Wie kommt der Tierschutz in den Stall?

Über das "Schweinesystem" der Nutztierhaltung

Sollte Tierschutz in den Ställen oberstes Gebot werden?
Sollte Tierschutz in den Ställen oberstes Gebot werden? © imago stock&people
Matthias Wolfschmidt von Foodwatch e.V. im Gespräch mit Susanne Führer · 08.10.2016
Tierarzt Matthias Wolfschmidt hat über die Fleischproduktion das Buch "Schweinesystem" geschrieben. Ein großer Anteil unserer Nutztiere leide unter Krankheiten, die vermeidbar wären, stellt er fest.
Weder könne man die Verantwortung auf die Landwirte noch auf die Verbraucher schieben, stattdessen sollten Gesetze alle Landwirte zu tierschutzgerechten Haltungsbedingungen verpflichten, meint Wolfschmidt.
Wir wollen von ihm wissen:
Wie sieht eine tierschutzgerechte Haltung von Nutztieren aus? Kann es die überhaupt geben? Und braucht es wirklich neue Gesetze, wenn die Bürger durch ihr Kaufverhalten entscheiden können, wie wichtig ihnen der Tierschutz ist?

Matthias Wolfschmidt, Jahrgang 1965, ist approbierter Tierarzt. Bevor er 2002 zur Verbraucherorganisation Foodwatch e.V. kam, arbeitete er seit 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag, zuletzt in der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin". Seit 2005 ist er bei Foodwatch stellvertretender Geschäftsführer und leitet in Zusammenarbeit mit Geschäftsführer Thilo Bode das Foodwatch-Team.

Der stellvertretende Geschäftsführer von Foodwatch e.V., Matthias Wolfschmidt
© picture alliance / dpa / Soeren Stache

Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Heute wollen wir in "Tacheles" über Tierschutz sprechen, und zwar über den Tierschutz von Nutztieren. Ein Thema ist das, zu dem ja alles gesagt zu sein scheint, könnte man meinen, also nach dem Motto: Käfighaltung ist vielleicht ja nicht so schön, aber das gibt preiswerte Eier. Und wer will, kann sich ja schließlich auch ein Bio-Ei kaufen oder auch ganz drauf verzichten.
Matthias Wolfschmidt sieht das etwas anders. Er ist Tierarzt und stellvertretender Geschäftsführer des Verbraucherschutzvereins Foodwatch. Matthias Wolfschmidt fordert staatlichen Zwang, um den Tierschutz zu gewährleisten. – Erstmal herzlich willkommen hier in "Tacheles", Herr Wolfschmidt.
Matthias Wolfschmidt: Schön, dass ich da sein kann.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade ein Buch über die Nutztierhaltung herausgebracht. Kompliment für den Titel "Das Schweinesystem". Warum leben denn unsere Schweine in einem Schweinesystem?
Matthias Wolfschmidt: Leider nicht nur die Schweine. Das gilt eigentlich auch für die Rinder, die Hühner, die Puten, viele andere Tiere. Sie leben in einem Schweinesystem, weil es tatsächlich so ist, dass aus ökonomischer Perspektive es dem einzelnen Verbraucher, der einzelnen Verbraucherin, aber auch dem einzelnen Landwirt oder der einzelnen Landwirtin nicht möglich ist, die Tiere so zu halten oder dafür zu sorgen durch Kaufentscheidungen, dass die Tiere so gehalten werden, dass sie tatsächlich gesund gehalten werden, nicht verhaltensgestört gemacht werden in der Zeit, in der wir sie nutzen als Nutztiere.
Sondern das System, das ökonomische System, das die Preise diktiert, insbesondere die Handelskonzerne, die fünf großen, die profitieren davon, dass es ein großes Angebot an tierischen Lebensmitteln gibt. Was dazu führt, dass die Preise gedrückt werden und die Landwirte nicht so viel Geld erlösen für ihre Produkte, dass es ihnen ermöglichen würde, die Tiere so gut zu halten, wie es auch möglich wäre und wie es sein sollte aus unserer Sicht.
Deutschlandradio Kultur: Na gut, aber diese Bilder über Massentierhaltung und die Hühner in diesen riesigen Ställen, wo dann zehntausend Hühner auf einem Haufen sind, die sind ja nicht neu. Und es gibt doch jetzt eine ganze Reihe von Initiativen – vom Bauernverband, von Seiten des Landwirtschaftsministers Schmidt, das Tierwohl zu steigern. Bei meinem Metzger oder Fleischer oder Schlachter, je nach dem, wo man herkommt, gibt es auch so ein Schild "Aus deutschen Ställen – Tierwohl". Das hat sich doch gebessert.
Matthias Wolfschmidt: Vielleicht hat sich das Marketing gebessert, muss man sagen. Wenn man durch die Supermärkte oder auch durch die Bio-Supermärkte und Bio-Läden geht, gewinnt man ja den Eindruck, dass alles wunderbar sei. Insbesondere in der ökologischen Lebensmittelwirtschaft wird der Eindruck erweckt, dass da nun wirklich alles gut sei. Die Funktionäre des Bauernverbands betonen, dass sie dafür sind, dass es den Tieren besser ginge, immer besser ginge.

Viele kranke Tiere

Faktum ist: Es geht nicht nur um Tiere, die in großer Zahl gehalten werden. Es geht also nicht um die sogenannte Massentierhaltung automatisch und um Großbetriebe, sondern was man, wenn man die wissenschaftliche Schriftenlage oder Studienlage auswertet, erkennt, ist das Folgende: Dass es nämlich in allen Betriebsformen, in allen Betriebsgrößen, egal, ob konventionell oder ökologisch, egal, ob groß oder klein, ob kleinbäuerlich oder agrarindustriell, Betriebe gibt, die offensichtlich es gut hinbekommen, dass die Tiere gesund sind und auch was die Verhaltensauffälligkeiten anlangt, es nur geringe Probleme gibt.
Und es gibt in allen Betriebsformen Betriebe, in denen 50, 60, 70, 80 und sogar 90 Prozent der Tiere im Laufe ihrer Haltungsdauer oder Haltungsperiode mindestens einmal oder häufiger krank geworden sind. Und diese kranken Tiere, die werden am Ende des Tages zu Lieferanten unserer Lebensmittel.
Deutschlandradio Kultur: Aber das klingt jetzt so, Herr Wolfschmidt, als gebe es da einzelne Betriebe, also, es gibt eben die, die das gut hinkriegen, und dann gibt es noch ein paar, die das eben nicht gut hinkriegen, wie eben der Klempner in dem Haus, in dem ich wohne, für viele, viele Wasserschäden gesorgt hat. Und trotzdem würde ich ja jetzt nicht sagen, man sollte die ganze Klempner-Innung verklagen oder umbauen.
Matthias Wolfschmidt: Ich sage ja nicht, dass man irgendjemanden verklagen soll in dem Buch, sondern ich sage, …
Deutschlandradio Kultur: Meine Frage zielt jetzt darauf…
Matthias Wolfschmidt: … es sind nicht einzelne schwarze Schafe.
Deutschlandradio Kultur: Sie argumentieren ja, es geht um die Krankheiten. Die Tiere werden krank gemacht. Und Sie sagen, es liegt nicht an der Massentierhaltung. Da können die Tiere auch gesund sein. Also, nochmal die Frage: Wie viele Tiere sind denn krank?
Matthias Wolfschmidt: Enorm viele Tiere. Wenn man sich die Schlachthofbefunde anguckt, die sehr, sehr exakt sind, das sind sozusagen Obduktionsberichte, wie man es aus dem "Tatort" kennt. Im Schlachthof werden alle Schlachtkörper begutachtet bezüglich ihrer "Lebensmittel- und Genusstauglichkeit", wie das im Fachjargon heißt. Und gleichzeitig wird begutachtet, inwiefern an dem Schlachtkörper Zeichen für durchlebte Krankheiten zu finden sind.
Und zum Beispiel ist es so, etwa 50 bis 60 Prozent der Schlachtschweine mehr oder weniger gravierende Lungenentzündungen durchgemacht haben, etwa 50 bis 60 Prozent der Schlachtschweine mehr oder weniger gravierende Leberschäden zeigen. Es gibt Befunde bei den Gliedmaßen bis zu 90 Prozent, dass es entsprechende Hilfsschleimbeutel an den Klauen gibt, wo die Fachleute sagen, das ist mit Schmerzen verbunden. Die entwickeln sich auf zu hartem Betonboden bei den Schweinen.
Es gibt Schäden an der Haut. Es gibt Schäden am Brustbeutel, die darauf hinweisen, dass auch es am Herzen Probleme gab. Und es gibt am sogenannten Bauchfell Verklebungen, die darauf hinweisen, dass es auch entzündliche Prozesse im Bauchraum gab.
Das alles in hohen Prozentanteilen, gemittelt, und das alles auch, das weiß man auch, wenn man mit den Schlachtunternehmen spricht, mit einer großen Streuung. Das heißt, es gibt Betriebe, die liefern Schweine zum Schlachten an, bei denen gibt es ganz wenige solcher Befunde. Und es gibt Betriebe, bei denen gibt es ganz viele. Und es geht nicht um einzelne, wenige schwarze Schafe, wie das immer so schön heißt in der Diskussion, wenn es dann mal bekannt wird, sondern es ist ganz offensichtlich – medizinisch würde man sagen – ein endemisches Problem, ein systemisches Problem, weil es eben sehr, sehr häufig auftritt.
Deutschlandradio Kultur: Aber ist es denn ein Problem, was sich verschlimmert, oder im Gegenteil, was sich sozusagen ausschleicht? Also, ging es den Nutztieren früher besser als heute? Der Deutsche Bauernverband argumentiert ja umgekehrt. Der sagt, "die Haltungsbedingungen in Deutschland werden in immer stärkerem Maße auf die Bedürfnisse der Nutztiere ausgerichtet" und nimmt jetzt das Beispiel mit den Schweinen. "Tiergesundheitsindikatoren zeigen, dass es unseren Tieren besser geht als früher. Die Verlustrate ist in der Schweinemast von 4,1 Prozent im Jahre 2004/05 auf 2,6 Prozent im Jahr 2011/12 gesunken."
Matthias Wolfschmidt: Das ist wahrscheinlich sogar richtig diese Aussage. Der Bauernverband sagt aber nicht, was die sogenannten Produktionskrankheiten betrifft, von welchen Zahlen er ausgeht. Wir haben dazu keine entsprechende Statistik. Es gibt keine systematische Berichterstattung und damit auch keine entsprechende Erfassung dieser Zahlen.
Wenn der Bauernverband die Zustände, die heute ausweislich der wissenschaftlichen Studienlage offensichtlich herrschen in den Betrieben, als deutlich besser bezeichnet als vor zehn, 15, 20 Jahren, dann heißt das, dass es damals noch katastrophaler gewesen sein muss. Das kann so sein.

Begriff der "Produktionskrankheiten" ist 50 Jahre alt

Ein Hinweis darauf, dass es ein Problem ist, das wir seit langem haben, sei mir noch erlaubt: Den Begriff der sogenannten Produktionskrankheiten finden Sie in der veterinärmedizinischen Fachliteratur seit etwa 50 Jahren. Also, seit 50 Jahren reden Experten davon, dass Tiere, die wir als landwirtschaftliche Nutztiere halten, in der Art und Weise, wie wir sie halten und wie wir sie behandeln, systematisch krank werden, erkranken, dass diese Erkrankungen zu einem großen Teil, nicht vollständig, aber zu einem großen Teil vermeidbar sind und dass sie vermieden werden könnten, wenn man entsprechend mehr Aufwand betriebe als das heute der Fall ist.
Deutschlandradio Kultur: Aber was ich nicht verstehe: Sie haben ja gerade beeindruckende Zahlen genannt, negativ beeindruckende Zahlen, wie viele Schweine an Lungenentzündung erkrankt sind, diese schmerzhaften Schleimbeutel ausbilden usw. Nun steht ja die Landwirtschaft unter enormem Kostendruck. Da müsste man doch denken, dass das ökonomisch unsinnig ist, wenn die Tiere alle so krank sind, für die Landwirte.
Matthias Wolfschmidt: In der Tat müsste man das denken. Der Kostendruck ist enorm auf die einzelnen Landwirte. Ökonomisch ist es so, dass der Aufwand, den sie treiben müssten als Landwirte, um die Tiere perfekt zu halten im Sinne von Vermeidung vermeidbarer Erkrankungen, im Sinne eines Haltungssystems, das den Tieren so viel Raum gibt und Beschäftigungsmöglichkeiten, dass sie keine Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, dieser Aufwand ist so viel höher und so viel teurer als die Verluste, die sie durch diese beschriebenen Krankheiten in Kauf nehmen müssen, dass es betriebswirtschaftlich sich für den Landwirt nicht rechnet, den Aufwand zu treiben. Der bringt also Geld mit und ruiniert sich sozusagen, wenn er den Aufwand triebe an Zeitaufwand, womöglich Personalkosten, an baulichem Aufwand.
Deutschlandradio Kultur: Aber dann verstehe ich nicht, warum es dann doch ja vielen Betrieben gelingt, die Raten dieser sogenannten Produktionskrankheiten gering zu halten.
Matthias Wolfschmidt: Das hängt damit zusammen, dass die Faktoren, die darauf hinwirken, dass Tiere erkranken, sehr, sehr vielfältig sind. Sie müssen davon ausgehen, dass die Tiere, von denen wir sprechen, enorme körperliche Leistungen vollbringen, und zwar nicht zu gewissen Zeiten, sondern permanent. Schweine, Mastschweine nehmen im Durchschnitt täglich zwischen achthundert und eintausend Gramm zu. Milchkühe produzieren im Jahr im Durchschnitt achttausend Kilogramm Milch. Masthühnchen leben 35 Tage und nehmen im Durchschnitt mindestens hundert Gramm am Tag zu.
Das alles sind Leistungen, die der Körper erstmal vollbringen muss. Darauf sind die gezüchtet. Das ist also auch eine Frage der Genetik und der genetischen Ausstattung, aber das schaffen die gerade so. Das schaffen sie unter optimalen Bedingungen. Wenn wir also einen Betrieb sehen, in dem die Tierbetreuung optimal ist, auch das Know-how des Landwirts oder der Landwirtin optimal ist, in dem keine Unfälle passieren, wie zum Beispiel dass die Klimaanlage ausfällt, das Wetter umschlägt, dass jemand die Stalltür aufgelassen hat, dass das Futter nicht in Ordnung war und, und, und – dann gelingt es, die Tiere gut zu halten und auch gesund zu halten, selbst unter diesen Hochleistungsanforderungen. Aber die Anforderungen sind so hoch, dass eben nicht das Geringste schief gehen darf.
Deutschlandradio Kultur: Und wären Sie dann zufrieden, wenn das dann allen gelingen würde?
Matthias Wolfschmidt: Wenn es allen gelingen würde, hätte man zumindest einen harten Indikator dafür, dass die Tiere diese Art von vermeidbaren Schäden, Schmerzen und Leiden nicht durchleben mussten. Das wäre ein ganz wesentlicher Punkt. Aber der zweite Punkt ist, dass sie gleichzeitig formal, also unter den Gesichtspunkten des Platzangebots, der Möglichkeit, tierartgerecht wesentliche Verhaltensweisen auszuüben – Schweine müssen wühlen können, Hühner müssen picken können, Rinder müssen sich bewegen können – wenn diese Faktoren zusätzlich erfüllt sind, dann würden wir davon ausgehen, dass die Haltungsform tiergerecht ist.

"Gesunde Tiere... das ist das Ziel"

Also: Gesunde Tiere und nicht verhaltensgestörte Tiere, die ihre wesentlichen arteigenen Verhaltensweisen auch tatsächlich ausüben können, das ist das Ziel.
Deutschlandradio Kultur: Das Nutztier, das Wort sagt es ja schon, soll dem Menschen nutzen. Früher hat das Pferd die Kutsche gezogen und der Ochse den Pflug. Heute stehen die im Stall. Und man kann ja auch betriebswirtschaftlich argumentieren. Es handelt sich eben einfach um eine Abwägung von Interessen: preiswertes Fleisch für alle oder zumindest für sehr viele zu diesen Bedingungen - und dann muss man die Landwirte einfach ein bisschen besser schulen im Stallmanagement, damit die Tiere nicht erkranken – oder teures Fleisch und ein gutes Leben für Tiere, die ja aber ohnehin nicht lange leben.
Matthias Wolfschmidt: Man kann betriebswirtschaftlich argumentieren, dann muss man sich aber von bestimmten Gesetzen verabschieden, vom Deutschen Tierschutzgesetz zum Beispiel, dessen Zielvorstellungen ganz klar sind. Die Formulierungen lauten eindeutig, dass die Tiere nicht ohne vernünftigen Grund leiden dürfen und Schmerzen haben sollen, dass die Halter dafür Sorge tragen müssen, dass arteigene Verhaltensweisen wesentlich ausgeübt werden können und dass die Tiere eben nicht krank werden. Alles das steht als Zielvorstellung im Deutschen Tierschutzgesetz ganz klar formuliert drin.
Wenn man das nicht möchte als Gesellschaft, dann müsste man, zumindest was die Nutztiere anlangt, sagen: Das Tierschutzgesetz gilt nur für Hobbytiere, und für Nutztiere haben wir eine andere Art von Tierschutzanforderungen. Das kann man so formulieren. Ich persönlich würde das nicht begrüßen, aber es wäre möglich.
Deutschlandradio Kultur: Das finde ich jetzt eine sehr formale Argumentation, die, glaube ich, nicht so hilfreich ist. 1949 wurde ja das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Und da stand eben zum Beispiel drin und nach wie vor: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Trotzdem würde, wie man damals zum Beispiel Kinder behandelt hat oder Homosexuelle, aus unserer heutigen Sicht nicht mit diesem Grundgesetzartikel vereinbar sein. Oder nehmen wir die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Trotzdem musste Jahrzehnte lang die Ehefrau ihren Ehemann um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten gehen wollte.
Also, insofern sagen Sie, man müsste nur das Gesetz abschaffen. Ich hoffe doch, dass es doch noch andere Argumente für Sie gibt, außer nur dieses Gesetz. Denn Sie wären doch wahrscheinlich nicht zufrieden, wenn man sagen würde jetzt, na, dann streichen wir eben das Tierschutzgesetz und machen so weiter wie bisher.
Matthias Wolfschmidt: Ich persönlich wäre nicht damit zufrieden, aber ich bin ja auch nur ein Bürger in diesem Staat. Und ich bin davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft uns entscheiden müssen. Was wir nicht auf Dauer tun sollten und was aus meiner Sicht auch in keiner Weise rechtfertigungsfähig ist, ist es, einerseits hehre Ansprüche zu formulieren in Verfassung, im Tierschutzgesetz, und auf der praktischen Ebene es zu dulden und hinzunehmen, dass Tiere massenhaft erkranken, und zwar in vermeidbarer Weise erkranken, und das noch nicht mal systematisch zu erfassen.
Also, wir machen uns systematisch blind, weil wir bis heute weder in Deutschland, noch irgendwo in der Europäischen Union eine systematische Erfassung des Umfangs dieser Erkrankungen haben, was man leicht ins Werk setzen könnte. Ich werbe nur dafür, dass wir diese Diskussion endlich führen. Was wollen wir haben?

Tiergerechte Haltung als Standard der Zukunft?

Aus Verbrauchersicht, ich arbeite in einer Verbraucherrechtsorganisation, scheint es mir sinnvoll zu sein zu sagen: Wir wollen uns drauf verlassen können, dass – egal, wo wir Lebensmittel kaufen, die tierische Bestandteile enthalten, das kann Fleisch, Wurst, Milch, Käse sein, aber auch verarbeitete Produkte wie Backwaren oder Süßigkeiten – dass wir uns darauf verlassen können, dass die Zutaten von Tieren stammen, die tiergerecht gehalten worden sind. Das wäre mein Vorschlag als Anspruch. Das kann man nicht von heute auf morgen erreichen, aber vielleicht in zwanzig Jahren, wenn man diesen Anspruch formuliert als Gesellschaft.
Wir erreichen dieses Ziel nicht durch freiwillige Initiativen, durch Marketingbegriffe wie "Tierwohl", die die ganze Situation ja nur schön färben sollen und behaupten, es würde den Tieren permanent immer besser gehen, was schlicht und ergreifend eine Täuschung der Öffentlichkeit ist. Sondern wir erreichen es nur, wenn wir uns darauf verständigen: Wir müssen uns anstrengen. Und, zweiter Punkt: Wir müssen die Landwirte entsprechend so entlohnen, und die müssen dann auch den Nachweis liefern dafür, dass sie die Leistung auch erbringen, so entlohnen, dass sie das machen können, dass die Tiere wirklich gesund gehalten werden.
Deutschlandradio Kultur: Matthias Wolfschmidt setzt sich für einen, wie wir gerade gehört haben, verbindlichen Tierschutz ein. Herr Wolfschmidt, Sie haben gerade gesagt, ich will mich als Verbraucher drauf verlassen können, dass die Tiere tiergerecht gehalten wurden. – Aber gibt es denn objektive Kriterien für "Tierwohl", das Wort mögen Sie nicht hören, für den Tierschutz?
Sie argumentieren mit der Gesundheit. Jetzt habe ich mich gefragt: Ist das wirklich ein gutes Kriterium? Wie gesund sind freilebende Wildschweine zum Beispiel? Vögel haben massenhaft Parasiten in ihren Nestern, unter denen sie leiden. Wir können auch auf die Menschen blicken. In meinem Freundeskreis gibt es Menschen mit Diabetes, mit Bluthochdruck, mit Allergien, mit Arthrose. Trotzdem leben die alle gern.
Matthias Wolfschmidt: Das steht außer Zweifel, dass das bei den Menschen so ist grundsätzlich. In der freien Wildbahn haben wir alle möglichen Phänomene. Da werden auch viele Tiere von Räubern gefressen. Und die verenden an Krankheiten. Das ist alles klar.
Aber hier haben wir es ja mit Tieren zu tun, die wir für unsere Zwecke nutzen, äußerst intensiv nutzen, und die eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als sie sie von Natur aus haben. Ein Mastschwein lebt sechs bis sieben Monate. In der freien Wildbahn kann ein Wildschwein 20 Jahre alt werden. Eine Milchkuh lebt im Durchschnitt viereinhalb Jahre im Moment. Die hat eine Lebenserwartung von locker 20 Jahren. Ein Masthühnchen lebt 35 bis 37 Tage. Die Hühner können mehrere Jahre alt werden. Legehennen leben ein Jahr, anderthalb Jahre maximal.
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie ja nur ganz wenig. Dann wollen Sie ja nur, dass dieses Masthühnchen diese 35 Tage lang ein ganz nettes Leben hat.

"Eigentlich will ich ganz wenig"

Matthias Wolfschmidt: In der Tat. Eigentlich will ich ganz wenig. Aber dieses Wenige scheint ja schon zu viel zu sein, um es als ein allgemeines Ziel zu formulieren.
Und wenn ich nochmal zurückkommen darf auf Ihre vorhin gestellte Frage: In der Tat, wir können sehr, sehr genau naturwissenschaftlich, medizinisch definieren, wann die Tiere in welchem Maße gesund oder krank sind. Das können wir sehr gut objektivieren. Wir können nicht objektivieren, ob sich die Tiere wohl fühlen. Wir haben aber eben solche Indikatoren, einerseits die harten, wenn Sie so wollen, schulmedizinischen Gesundheitsindikatoren. Und wir haben gleichzeitig noch die Verhaltensindikatoren. Die Verhaltensweisen von den von uns genutzten landwirtschaftlichen Nutztieren sind sehr, sehr gut erforscht. Wir wissen sehr genau, was die eigentlich für Bedürfnisse haben.
Wir können die Gesundheit beurteilen und die Verhaltensweisen. Wenn wir die in Ordnung kriegen, und zwar in allen Haltungen, in allen Betrieben, egal ob groß, klein, Öko, konventionell, dann haben wir schon einen großen Schritt im Sinne des Tierschutzes getan.
Deutschlandradio Kultur: Dass das was kosten wird, dazu kommen wir gleich noch. Ich würde gern nochmal bei dem Punkt bleiben, dass Sie ja so wenig verlangen. Also, Sie haben ja so eindrücklich geschildert, wie diese Tiere leiden. Wenn so ein Schwein pro Tag ein Kilogramm an Gewicht zunimmt, dann wissen wir doch, dass das eigentlich widernatürlich ist. Nun gibt es ja immer mehr Menschen, die daraus den Schluss ziehen, ich werde Vegetarier oder die ganz Konsequenten, die sagen, ich werde Veganer. Das heißt, ich esse gar keine Produkte mehr vom toten Tier, verzichte auch auf Lederbekleidung usw. Warum schlagen Sie diesen Weg nicht vor?
Matthias Wolfschmidt: Der Anteil der vegan lebenden Menschen in Deutschland soll sich so auf etwa ein Prozent der Wohnbevölkerung beschränken. Und 99 Prozent, also rund 80 Millionen Leute in diesem Land, die eben in irgendeiner Form tierische Produkte konsumieren.
Solange das so ist, werden Tiere gehalten werden. Also können wir nicht sagen, dermal einst werden wir eine vegane Gesellschaft sein. Ob wir beide das erleben werden, steht dahin. Sondern wir müssten sagen: Bis es denn so weit käme, sind wir dennoch verpflichtet, die Tiere so zu behandeln, dass wir sagen können mit gutem Gewissen, wir haben ihnen ein ihrer Art, ihren Bedürfnissen gemäßes Leben gewährleistet.
Deutschlandradio Kultur: Na ja, aber was mich erstaunt, ist, dass Sie ja sehr viel Mitgefühl, Mitleiden mit der Kreatur einerseits aufbringen, auf der anderen Seite gar nicht dazu aufrufen, dass der Verbraucher, wie es heißt, ich würde lieber von Bürgern sprechen, sich entsprechend verhält. Denn jeder von uns trägt ja eine Verantwortung dafür, wie er lebt, was er einkauft. Und Sie entlassen die Bürger komplett aus dieser Verantwortung und sagen nur, jetzt muss der Staat her und endlich strenge Gesetze erlassen und auch dafür sorgen, dass die eingehalten werden.
Matthias Wolfschmidt: Ich entlasse die Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht aus der Verantwortung, denn ich fordere – und ich habe das noch von niemandem gehört, insofern ist das vielleicht sogar eine sehr radikale Forderung –, dass die Menschen in diesem Land denjenigen Preis bezahlen müssen, den es kostet, um die Tiere so zu halten, wie wir das vorhin diskutiert haben. Denn der Preis wird höher sein. Aus meiner Sicht gibt es dafür keine mögliche Rechtfertigung, einen niedrigeren Preis zu verlangen, der um den Preis der Schmerzen und des Leidens der Tiere nur erreichbar ist. Also, das kann man aus meiner Sicht nicht gegeneinander ausspielen.
Deswegen ist die Forderung zu sagen: Wenn ihr denn tierische Produkte oder von Tieren stammende Zutaten konsumieren wollt, müsst ihr den Preis bezahlen, den es kostet, um die Tiere ordentlich zu halten.
Deutschlandradio Kultur: Und wie viel höher wird der Preis sein als heute?
Matthias Wolfschmidt: Da kann man tatsächlich nur schätzen. Der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium hat im vergangenen März ein Gutachten vorgelegt, in dem er zu dem Schluss kommt, die Nutztierhaltung in Deutschland sei nicht zukunftsfähig. Die Experten rechnen da in dem Gutachten mit Mehrpreisen zwischen drei und sechs Prozent. Das scheint mir sehr optimistisch zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Das ist sehr wenig.
Matthias Wolfschmidt: Das würde man kaum spüren, abgesehen von Menschen, die sehr wenig Geld haben, über die wir gleich auch noch sprechen können. Wenn man davon ausgeht, dass alle Tiere so gehalten werden, wie ich das skizziere in meinem Buch, gehe ich davon aus, dass der Mehrpreis in der Größenordnung zwischen 20 und 40 Prozent liegen wird, was nicht wenig ist.
Wenn man sich jetzt Milch anguckt, würde das bedeuten, die ist ja im Moment sehr billig, dass es in Zukunft auch beim Discounter keine Milch mehr unter 70 oder 80 Cent den Liter geben wird, vielleicht sogar 90 Cent. Die Eier würden halt 20 Cent kosten und nicht mehr 10 oder 12. Und wenn es ums Fleisch geht, dann – abgesehen von den Supersonderangeboten, die es auch in Zukunft geben würde, weil Handelskonzerne nun mal versuchen damit Kunden anzulocken – würde man eben auch auf den Preis, den man heute zahlt, regulär an der Bedientheke oder auch an der Kühltheke nochmal ein Drittel draufschlagen müssen. Das wird der Mehrpreis sein, so denke ich – plus/ minus.
Deutschlandradio Kultur: Aber hat denn nicht heute der Mensch auch schon die Wahl, was er jetzt einkauft, also, vorausgesetzt, er hat ein bisschen Geld und sagt, ich kaufe jetzt eben Bio-Produkte, wenn ich schon Fleisch kaufe, oder zumindest aus artgerechter Tierhaltung?
Matthias Wolfschmidt: Jeder und jede kann natürlich Bio-Produkte kaufen. Der Mehrpreis ist 50 bis 100 Prozent von den konventionellen Angeboten, was zum großen Teil mit der Logistik zusammenhängt. Also, das sind kleine Stückzahlen. Das ist alles teurer. Der Schlachtpreis ist höher. Die Verteilung ist teurer.
Aber man muss sich die Marktanteile angucken. Geflügelfleisch ökologischer Herkunft hat einen Marktanteil von 0,8 Prozent, Schweinefleisch von 1,2 Prozent und selbst Rindfleisch nur von etwa 2,5 Prozent. Das heißt, 98 bis 99 Prozent des Marktes werden bedient aus konventioneller Haltung.

Zu große Preisunterschiede und Wahlmöglichkeiten

Solange die Preisunterschiede so hoch sind, wird sich aus meiner Sicht daran nicht allzu viel ändern. Deswegen sage ich ja, und das ist ja für jemanden, der Verbraucherpolitik macht, nicht wenig zu sagen: Liebe Leute, wir können diese Auswahl gar nicht rechtfertigen, wenn mit dieser Auswahl einhergeht, dass die Tiere vermeidbar krank gemacht werden, an Verhaltensstörungen leiden und wirklich Schmerzen und Elend erleiden müssen.
Deswegen sollte es diese Wahlmöglichkeit gar nicht geben. Abgesehen davon, dass die Bio-Tiere auch nicht notwendigerweise gesünder sind als die konventionell gehaltenen, bin ich der Auffassung, lasst es uns so machen: Die Tiere sollen ordentlich gesund gehalten werden. Und die Bauern müssen dafür ordentlich bezahlt werden. Und alles danach, darum soll Wettbewerb sein. Und dann sollen die Verbraucherinnen und Verbraucher da hingehen, wo diese Ware am billigsten angeboten wird meinethalben, aber nicht es den einzelnen Verbrauchern überlassen, durch eine Kaufentscheidung die Lebensbedingungen der Tiere zu beeinflussen. Das klappt einfach nicht.
Deutschlandradio Kultur: Genau. Man könnte sagen, also, Sie sind Realist genug und nehmen die Menschen so wie sie sind, die ja immer behaupten, sie würden ja gerne für gesund gehaltene Nutztiere mehr ausgeben, aber es dann ja doch nicht tun. Aber ich wollte nochmal auf diesen kleinen Punkt hinaus, was ja doch auch ernüchternd ist, wenn man Ihr Buch liest, dass das Fleisch aus den Bio-Betrieben gar nicht notwendigerweise aus einer besseren Haltung stammt.
Matthias Wolfschmidt: Also dass die Tiere nicht notwendigerweise gesünder gewesen sind. Das ist das Entscheidende.
Deutschlandradio Kultur: Aber aus einer besseren Haltung vielleicht schon?
Matthias Wolfschmidt: Formal haben die ja mehr Platz. Das ist ganz klar geregelt in der Öko-Landbauverordnung, der europäischen. Also, da gibt’s ein Gesetz für. Und die Anbauverbände, also Bioland, Naturland, Demeter, und wie sie alle heißen, die haben dann nochmal so eigene Spezifikationen, die teilweise darüber hinaus gehen. Die Tiere haben also mehr Platz, haben oft auch Außenzugang, können also nach draußen. Die Schweine liegen auf Einstreu, was gut für ihre Klauen ist, aber nicht unbedingt für ihre Lungen und Lebern. Die haben dann häufiger Parasiten, die Lebern zum Beispiel.
Es ist ein komplexer Prozess. Und man sollte sich vor Augen führen, auch als jemand unter den Hörerinnen und Hörern, der oder die sich entschieden hat Bio zu kaufen: In der europäischen Öko-Landbauverordnung spielt die Gesundheit der Tiere überhaupt keine Rolle. Bei der Eierkennzeichnung 0, 1, 2, 3 spielt die Tiergesundheit überhaupt keine Rolle. Es geht nur um die formalen Kriterien.
Warum ist das so? Weil wir alle in der Tiermedizin, in der Landwirtschaft Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre gedacht haben, wenn wir die formalen Haltungsbedingungen verbessern für die Tiere, wenn wir ihnen mehr Platz geben und sie rauslassen und dann die Einstreugeschichte regeln, werden die Tiere automatisch gesünder sein. Und heute wissen wir, so traurig es ist, dem ist nicht automatisch so.
Es gibt exzellent arbeitende Bio-Betriebe. Und es gibt leider welche, bei denen es um die Tiergesundheit genauso schlecht bestellt ist wie in den schlechten konventionellen Betrieben. Das wissen die Öko-Anbauverbände. Das ist wissenschaftlich eindeutig belegt. Es ist in der öffentlichen Diskussion noch nicht angekommen.
Deutschlandradio Kultur: Also, auch im Tierschutz bleibt die Welt leider kompliziert. Herr Wolfschmidt, jetzt mal angenommen, Deutschland geht voran und sagt, okay, wir machen Gesundheits-Monitoring aller Ställe. Wir erlassen nochmal Durchführungsgesetze für die Landwirtschaft. Wir kontrollieren auch, dass das alles passiert. Wie wollen Sie dann verhindern, dass die Leute stattdessen dann die billige Ente aus Frankreich kaufen oder das preiswerte Rindfleisch aus Spanien?
Matthias Wolfschmidt: In der Tat muss man das europäisch angehen das Thema. Es gibt aber niemanden, der bislang die Zielvorstellung formuliert hat, die ich vorhin schon mal erwähnt habe: Wir wollen als Verbraucher oder als Bürgerinnen und Bürger sicher gehen, dass von Tieren stammende Lebensmittel oder Zutaten aus tiergerechten Haltungs- und Lebensbedingungen der Tiere stammen.

"Man könnte das in 20 Jahren erreicht haben"

Wenn man das als Ziel formuliert und die entsprechenden Maßgaben vornimmt gesetzlich, dann wird man sagen müssen, in 20 Jahren möchten wir das erreicht haben. Wir müssen es europäisch angehen. Deutschland ist kein kleiner Player. Wir sind der größte Produzent von Schweinefleisch, der zweitgrößte oder größte Milchproduzent derzeit in der Europäischen Union. Wir produzieren am zweitmeisten Rindfleisch usw. Also, wir sind ein richtig großer Player, gemeinsam mit Frankreich. Wenn der politische Wille und der Mut seitens irgendeiner Bundesregierung, es gab noch keine solange ich denken kann, dieses Ziel zu formulieren und die Wege, die Mittel, die Methoden dahingehend auszurichten, dann könnte man das in 20 Jahren erreicht haben.
Und wenn Sie jetzt die Frage stellen wollen, was machen wir dann mit Billigimporten aus Drittländern, dann sage ich: Wir können auch einen Außengrenzenschutz etablieren. Das kann zu Ärger bei der Welthandelsorganisation führen. Aber wir können das durchsetzen. Und zur Not zahlen wir halt dafür entsprechende Strafen an die WTO.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir es dann in der EU durchgesetzt haben. Okay. Also, dann warte ich jetzt auf die Politiker, die sich hinstellen und sagen: "Ich sorge dafür, dass eure Lebensmittel 20 bis 40 Prozent teurer werden, erst in Deutschland, dann in der gesamten EU."Das haben wir dann in 20 Jahren, sagen Sie, Herr Wolfschmidt. Was tun wir jetzt in der Zwischenzeit?
Matthias Wolfschmidt: Wir müssen damit anfangen. Bis heute hat sich tatsächlich kein Regierungsvertreter, keine Bundeskanzlerin, kein Landwirtschaftsminister, keine Landwirtschaftsministerin überhaupt getraut zu sagen, "wir haben diese Probleme. Wir müssen sie auch noch genauer anschauen in den Ställen. Und wir wollen uns auf den Weg dahin machen." – Die Bauern brauchen Planungssicherheit. Die Bauern brauchen Geld. Das sollen sie dafür bekommen. Aber man muss heute damit anfangen.
Deutschlandradio Kultur: Aber ich meinte es jetzt ganz konkret. Was tun wir in der Zwischenzeit? Vegan werden?
Matthias Wolfschmidt: Vielleicht werden mehr Leute vegan werden. Das muss ja jeder für sich entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Ja. Aber was kann ich denn jetzt tun, wenn ich sage, ich möchte keine Produkte vom kranken Tier? Was kann ich tun?
Matthias Wolfschmidt: Im Moment können Sie gar nichts tun als Verbraucherin. Der erste Schritt wird sein, sich genau diese Erkenntnis einzugestehen, dass – auch wenn ich ökologisch erzeugte Produkte kaufe – ich diese Gewissheit nicht habe, dass – auch wenn ich teurere Produkte bei den etwas edleren Supermarktketten einkaufe – ich diese Gewissheit nicht habe – allen Marketingversprechungen zum Trotz.
Das Entscheidende wird sein, dass wir uns zu dieser Erkenntnis durchringen, das fehlt aus meiner Sicht bislang, und wegkommen von diesen ideologischen Setzungen, die faktisch einfach nicht abgedeckt sind – ich kaufe Bio oder ich kaufe vom kleinen Bauern und dadurch weiß ich, dass es den Tieren besser geht. Wie gesagt, dem ist nicht notwendigerweise so.
Und dann müssen wir uns klarmachen: Diejenigen, die das ändern können, sind zwei im Grunde. Die Politik habe ich genannt. Die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag, die sollten sich dringend mit dieser Frage beschäftigen. Ich habe wenig Hoffnung im Moment, ohne öffentlichen Druck. Deswegen brauchen wir die öffentliche Debatte.
Und die anderen, die es sofort ändern können, sind fünf Handelskonzerne und deren Vorstandsvorsitzende. Denn die haben eine Nachfragemacht von 85 Prozent im Markt. Also: Aldi, Lidl, Edeka, Rewe und die Metro-Gruppe.
Deutschlandradio Kultur: Danke fürs Gespräch, Herr Wolfschmidt.