für die Gastgeberin, die Gäste, die Leser. Da sitzen sie nun auf Stuhlkanten und knuspern Selleriestangen. Der Abend kommt trotzdem in Schwung. Dass es ein Kipp-Abend werden wird, ist klar, einer von der Sorte, bei dem der Alkohol die Zungen löst und Wahrheiten freisetzt, die in der Lebensarchitektur der anwesenden Bioinformatikerinnen und Anwälte für Industrierecht keinen Platz haben werden. Nicht ob es passiert, sondern wann und wie, das ist die Frage. Hinweise auf ein Verbrechen, in das Jean-Lino und seine zweite Frau Lydie verwickelt sind, streut Elizabeth in immer kürzer werdenden Abständen in ihren Bericht ein.
    "Die Wohnung über mir ist immer noch verplombt, der gelbe Aufkleber und die beiden wächsernen Siegel sitzen über der Türritze."
    Mit den Augen der marginal involvierten, aber maximal interessierten Elizabeth betrachtet man nun weiter das Ehepaar Jean-Lino und Lydie. Sie sind die Außenseiter in der kleinen Gesellschaft von Akademikern. Lydie verdient ihren Lebensunterhalt als New-Age-Heilerin, sie ist mit Klangschalen unterwegs und kann die inneren Organe resetten, sie ist außerdem Jazzsängerin – kurz, sie ist die farbenfroheste Figur im gesetzten Rahmen des Abends. Man wird Zeuge einer Szene, die sich vor einigen Tagen in einem Lokal abgespielt hat. Anwesend war auch Lydies Enkel Rémi, ein Junge, um dessen Zuneigung sich der scheue und kinderliebe Jean-Lino erfolglos bemüht. Im Streit zwischen Lydie und Jean-Lino ging es um Bio- versus Käfighühner:
    "Ja, Hühner setzen sich in Bäume, bestätigte Lydie abermals.
    "Da bitte!" Jean–Lino nahm uns zu Zeugen. Als der Kellner weg war, sagte ich zu Rémi, "wenn Oma Lydie uns erlauben soll, das Hühnchen zu essen, dann muss das Hühnchen vorher auf einem Baum gesessen haben."
    "Es muss auch Staubbäder nehmen können", fuhr Lydie fort, mit einer Haltung des Halses und in einem Tonfall, bei dem es Jean–Lino sofort hätte eiskalt werden müssen, wäre er nur etwas nüchterner gewesen. (...).
    "Recht hat sie", sagte Claudette El Ouardi abermals.
    "Und dein Gezwinker mit dem Kellner und dem Kleinen hat mir auch nicht gefallen, das weißt du."
    "Man wird sich wohl noch ein bisschen amüsieren dürfen, das ist doch alles nicht so schlimm, Süßbienchen! Rémi und ich, wir haben jetzt ein neues Spiel. Wenn wir das Wort Huhn geschrieben sehen oder hören, flattern wir!", sagte Jean-Lino, und dann winkelte er die Arme an, schloss die Augen, und flatterte auf Schulterhöhe mit den Händen, derart absonderlich, dass Georges Vapereau sofort loslachte."
    Im Dickicht moralischer Ambivalenzen
    Der Gegenstand ist klug gewählt, denn kaum irgendwo prallen die Argumentationslinien moderner Wohlstandsdiskurse so bedingungslos aufeinander wie beim Tierwohl. Wann genau macht der Mensch sich unmöglich, wenn er sich für das Federvieh echauffiert oder wenn er es lässt? Wo endet Gleichgültigkeit und wo beginnt die Dekadenz? Yasmina Rezas Prosa zeigt sich im Dickicht moralischer Ambivalenzen äußerst trittsicher. Jede Erzählbewegung sitzt, jeder Dialog passt, alle Teile in diesem Roman stehen im Dienst der puren Dramaturgie. Perfektion gelingt ihr nach so vielen Jahren des dramatischen Schaffens - und Babylon ist ein dramatischer Text - mühelos. Allerdings kann es genau hier passieren, dass Reza ihre Leser verdrießt: Sie liefert eine von allen Überraschungen befreite Lektüre. Vergebens hofft man zum Beispiel, dass ein anderer als der sanftmütige Jean-Lino später am Abend Lydie ermorden wird.
    "Lydie lag neben dem Totenwache haltenden Kater ausgestreckt in ihrer Abendgarderobe, Jean-Lino saß einsam unter der zum Trocknen aufgehängten Wäsche. In einem Märchenbuch, das ich früher einmal besaß, stach die Prinzessin sich mit einer Spindel und fiel in einen tiefen Schlaf. Man legte sie auf ein mit Silber und Gold besticktes Bett, sie hatte ebenso rotes Haar wie Lydie und ihre Lippen waren rosig. Auf meinem Handy traf eine SMS ein. Pierre sagte, auf keinen Fall antwortest du ihm!"
    Der gewünschte Effekt bleibt aus
    Babylon war das Land, in dem das jüdische Volk sich niedersetzte und weinte. Auch Jean-Lino, der gerade eine verzweifelte SMS an seine Nachbarn verschickt hat, ist der Nachfahre jüdischer Einwanderer. Doch lässt sich die Idee eines kollektiven Menschheitsexils wirklich verdichten in einer Textnachricht? Eher nein. Der gewünschte Effekt der literarischen Verrätselung bleibt aus. Yasmina Reza hat ein Kammerspiel virtuos erzählt, über sich hinausgewachsen ist sie nicht. Mehr als erfreulich ist hingegen die Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Für Wörter wie Posamentierwarenladen und Leichenbittermiene lohnt sich die Lektüre.
    Yasmina Reza: "Babylon".
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert, Hanser Verlag 2017, 218 Seiten, 22 Euro.