Wie Kinder das Denken lernen

05.09.2012
Erhöht Muttermilch wirklich den IQ? Wovon träumen Kindergartenkinder? Mit solchen und ähnlichen Fragen befassen sich Sandra Aamodt und Samuel Wang in diesem Buch. Stilistisch locker und wissenschaftlich anspruchsvoll führen sie durch die geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Vierzigtausend Synapsen wachsen im Gehirn eines neugeborenen Babys unmittelbar vor und nach der Geburt - pro Sekunde. Kein Wunder, dass die kleinen Lern-Genies sich im Schlaf so viel erholen müssen.

Das Buch "Welcome to your Child's Brain" von Sandra Aamodt und Samuel Wang führt in dreißig Kapiteln durch die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Auf der Folie der modernen Hirnforschung, stilistisch locker und wissenschaftlich anspruchsvoll erzählt das Autoren-Duo, wie Kinder denken, sprechen und handeln lernen, sich die Welt sinnlich erschließen, in Spiel und Schule Kompetenzen erwerben, Hindernisse meistern und zu unverwechselbaren Persönlichkeiten heranreifen. Sogar soziale Themen streift das Buch und befasst sich etwa mit den Effekten von Armut auf die kognitive Entwicklung.

Zahllose Tricks helfen Babys, sich die Welt zu erschließen. Sie können erkennen, wie häufig oder selten Ereignisse auftreten und nutzen diese Fähigkeit, um aus dem Strom der Laute nach und nach die einzelnen Worte herauszufiltern. Indem sie ihre Umgebung beobachten, können Babys zudem Schlüsse über Ursachen und Wirkungen ziehen - irgendwann strecken sie dann die Hand aus und greifen selbst in den Ablauf der Ereignisse ein. Sensible Lernphasen entstehen, weil die Schaltkreise im Gehirn zu unterschiedlichen Zeitpunkten heranreifen. Im ersten oder zweiten Lebensjahr ist die kindliche Kognition empfänglich für die Laute der Muttersprache, danach für syntaktische Beziehungen. Schon nach dem achten Lebensjahr nimmt diese Fähigkeit wieder ab. Doch bereits im Mutterleib erlebt das Ungeborene sensible Phasen, etwa wenn sich sein Tastsinn entwickelt.

Im ganzen Buch verstreute Textkästen liefern üppig Tipps und Informationen am Rande oder klären über Mythen auf. Muttermilch steigert entgegen Gerüchten nicht den IQ, und Kindergartenkinder träumen im Gegensatz zu Älteren wenig komplex - pickende Hühner, ein Hund an der Straßenecke, ein Teller mit Essen, mehr passiert dort nicht, erfahren wir.

Bei aller Differenziertheit werfen die Autoren leider immer wieder Betrachtungsebenen in einen Topf, die da nicht hingehören. Nächtliche Ängste bei Kindern? Eine mangelhafte Regulierung des Mandelkerns im Gehirn. Schwangere Jugendliche? Eine adaptive Reaktion auf die geringe Lebenserwartung armer Bevölkerungsschichten. Solche modischen Kurzschlüsse von der Hirnforschung zur Psychologie sind wissenschaftlicher Unsinn, denn in welcher Weise sich menschliches Erleben und Verhalten aus hirnphysiologischen Ereignissen ableiten lässt und wie umgekehrt psychologisch beschreibbare Erfahrungen in das Gehirn zurückwirken, ist bislang noch kaum bekannt. Seufzend erinnert man sich an die Molekulargenetiker vor einigen Jahren, die ihr Humangenomprojekt mit ähnlichen Simplifizierungen vorantrieben; inzwischen sind sie längst abgetaucht in die Komplexitäten der Epigenetik.

Das aber ist der einzige Wermutstropfen in diesem Buch, das ansonsten auf jeder Seite zu verblüffen und zu überraschen weiß.

Besprochen von Susanne Billig

Sandra Aamodt, Samuel Wang: Welcome to your Child's Brain
Die Entwicklung des kindlichen Gehirns von der Zeugung bis zum Reifezeugnis
Mit Illustrationen von Lisa Haney
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
C.H.Beck Verlag
368 Seiten, 19,95 Euro
Mehr zum Thema