"Wie kann man am besten einen solchen Teufelskreis durchbrechen?"

Markus Vetter im Gespräch mit Britta Bürger · 26.06.2012
Im August 2010 eröffnete Markus Vetter mit zwei Palästinensern ein Kino in Jenin. Ein bisschen Normalität in dem umkämpften Gebiet ist das Ziel. Kein einfaches Unterfangen, denn viele wollten das Kino nicht, sagt er. Jetzt kommt sein Dokumentarfilm über das Projekt in die Kinos.
Britta Bürger: Der Dokumentarfilmer Markus Vetter hat für seinen Film "Das Herz von Jenin" bereits den Cinema-for-Peace-Award und den Deutschen Filmpreis bekommen. Der Film berührte wohl jeden, der ihn gesehen hat. Die Geschichte eines palästinensischen Vaters, dessen Sohn 2005 in Jenin von israelischen Soldaten erschossen wurde, und der sich dann entschloss, die Organe des Jungen kranken israelischen Kindern zu spenden. Gemeinsam mit diesem Vater, Ismail Katib und dem Übersetzer Fakri Hamad ging der Filmemacher Markus Vetter los und fing an, davon zu träumen, ein verfallenes Kino in Jenin wiederaufzubauen. Dieser Traum wurde Wirklichkeit und das Kinoprojekt selbst Thema eines weiteren Films. Bevor uns der Regisseur Markus Vetter mehr darüber erzählt, gehen wir mit Bernd Subolla ins "Cinema Jenin".

((Einspielung O-Ton))

Bürger: Und genau darüber habe ich mit dem Dokumentarfilmer Markus Vetter gesprochen. Im August 2010 wurde das "Cinema Jenin" wiedereröffnet. Welche Rolle spielt das Kino mittlerweile in der Stadt?

Marcus Vetter: Ja, im Moment geht es, glaube ich, darum, dass dieses Kino eine eigene Identität und eine Seele bekommen muss. Und diese Seele, die wird bestimmt durch sehr viele Kräfte und durch sehr viele Meinungen. Da ist bestimmt ein Weg, so wie wir ihn beschrieben haben, aber es gibt natürlich andere Meinungen, und jetzt geht es darum, wie kann dieses Kino ein wirkliches palästinensisches Kino in Jenin werden mit einer eigenen Seele.

Bürger: Und was für Filme werden derzeit dort gezeigt?

Vetter: Ab Juli gibt es ein reguläres Programm. Wir haben jetzt zwei ägyptische Filme. Und natürlich zeigen wir dann auch Dokumentarfilme, gute, 90-Minuten-Spielfilme, Kinderfilme. Da geht es aber natürlich auch darum, dass wir die untertiteln müssen. Wir müssen für die arabische Synchronfassung sorgen und dann müssen wir noch ein bisschen fundraisen. Wir brauchen insgesamt sowieso einfach Geld für dieses Kino, um es zu betreiben. Denn die eine Sache war, das Kino zu bauen, was ein Wunder war, dass es überhaupt geklappt hat. Aber die andere Sache ist, dieses Kino jetzt zum Laufen zu bringen und zum Leben zu erwecken.

Bürger: Auch in den Verhandlungsgesprächen hatte der ehemalige Besitzer ja vor der Kamera gesagt, das Kino solle Profit machen und kein Wohlfahrtsverein sein. Ist das denn gelungen, im Ansatz zumindest?

Vetter: Ja, das ist auf jeden Fall gelungen, weil, wir haben mit den Besitzernsolche Verträge gemacht, dass wir dieses Kino insgesamt sechs Jahre mietfrei bekommen, und dann müssen wir Miete bezahlen, aber da geht es dann auchnoch darum, wie hoch diese Miete ist. Nein, nein. Das Kino ist ein Kino für die Stadt. Wir verlangen nicht sehr große Eintrittsgelder, wir verlangen nur zehn Schekel, das sind zwei Euro. Das ist die Hälfte ungefähr oder sogar weniger als das, was man in Ramallah oder Nablus bezahlen muss. Also es geht schon darum, dass es ein Kino ist für die Stadt, dass sich auch jeder leisten kann.

Bürger: Sie dokumentieren in Ihrem Film den wirklich sehr schwierigen Realisierungsprozess, denn obwohl sie ja unglaublich viele engagierte Unterstützer aus aller Welt hinter sich hatten, von Frank-Walter Steinmeier über den Pink-Floyd-Gründer Roger Waters bis hin zu vielen, vielen freiwilligen Helfern, hatten Sie anscheinend große Schwierigkeiten, die Bevölkerung vor Ort erst einmal von dem Projekt zu überzeugen. Was waren die Vorbehalte?

Vetter: Na, es ging vor allen Dingen um Normalisierung. Ob so ein Projekt überhaupt erlaubt ist in Palästina, wenn die Besatzungsarmee Israel noch vor Ort ist. Weil man damit sehr schnell etwas etabliert oder man sagt, okay, man macht jetzt so ein Kino, obwohl die Israelis noch da sind und ist nicht die Besatzung. Und dann gibt es auch andere politische Kräfte, die so ein Projekt letztendlich eher als Mittel des Kampfes sehen, um die Besatzung abzuschütteln. Da ist es natürlich immer so, der Teufelskreis muss irgendwo durchbrochen werden. Und wir haben dieses Kino aufgebaut auf der Entscheidung von Ismael Katib, der die Organe seines gestorbenen Sohnes an israelische Kinder gespendet hat. Und das war eigentlich die Grundvoraussetzung für dieses Kino. Dass man sagt, okay, wie kann man am besten einen solchen Teufelskreis durchbrechen. Und dafür brauchen wir Menschen aus aller Welt, die nach Jenin kommen, um mit eigenen Augen zu urteilen und nicht auf die Vorurteile einzugehen, die es überall gibt. Und dafür steht dieses Kino.

Bürger: Künstler, Sozialarbeiter, Friedensbotschafter erleben das aber immer wieder, dass ihre Versöhnungsprojekte erst mal auf große Skepsis stoßen. Für die Palästinenser in Jenin ist das erste Ziel, so hört man es immer wieder im Film, Freiheit und nicht Frieden. Hatten Sie das ein bisschen falsch eingeschätzt?

Vetter: Nein, Freiheit ist sehr wichtig. Und Frieden ist genauso wichtig. Es geht nämlich darum, wer darf überhaupt sagen, was man möchte. Und ich glaube, dass die kleinen Leute in Jenin, für die ist überhaupt wichtig, ein normales Leben zu führen und nicht mehr im Kriegszustand zu sein. Jetzt gibt es natürlich viele Intellektuelle, die diesen Begriff Freiheit oder Normalisierung sehr vertreten und ich kann das auch verstehen. Ich glaube nur, dass es unterschiedliche Projekte geben muss. Es gibt das "Freedom Theatre" im Camp, die machen ihre politische Intifada, und in der Stadt gibt es jetzt das Kino, und dieses Kino wird von den Leuten schon angenommen. Nur es braucht eben auch noch ein bisschen Zeit.

Bürger: Mir gingen gerade diese Szenen im Film ziemlich unter die Haut, in denen wir den ehemaligen Leiter des Freedom Theatre in Jenin sehen, Juliano Mer-khamis, er wurde ja im April letzten Jahres vor seinem Theater erschossen. Wir haben damals auch ausführlich hier darüber berichtet im Deutschlandradio Kultur. Aber ihn jetzt noch mal in seiner ganzen Vitalität zu sehen, auch in seiner Kompromisslosigkeit, das berührt sehr, finde ich. Wenn er zum Beispiel zu Ihnen sagt im Film, die Leute müssen spüren, dass ihr ihre Befreiung wollt und nicht ein paar Stunden Spaß am Tag. Inwieweit hat er Sie doch zum Nachdenken gebracht?

Vetter: Er hat mich immer wieder zum Nachdenken gebracht. Ich meine, natürlich, er lebte in Jenin, er kannte die Bevölkerung viel, viel besser als ich. Und man kann natürlich sagen, dass wir naiv in dieses Projekt gegangen sind. Aber es gibt auch die Szene im Film, wo er sagt, okay, lass uns jetzt einfach mal vergessen, ob wir Palästinenser, Deutsche oder Internationale oder Israelis sind, lass uns einfach ein Kino bauen. Oder lass uns einfach eine Filmschule gründen. Und genau das haben wir gemacht. Wir haben ein Kino gebaut, das eben mal nicht politisch sein sollte. Sondern das eher vielleicht auch den Sinn hat, dass mal ein Techniker von der einen Seite, vielleicht sogar von der israelischen Seite, und ein Techniker von der palästinensischen Seite über Kabel sprechen, über einen Projektor sprechen und nicht immer nur über Politik. Weil, wenn man immer nur über Politik spricht, streitet man sich auch, und dann entfernt man sich auch voneinander.

Bürger: "Cinema Jenin". Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Filmemacher Markus Vetter, bevor sein neuer Dokumentarfilm am Donnerstag in die Kinos kommt. Vor Ausbruch der ersten Intifada muss es ja in Palästina eine lebendige Filmkultur schon gegeben haben. Herr Vetter, wie war damals die Situation?

Vetter: 1987 kann man sich das so vorstellen, dass fast in jeder Stadt fünf, sechs, sieben Kinos waren in Gaza alleine. Und zwar waren das mächtige und große Gebäude mit zum Teil 400, 500, 600 Sitzplätzen. Und wenn man sich die Bevölkerung dort anguckt, die Frauen, die trugen Petticoat, sie trugen Miniröcke. Es war natürlich auch noch eine ganz andere Zeit. Die erste Intifada und dann die zweite Intifada hat erst dazu geführt, dass sich die Leute in die Religion geflüchtet haben.

Bürger: Heute sind die Frauen verschleiert. Sitzen sie in dem Kino eigentlich neben den Männern im großen Zuschauerraum oder separat?

Vetter: Nein, die sitzen separat, aber man kann oben, also es gibt eine Tribüne, es gibt ja zwei Etagen, und oben sitzen die Familien. Und unten sitzen die Frauen links und die Männer rechts. Wir haben damals sogar den Bürgermeister, der Hamas ist in Jenin, gefragt, wie wir damit umgehen sollen, und er hat uns den Rat gegeben: Probiert es doch einfach aus, ihr werdet dann schon merken, wo die Grenzen sind und wie die Leute drauf reagieren werden. Und das haben wir gemacht und das hat sich auch so von alleine ergeben.

Bürger: Sie haben eben erzählt von der damaligen blühenden Filmkultur in Palästina. Davon ist fast nichts übrig geblieben. Das heißt, die jungen Leute in Jenin, und die stellen ja die größte Gruppe der 35.000 Einwohner, die wissen überhaupt nicht, was ein Kino ist?

Vetter: Ja. Die jungen Leute kennen kein Kino. Die alten Leute kennen alle dieses Kino. Und die meisten waren dort und können sich sogar noch erinnern, wann die ersten Filme gelaufen sind und welche Filme sie gesehen haben. Und genau dafür steht auch dieses Kino, die jungen Leute, ihnen Platz zu geben. Dass das nicht sofort funktioniert, und dass sich vielleicht einige noch nicht getrauen, ins Kino zu gehen, weil es als Normalisierungsprojekt gesehen wird, das ist die eine Sache. Aber die andere Sache ist, dass das Kino zum Beispiel im Moment sehr voll ist und immer besucht ist, wenn Theaterstücke, Konzerte, Musikgruppen aus der ganzen Westbank nach Jenin kommen, um dort zu spielen. Und das ist der erste Anfang. Und die Filme werden jetzt der zweite.

Bürger: "Cinema Jenin". Am Donnerstag kommt der Dokumentarfilm von Markus Vetter in die deutschen Kinos. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Vetter.

Vetter: Vielen Dank.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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