Wie Kisch eine Frau suchte

02.08.2013
Der in Prag geborene Journalist und Schriftsteller Egon Erwin Kisch war ein Berlin-Versessener. In einem neuen Band sind Reportagen aus den Jahren 1914 bis 1933 versammelt, in denen er zeigt, wie die Stadt tickt. Bis heute.
Egon Erwin Kisch hat sich als "rasender Reporter" dem stets werdenden Berlin zugewandt, der Stadt, die sich nie Zeit nahm zu werden. Ihr wusste er sich charmant zu nähern, aber er hat es auch verstanden, ihr im entscheidenden Moment die wohlfeil zur Schau gestellte Maske vom Gesicht zu nehmen. Nicht zu reißen, dass war nicht Kischs Manier. Das Spektakuläre lag ihm nicht, er hat sie dezent gelüftet. In seinen Reportagen zeigt er, wie Berlin tickt – im mondänen Westen und im proletarischen Osten. Und von diesem Ticken ist bis in die Gegenwart noch etwas zu hören.

Die Auswahl von Berlin-Reportagen des 1885 in Prag geborenen Autors, die der Klaus Wagenbach Verlag in einer schönen Ausgabe jetzt vorlegt, sind zwischen 1914 und 1933 entstanden. Im ersten Text der chronologisch angeordneten Auswahl "Wie ich eine Frau suchte", besucht Kisch verschiedene Etablissements, die bei der Partnersuche behilflich sein wollen. Der Satz: "Als ich in die Friedrichstraße kam, erwachte ich zu neuem Leben" klingt, als hätte er mit der Stadt Berlin bereits seine Partnerin gefunden. Wenn dem so war, dann hat er sie verloren, als 1933 der Reichstag brannte.

Vom Verlieren und vom Verlorensein handelt der letzte Text der Auswahl "In den Kasematten von Spandau", der den Untertitel: "Aus den ersten Tagen des Dritten Reichs" trägt. Darin beschreibt Kisch, wie er in seiner Berliner Wohnung verhaftet wird. In einem Gefangenentransporter bringt man den leidenschaftlichen Flaneur nach Spandau. Man fährt ihn noch einmal durch Berlin, aber die im Dunkeln liegende Stadt bleibt für ihn unsichtbar, er kann sie nicht mehr erkennen.

Eine seiner schönsten Reportagen ist der Bericht über das Berliner Sechstagerennen. Unter dem vielsagenden Titel "Elliptische Tretmühle" beschreibt Kisch das Wesen des Radrennens. "Sechs Tage und sechs Nächte lang schauen die dreizehn Fahrer nicht nach rechts und nicht nach links, sondern nur nach vorn, sie streben vorwärts, aber sie sind immer auf dem gleichen Fleck, immer in dem Oval der Rennbahn." Er sieht genau hin und vermittelt einen ganz unmittelbaren Eindruck vom Geschehen. Aber als ein Schriftsteller von Format erweist er sich, wenn er die Szenerie zu einem Weltwettrennen verdichtet, in dem der Mensch mit "wurmwärts geneigtem" Rückgrat lenkt und Gott denkt.

Gott genügten sechs Tage, um die Welt zu erschaffen. Das Sechstagerennen ist im 20. Jahrhundert – so Kisch – ein "Muss". Daran hat sich bis heute nichts geändert. Damals wurden dreizehn strampelnde Fahrer von den Zuschauern in der Hoffnung angeheizt, einer von den Rennfahrern möge aus dem Feld ausbrechen. Doch wenn ein Ausbruch gelingt, hat dieser Fahrer zwar eine Runde Vorsprung, aber er landet wieder in der Masse, der er nur für einen Moment entkommen war.

In einem Almanach der Berlin-Versessenen stünde Kisch ein Ehrenplatz zu. Er kam wie Franz Hessel, Walther Kiaulehn, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin nie los von Berlin. Kisch schrieb einen exzellenten, sehr eigenen Stil und seine Berlintexte gehören unbedingt ins Poesiealbum der Stadt.

Besprochen von Michael Opitz

Egon Erwin Kisch: Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013
140 Seiten, 15,90 Euro