Wie ein Fremder im eigenen Land

Rezensiert von Claudia Kramatschek · 31.08.2006
Die indische Schriftstellerin Kiran Desais verknüpft in "Erbin des verlorenen Landes" die Schicksale verschiedener Charaktere im indischen Himalaya 1986 zu einem wehmütigen Ganzen. Der Roman handelt von Fremden im eigenen Land, verwestlichten Indern und der Suche nach der eigenen Identität
Indien, Anfang 1986. Hoch oben in den nordöstlichen Bergen des Himalaya, in einer kleinen Stadt namens Kalimpong, scheint die Welt noch in Ordnung. Denn ungestört leben hier, in einem Haus, das einst einem Schotten gehörte, eine Handvoll Menschen zusammen: die 15-jährige Sai, ihr strenger Großvater, Richter Jemubhai Patel, der Koch und die treue Hündin Mutt.

Doch die Idylle trügt. Denn eines Abends dringen junge Männer in das Haus ein und verlangen die Gewehre des Richters, die seit Jahren unbenutzt an der Wand hängen. Es sind Rebellen, indische Nepalesen, die seit kurzem in der Gegend für Unruhe sorgen, weil sie nach langen Jahren der Unterdrückung in einem Land, in dem sie die Mehrheit darstellen, nicht mehr länger als Minderheit behandelt werden.

Diese politischen Unruhen, die wenige Monate später in einem blutigen Aufstand mit tödlichem Ausgang enden, bilden die historische Kulisse, vor deren Hintergrund Kiran Desai ihre Geschichte zeitlich und räumlich in mehrere Richtungen aufblättert.

Denn da ist zum einen Sais so frische wie heftige Liebe zu dem jungen Nepalesen Gyan, der ihr Mathematiklehrer ist. Doch bevor diese Liebe eine Zukunft hat, wie Sai sie erhofft, gerät Gyan, der wie viele andere Nepalesen in ärmlichsten Verhältnissen lebt, in die Fänge der Rebellen und schließt sich ihnen kurzerhand an.

Der Richter dagegen, ein verhärmter Mann, der einst im indischen Staatsdienst war, sieht sich durch seine Enkelin Sai, die nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern in seinen Haushalt gekommen ist, an seine eigene Geschichte erinnert: Denn nicht nur Sai ist, nachdem sie in einem indischen Nonnenkloster zwischen Tagore und Sir Walter Scott groß geworden ist, eine verwestlichte Inderin.

Auch der Richter lebt wie ein Fremder in seinem eigenen Land, seitdem er als junger Mann zum Studium nach Cambridge ging und als ein Inder zurückkehrt, der die Engländer beneidet und alle Inder, auch sich selbst, verachtet. Seine Ehe scheitert, seine Scham maskiert er mit Kaltherzigkeit.

Für den Koch wiederum ist seine Anstellung eher ein Abstieg, denn einst diente er den Sahibs, den weißen Herren. Nun aber träumt er von einem ruhigen Leben im Alter, denn sein Sohn Biju arbeitet seit kurzem in Amerika, natürlich illegal. Biju jedoch kämpft in Amerika mit Diskriminierung und Entrechtung, und schickt derweil beruhigende Briefe nach Haus.

Geschickt verknüpft Desai diese Parallelwelten zu einem wehmütigen Ganzen: Zu der Frage nach der eigenen Identität in der Zeitenwende von Postkolonialismus und der aufkeimenden Globalisierung. Denn ob Biju, der in Amerika wie eine Ratte im Keller haust und zu jener Schattenklasse gehört, von der die Profiteure des Kapitalismus leben; ob Sai und Patel, deren elitärer Status als Nachkömmlinge des British Raj zugleich ihr Fluch ist; ob Gyan, der aufgrund politischer Ideale nicht lieben kann, wen und was er lieben will: Sie alle sind fremd, wo immer sie sind. Und sie sind fremd, weil sie machtlos sind, wo immer sie sind.

Wenn Sai daher am Ende beschließt, Kalimpong zu verlassen, ist sie die "Erbin des verlorenen Landes". Desai aber, die selbst abwechselnd im amerikanischen Brooklyn und dem bergigen Sikkim lebt, hält den westlichen Lesern einen Spiegel vor. Denn wie viel Identität der Mensch braucht, wo Anpassung und wo Verlust beginnen, was es heißt, Migrant zu sein, diese Fragen gelten auch uns. Und sind an die wirklichen "global players" auf dem Schlachtfeld zwischen Arm und Reich, zwischen Macht und Machtlosigkeit gerichtet.

Kiran Desai: Erbin des verlorenen Landes
Roman. Aus dem Englischen von Robin Detje
Berlin Verlag, München 2006
430 Seiten, 19,90 Euro