Wider den Trend zur Religion

Von Tanja Dückers · 17.12.2012
Die Religionswissenschaftlerin Esther Maria Magnis hat erklärt, warum die Menschheit als letzte Instanz einen Gott braucht. Nun widerspricht die Schriftstellerin Tanja Dückers. Sie stellt einen merkwürdigen Trend zur Religion fest - und gibt eine skeptische Antwort auf die Gretchenfrage.
Wenn Sie heutzutage Agnostiker oder Atheist sind, müssen Sie sich in den vergangenen Jahren einer lärmenden Reconquista ausgesetzt gefühlt haben: Kaum ein Tag verging, an dem nicht öffentlich über ein religiöses Thema oder einen Aspekt kirchlichen Lebens in Deutschland debattiert wurde.

Es ging um Religions- oder Ethikunterricht, um religiöse Symbole wie Kopftücher oder Kreuze in bayrischen Klassenzimmern, um die Beschneidung, um Missbrauchsopfer, um merkwürdige Enklaven wie das Kirchenrecht, um gesetzliche und nicht gesetzliche religiöse Feiertage und so weiter. Wiglaf Droste hatte recht, als er konstatierte: "Das Land hat die religiöse Debattitis, die Aussichten hat, Staatsreligion zu werden."

Aber die Rückkehr der Religion manifestiert sich nicht nur an dieser Themendichte, sondern auch konkret an der Rückkehr zu den Kirchen. Es fällt auf, wie viele Promis sich derzeit damit brüsten, "religiös", vor allem: katholisch zu sein. In Zeiten, in denen akademische Titel mühelos erschwindelt werden, Präsidenten beinahe im Jahrestakt abdanken oder abtreten und undurchschaubare Ereignisse wie die Eurokrise und der Klimawandel verunsichern, scheinen, neben Politikern, viele Personen des öffentlichen Lebens wie Harald Schmidt, Günther Jauch, Stefan Raab, Nicole Scherzinger, Martin Mosebach, Alfred Biolek, Thomas Gottschalk, Markus Lanz, Joachim Löw oder Franz Beckenbauer zu meinen, ihre Vertrauenswürdigkeit nur legitimieren zu können, indem sie behaupten "Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche". Prompt hat Wolfram Weimer auch noch ein "Who is who der Katholiken" veröffentlicht.

Selbst wenn viele dieser öffentlich ausgestellten religiösen Affekte kalkuliert wirken, fühlt man sich als anständiger atheistischer Humanist in der allgemeinen Debattitis kaum ernst genommen, mehr noch: diffamiert. Nicht nur, dass in den Talkrunden kein Mensch auf die Idee kommt, auch mal einen Agnostiker oder Atheisten einzuladen, nein, schlimmer ist folgendes: Räumt man ein, dass man Atheist sei, wird einem fälschlicherweise gleich Gefühlskälte, nicht vorhandenes Wertebewusstsein und ein technokratisch-inhumanes Denken unterstellt.

Der Religiöse hat die sogenannten "Werte" für sich gepachtet. Atheisten werden hingegen oft als Gottlose bezeichnet, meist mit dem Vorwurf, sie hätten auch keine Moral. Das ist aber falsch - eine Haltung, bei der die Moral abgelehnt wird, bezeichnet man als Nihilismus oder Amoralismus. Auch die meisten Atheisten folgen einer Moral, nur berufen sie sich hierbei nicht auf Gott.

Moralische Prinzipien können durchaus auf der menschlichen Vernunft begründet werden, wie zahlreiche Philosophen dargelegt haben, zum Beispiel Kant. Nach Kant sind moralische Prinzipien für eine menschliche Gemeinschaft unabdingbar, doch ist die gesellschaftliche Ordnung eher durch vernunftbetonten Interessensausgleich denn durch inbrünstigen Glauben herstellbar.

Auch in neuerer Zeit hat sich immer wieder gezeigt, dass der Anspruch der Religionen auf Allgemeinverbindlichkeit es oft schwer gemacht hat, eine gemeinsame ethische Grundlage für eine Gesellschaft zu finden. Nicht selten führten diese Versuch zu Verfolgungen und Vertreibungen, sogar zu Glaubenskriegen. Aus empirischen Studien geht hervor, dass Religionszugehörigkeit und persönliche Moral keineswegs miteinander gekoppelt sind.

Viele Entwicklungsbiologen gehen derweil von einer Trennung von Moral und Theismus aus. Sie sehen in der Entstehung von Moralvorstellungen das Ergebnis eines komplexen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses: Moralvorstellungen wurden notwendig zur Regulierung des Gemeinwesens.

Ohne Kirchen keine Werte, keine Moral? Das wäre doch ein Armutszeugnis für uns denkende und fühlende Menschen.


Tanja Dückers, geboren 1968 in Berlin (West), Schriftstellerin, Journalistin. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen die Romane "Spielzone" (1999), "Himmelskörper" (2003), "Der Längste Tag des Jahres" (2006) und "Hausers Zimmer" (2011), der Essayband "Morgen nach Utopia" (2007) sowie die Lyrikbände "Luftpost" (2001) und "Fundbüros und Verstecke" (2012). Sie ist eine der Autorinnen der jüngeren Generation, die sich immer wieder in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten einmischen. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine, u. a. "Spiegel", "Süddeutsche", "Tagesspiegel", "taz", "Frankfurter Rundschau", "Welt", "Jungle World". Monatlich erscheint ein Essay von ihr auf "ZEIT Online". Nach vielen Auslandsaufenthalten, die sie von Los Angeles und Barcelona über Tschechien und Polen bis nach Rumänien führten, lebt Tanja Dückers heute mit ihrer Familie in Berlin. (www.tanjadueckers.de)
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Tanja Dückers© Elisabeth Gehlen