Wie eine unheilbare Krankheit

11.10.2012
Für rund zwei Millionen heterosexuelle Paare in Deutschland bleibt der Kinderwunsch unerfüllt. Ihnen verleiht Millay Hyatt eine Stimme. Ihr kluges Buch über Reproduktionsmedizin erzählt von Hoffnung und Trauer, Abschied und Neuanfang.
Was, wenn das Wunschkind nicht kommt? Obwohl man alles versucht? Keine Chance ungenutzt lässt? Dann bricht ein wildes, hungriges Tier in dir aus, schreibt Millay Hyatt. Es fühlt sich an, als würdest Du unter einer unheilbaren Krankheit leiden, wie eine Krebspatientin, die austherapiert ist. Und irgendwann, musst Du dieses Kind beerdigen. Ein Grab schaufeln, für jemanden, den es nie wirklich gab, der nur in deiner Sehnsucht gelebt hat. Millay Hyatt hat all das erlebt.
Mit 32 Jahren erfährt Millay Hyatt, dass sie schon in den Wechseljahren ist. Ihr Körper produziert keine Eizellen mehr. Von einem Moment auf den anderen gehören sie und ihr Mann mit dieser Diagnose zu den zwei Millionen heterosexuellen Paaren in Deutschland, die kein Kind bekommen können – Homosexuelle nicht mitgezählt. Und all diesen Menschen verleiht sie nun eine Stimme. Sie erzählt - exemplarisch am eigenen und an anderen Beispielen – vom Ringen mit dem wilden, hungrigen Tier, sprich: den Nöten, Frustrationen und Ängsten, aber auch von den Erfolgen der Menschen mit Kinderwunsch. Herausgekommen ist ein kluges Buch über Reproduktionsmedizin, das aber auch von Hoffnung und Trauer, von Abschied und Neuanfang erzählt.
Da sind etwa Andrea und Thomas. Beide wollen ein Kind. Als Andrea auch nach längerer Zeit nicht schwanger wird, unterzieht sie sich sechs Mal den Prozeduren einer künstlichen Befruchtung. Die damals 29-Jährige muss Hormone nehmen, damit gleich mehrere Eizellen heranreifen. Das bedeutet tägliches Spritzensetzen. Naht der Zeitpunkt des Eisprungs, muss Andrea jeden Tag in die Klinik fahren, zur Blutabnahme und Ultraschalluntersuchung. So soll der günstigste Zeitpunkt zur Eizell-Entnahme festgelegt werden kann. "Es war schrecklich", erzählt Andrea. Sie leidet unter heftigen Depressionen, ihr Körper tut weh, vor allem die Eierstöcke schmerzen. An einem Punkt in dieser Prozedur steht sie auf einer Brücke und überlegt runterzuspringen. Danach bricht das Paar alle Versuche ab und akzeptiert seine Kinderlosigkeit.
Anders Frieda und Tom. Sie haben bereits einen Sohn, als Frieda zum zweiten Mal schwanger wird. Tom will das Kind nicht. Frieda treibt ab und wird kurz darauf depressiv. Nur ein Kind kann Frieda helfen, meint sie selbst; das Paar versucht fortan durch künstliche Befruchtung ein neues Kind zu zeugen. Drei Mal scheitert der Versuch. Sie entscheiden sich für eine Adoption, haben auch hier kein Glück und bekommen schließlich doch ein Kind, Max, dank einer Leihmutter aus Spanien. Frieda ist zu diesem Zeitpunkt fast Ende 40, Tom ist 60 Jahre alt.
Nicht jede der im Buch gesammelten Geschichten liest sich leicht. Oft regt sich Widerspruch, manchmal auch Empörung, dann wieder Bewunderung. Kein Wunder, wird hier doch die hochemotionale Frage verhandelt: Wie weit gehe ich für ein Kind? Wie weit darf ich gehen? Riskiere ich meine Gesundheit? Was bedeutet diese nagende Sehnsucht für das künftige Kind? Bin ich hysterisch, wenn ich an nichts anderes mehr denken kann?

All das verhandelt Millay Hyatt kunstvoll. Die Frau, die selbst seit nunmehr neun Jahren auf ein Kind hofft, mittlerweile mit Hilfe einer Adoption, macht deutlich: Es gibt da kein richtig oder falsch. Jede Frau, jeder Mann muss ihre bzw. seine eigene Grenze ziehen. Und dazu gehört mitunter viel Mut.

Besprochen von Kim Kindermann

Millay Hyatt: Ungestillte Sehnsucht. Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt
Christoph Links Verlag, Berlin 2012
224 Seiten, 14,90 Euro
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