Wie klingt Berlin?

Von Adama Ulrich · 24.01.2008
Das Ohr ist das erste entwickelte Organ des Menschen. Verschließen geht nicht - nur zuhalten. Und selbst dann werden, wenn auch gedämpft, immer noch genügend Geräusche wahrgenommen. Störend oder angenehm. Die Soundscape-Bewegung sucht die Klangschaft in der Landschaft.
Was in der Industrie unter dem Begriff Akustikdesign schon lange erprobt und angewendet wird, erobert sich im innerstädtischen Leben erst langsam Anerkennung. Der Berliner Mietspiegel wird zukünftig auch Geräusche als wirkende Faktoren bei seiner Erstellung berücksichtigen.

"Ich finde, bei Klang ist das so eine Sache, dass man immer gleich das Gefühl von einem Raum spürt, bevor man das richtig in Worte fassen kann. Dass ist auch hier so: (...) Man spürt so eine Art Eingeschlossenheit, die nicht gleich zu erklären ist, aber je weiter man sich hinein begibt, merkt man, dass es etwas Besonderes ist. Es hallt ein bisschen, man hört die typischen Geräusche der Stadt nicht mehr, man ist ein bisschen abgeschottet von dem ganzen Rest. Das ist meiner Meinung nach ein sehr typisches Berliner Erlebnis."

Mit Kopfhörern auf den Ohren und zwei Mikrophonen für den Stereoeffekt in den Händen, steht Yukio King in Hof 4 der Hackeschen Höfe in Berlin-Mitte. Er will der Wirkung des Klanges auf die Spur kommen.

"Brunnen prägen auch sehr stark Klanglandschaften, weil sie das Gefühl von Intimität vermitteln."

Die Hackeschen Höfe, die Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut wurden, sind Deutschlands größtes geschlossenes Hofareal. Im Zuge der Sanierung, Mitte der 90er Jahre, erlebten sie eine Renaissance ihres ursprünglichen Konzeptes der Mischnutzung durch Kunst, Kultur, Wohnen, Gewerbe und Gastronomie. Seit dem herrscht hier ein reges Treiben, das klanglich jedoch eher Ruhe und Beschaulichkeit ausstrahlt.

"Das ist besonders schön, dass man bei diesen traditionellen Hinterhöfen ganz andere Räume erleben kann, die ein gewisses Gefühl von Zusammensein vermitteln. Das finde ich schön und man hat auch das Gefühl, dass man nicht so richtig im Milieu der Stadt ist. Man hat so eine ruhige Insel gefunden."

Der 26-jährige Amerikaner studiert an der Berliner Universität der Künste Akustische Kommunikation. Der Fachbereich Sound Studies wurde erst im April 2006 gegründet. Dieser Bereich stellt sich die Frage, wie erleben, verwenden und äußern Menschen Klänge in einer gegebenen Umgebung. Wie leben sie in dieser Klangwelt, wie erleben sie selber ihre eigenen Klänge und wie erleben sie die Klänge, die ihre alltägliche Umgebung prägen? Zum Beispiel am Tauentzien, einer breiten Geschäftsstraße in Berlin-Charlottenburg. Holger Schulze ist Leiter dieses Masterstudiengangs.

"Wir nehmen bestimmte Dinge nicht mehr wahr. Was wir beispielsweise nicht mehr wahrnehmen, ist dieses Grundrauschen des Verkehrs zum Beispiel. Wir können es aber sehr leicht merken, in dem wir, wenn man ein Gespräch führt, (...) die Stimme heben muss, damit der Partner einen hinreichend versteht. Das heißt, da hat der schiere stadtplanerische Akt, hier eine Verkehrsstraße zu bauen, auf mich die Folge, dass ich mich anstrengen muss. Dass mein Kehlkopf angespannt ist, dass, wenn wir jetzt länger reden, dass ich dann einen rauen Hals hätte, in gewisser Weise."

Wir alle kennen die Situation, dass wir aus einer anstrengenden Arbeitssituation auf eine laute Straße kommen, in einen vollen Bus steigen und dann vielleicht noch in ein überfülltes Kaufhaus gehen. Oft reagieren wir darauf etwas desorientiert und fühlen eine leichte aber ernst zu nehmende Aggressivität in uns aufsteigen. Wir sind schlicht und einfach überfordert, meint der Klangtheoretiker.

"Sehr schön kann man es beobachten, wie Mütter mit ihren Kindern sprechen müssen. In so einer Umgebung, wenn viel Verkehr ist, ist auch für die beiden Menschen die Kommunikation erschwert. In vielen Fällen, hat die Aggression, die dabei entsteht, nichts damit zu tun, dass die beiden sich nicht leiden können, sondern das ist eine anstrengende Kommunikationssituation. Da sind wir als User der Straße auch aufgefordert zu sagen: dass ist eine Situation, die will ich mir nicht mehr bieten lassen, dass ist eine furchtbare Situation, da haben Architekten und Stadtplaner in den letzten Jahrzehnten nur auf Automobilität gesetzt und nicht auf eine andere Nutzung."

Die Geräuschkulisse seiner Heimatstadt Vancouver in Kanada regte den Komponisten Raymond Murray Schafer derart auf, dass er bereits Mitte der 60er Jahre den Kampf gegen die akustische Umweltverschmutzung aufnahm und zum Vater der Soundscape-Bewegung wurde. In seinem im Jahr 2002 auf Deutsch erschienenen Buch "Anstiftung zum Hören" schreibt Murray Schafer über den Klang:

"So wie jeder Ort sein Wahrzeichen hat, das ihm seinen Charakter verleiht, wird jeder Ort auch sein Klangwahrzeichen haben. Ein Klangwahrzeichen ist ein einzigartiger Klang, dessen Qualitäten ihn zu etwas Besonderem für den Ort werden lassen. Der Charakter eines Ortes wird von einem Klangwahrzeichen nicht weniger geprägt als von einem landschaftlichen oder architektonischen Wahrzeichen. Klangwahrzeichen können auffällige Klänge im Freien wie Turmuhren, Glocken oder Signalpfeifen sein. Es können aber auch Klänge in Innenräumen sein, die für ein bestimmtes Handwerk oder für bestimmte Bräuche typisch sind. Keine zwei Orte klingen gleich."

1993 gründeten Schafer-Schüler das "Weltforum für akustische Ökologie". Die Mitglieder unterscheiden gute und schlechte Geräuschkulissen und fordern, den Geräuschpegel in Städten generell zu senken. Allerdings blieb diese Forderung bislang weitestgehend ohne Folgen, da bis heute weder Stadtplaner noch Architekten die akustische Ebene in ihre Planung einbeziehen. Und die Betroffenen haben gelernt, so Detlev Ipsen, Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Universität Kassel, akustische Belästigungen zu verdrängen. Einfach nicht mehr hinzuhören.

"Für viele Menschen ist die Stadt, in der sie leben, ein reiner Funktionsraum. Da fährt man zur Arbeit, da geht man irgendwo hin, wenn man Freizeit hat und da wohnt man. Und dann muss man was essen und darum geht man einkaufen. Nur manchmal, wenn Menschen sagen, jetzt machen wir Ferien, dann kommen sie nach Venedig und da sagen sie: Das klingt ja verrückt. Es ist eine Ausnahmeerscheinung für besondere Situationen, wo man auch mal hinhört. Darüber hinaus muss man sagen, ... ist der Mensch primär ein visuelles Tier. ... Das hören ist sekundär geworden und müsste richtig neu erfunden werden."

Davon, dass das Hören von Klängen in der Stadt oder der Natur wieder gelernt werden muss, ist auch Murray Schafer überzeugt. In seinem Werk "Anstiftung zum Hören" hat er darum gleich "Übungen zum Hören und Klänge Machen" mitgeliefert.

"Was bedeutet Ihnen Stille? Ergänzen Sie den Satz 'Stille ist ...' auf so viele Arten wie möglich."

"Lassen Sie in absoluter Stille ein Blatt Papier reihum gehen! Gelingt das? Oder hören wir nicht doch ein leises Rascheln, ein ganz leises Reiben am Papier, wenn es von einer Hand zur nächsten geht?"

"(Aber) Was mich interessiert sind auch die Klänge, die nicht gleich zu erkennen sind. Zum Beispiel das Rascheln der Plastiktüten oder die Schritte oder die quietschenden Handwagen. Ich finde, dass sagt irgendwie etwas aus über die Menschen, über ihre Alltagserlebnisse. Es sagt etwas aus über die Kommunikation, diese Zwischenrufe, diesen Kommerz, der seit Jahrhunderten ein Bestandteil der menschlichen Kultur ist. In jedem Land gibt es einen Markt und da wird eingekauft."

Yukio King steht mit Kopfhörern und Mikrophonen auf dem Markt am Maybachufer in Berlin-Neukölln. Jeden Freitag bieten hier Händler ihre Waren an.

"Durch die ganzen Stände entwickelt sich aus diesem relativ leeren Uferplatz eine Atmosphäre, die belebt ist, die menschlich ist. Das finde ich reizend. Die Deutschen sind nicht sehr nähefreundlich, die berühren sich nicht so gerne in der Öffentlichkeit. Aber hier ist es erlaubt, weil man auf so einem engen Platz sein Geschäft machen will. Man hört dass auch, man empfindet diese Atmosphäre auch als etwas, was so ist, diese Nähe, weil das gehört dazu."

Bevor Yukio King angefangen hat, sich mit Klanglandschaften zu beschäftigen, hat er in seiner Heimat Kalifornien Stadtplanung studiert. Das kommt ihm jetzt zugute - findet auch sein Studiengangsleiter Holger Schulze.

"Yukio King setzt sich damit auseinander, wie Stadtplanung durch Klang geschehen kann. Und er geht den ganz direkten Weg, in dem er zu Quartiersmanagementprojekten geht und direkt in die Bezirke hineingeht. ... Das finde ich das spannende an seiner Arbeit, weil er wirklich die Menschen, die dort leben, arbeiten und gestalten, selber befragt, selber den Ort nutzt und sich der Situation aussetzt. Das passiert viel zu wenig und ich würde mir wünschen, dass andere Leute, Architekten, den Ort den sie Gestalten, nicht nur kurz durchstreifen, sondern tatsächlich stundenlang, tagelang sich dort aufhalten und wirklich begreifen, wie ein Ort funktioniert."

Anhand der Geräuschkulisse, könne man auch die soziale Beschaffenheit eines Viertels ermitteln, meint King. So habe beispielsweise der Helmholtzplatz im Prenzlauerberg vor einigen Jahren noch ganz anders geklungen als jetzt. Früher hörte man das Klirren von Bierflaschen und Hundegebell. Dann wurde das Viertel aufgewertet. Heute hört man hier lärmende Kinder.

Zurzeit arbeitet Yukio King an dem Projekt "Urban Soundmarks". Darin erstellt er, beispielsweise für den Neuköllner Kiez, in dem er auch wohnt, ein stadtplanerisches Konzept, das die Klanggestaltung mit einbezieht – z. B. am Richardplatz.

"Man guckt auf ganz viele Aspekte. Erstens, auf die wahre Akustik, die hier vorhanden ist, auch auf die menschlichen Aktivitäten, die diesen Platz beleben. Ist es leer, hat man das Gefühl, dass es durch jugendliches Geschrei geprägt ist oder ... Familiengeräusche. Ein Vergleich wäre der Helmholtzplatz im Prenzlauerberg vom Grundriss und den Baustilen ist es relativ ähnlich, wobei die Aktivitäten, die da zu finden sind, ein ganz anderes Gefühl vermitteln. Da assoziiert man mehr Kinder und Mütter und Kinderwagen mit diesem Platz. ..."
" ... In Neukölln ist das einfach etwas anderes.
Ich glaube, man kann auch mit diesen Aktivitäten so ein bisschen planen. Man kann auch versuchen, bestimmte Geräusche in den Kiez rein zu bringen, um ein bestimmtes Gefühl zu erzeugen in einem bestimmten Raum. Z.B., wie wäre es, wenn einmal die Woche hier ein Markt stattfindet? Wie würde das klingen?"

Sicherlich lebendiger als Autoreifen auf Kopfsteinpflaster. Obwohl Detlev Ipsen von der Uni Kassel zum Teil in Berlin lebt und die Stadt mag, lässt ihre klangliche Dimension, seiner Meinung nach, stark zu wünschen übrig.

"Erstens würde ich sagen, sie ist klanglich relativ tot und hat natürlich einen Verkehrslärmpegel – das ist auch Klang, auch wenn man ihn kritisiert, der ist manchmal auch interessant, weil es so Linien gibt, die sich durch die Stadt ziehen ... Ansonsten tritt es klanglich hervor, wenn leicht angetrunkene Jugendliche nachts durch die Straßen ziehen. Das empfinden die meisten Leute als unangenehm ... Um Berlin klanglich erlebbar zu machen, müsste sich viel, viel ändern."

Neben dem Analysieren von Stadtgeräuschen und dem Wunsch, sie zu verändern, gibt es in der Soundscape-Bewegung auch eine Gruppe von Komponisten, die urbane Klänge in ihre Musik integrieren. Einer von ihnen ist Sam Auinger. Er hat ein Konzept der "Hearing Perspective" entwickelt, um die Welt klanglich zu erschließen. Denn:

"Das Fatale an der Situation ist, dass wir in den letzten hundert Jahren vergessen haben als Gesellschaft, dass unser Hören drei Kompetenzen hat: Das Eine ist die Sprachkompetenz, d.h., dass ich den Anderen in der direkten Informationsübertragung von Sprache verstehen kann. Das Zweite ist so etwas wie die musikalische Kompetenz, wo es um klangliche Muster geht. Und das Dritte und Schwierigste ist der Raumsinn. Der Raumsinn ist deshalb so schwer für uns zu verstehen, weil er gezwungenermaßen in unserem Unterbewusstsein abläuft. ... Wie jetzt der Raum auf mich wirkt, wie die Reflexionen sind, wie er sich anfühlt ... was immer er jetzt hat, dass läuft natürlich alles unterbewusst ab und dafür kann ich ein Gespür entwickeln oder nicht. Und den haben wir durch die Technisierung in den letzten hundert Jahren ziemlich aus den Augen und Ohren verloren."

Seit 20 Jahren arbeitet Sam Auinger mit dem amerikanischen Komponisten Bruce Odland zusammen. Beide sind Anfang 50. Als sie studiert haben, gab es schon Komponisten wie Cage und Stockhausen, an denen sie sich orientierten.

"Einfach die Erkenntnis des 20. Jahrhunderts in der Musik, dass unsere Hörgewohnheiten unsere Art von musikalischem Bedürfnis mitgestalten. Das heißt, wenn ich heute Komponist bin, dann ist mir klar, dass das, was die Leute tagtäglich hören, das Material ist, aus dem sie schöpfen, wenn sie selbst mein Stück nachkomponieren beim Hören. Also haben wir begonnen, uns mehr mit konkretem Klang auseinanderzusetzen und haben versucht, den konkreten Klang, sprich den Straßenlärm als Kompositionsmaterial zu benutzen. Wir haben begonnen, mit Resonanzverfahren diesen Klang im konkreten Raum zu transformieren."

Seit zehn Jahren lebt Sam Auinger in Berlin. Klanglich liege hier noch einiges im Argen, meint er. Bislang würde sich die Stadt für ihn akustisch besonders durch die langjährige Teilung hervortun.

"Würde man mit einem Ballon über Berlin fliegen, könnte man, glaube ich, ziemlich genau sagen, wo Osten und wo Westen ist. Weil im Osten noch viel mehr diese Kopfsteinpflastergeschichten sind – z.B. Prenzlauerberg oder Pankow. So ein Kopfsteinpflaster ist mit Straßenverkehr in einer Wohnstraße um ein vielfaches lauter und ich muss, wenn ich auf der Straße bin und ein Auto fährt, das Gespräch unterbrechen."

"Sobald man stehen bleibt oder sich gedanklich auf die Klänge ein bisschen vorbereitet, merkt man die ganze Tiefe, die auf den ersten Blick nicht wahrzunehmen ist."

Yukio King steht auf dem Elsensteg, einer kleinen Brücke über dem Neuköllner Schifffahrtskanal. Erst wenn man genau hin hört, nimmt man das Verkehrsrauschen wahr und wird daran erinnert, dass man mitten in Berlin ist.

"Berlin ist keine besonders laute Stadt. Man spürt immer diese Ferne Berlins. (...) Das ist etwas Besonderes an Berlin (...). In Paris oder anderen älteren mittelalterlichen Städten gibt es solche Räume einfach nicht. Es gibt zwar ruhige Inseln, wo man sich zurückziehen kann. Hier ist es etwas Besonderes, dass man soweit blicken kann, auch mit dem Ohr blicken kann."

Es gibt viele Kriterien, die zu beachten sind, wenn man wissen will, wie eine Stadt klingt: zum einen, welche Klangquellen es gibt – also Verkehr, Menschen, Lautsprecher. Zum anderen, auf welchen Resonanzboden, also auf welche Formen und Materialien der Klang stößt. Berlin hat für den Klangforscher Holger Schulze einen ganz besonderen Sound.

"(...) Für Berlin würde ich jetzt aus der lockeren Hand sagen, ohne eine Studie zu kennen, ist Berlin eine Stadt, die auf einer gewissen Sorte Stein gebaut ist. Es ist eine sehr steinerne Stadt zum einen und zum anderen eine Stadt, die durch U-Bahn und S-Bahn gewisse Stahlmaterialien nutzt und eine gewisse Schwere vermittelt. Die breiten Straßen haben wieder eine andere Folge, dass der Klang weiter klingen kann als in anderen Städten. Dadurch wird ein Gefühl der Weite entwickelt, ein Gefühl der Verlorenheit, manchmal sogar aber auch ein Gefühl der Gelöstheit, was in anderen Städten vielleicht nicht entsteht. Das heißt, die Umgebung ermöglicht zum einen den Menschen ein Raumgefühl, zum anderen sendet sie aber selber sehr starke Resonanzen aus. Von daher würde ich sagen, es ist eine Stadt die Freiheit gibt aber Schwere auch ausübt. Das wäre so ein kleiner Ansatz, den man weiter verfolgen könnte."