Whistleblowing "moralisch nicht ohne Weiteres begründbar"

Uwe Volkmann im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 01.08.2013
Duften Bradley Manning und Edward Snowden gegen bestehendes Recht verstoßen, weil sie sich moralisch dazu verpflichtet fühlten? Nein, sagt Uwe Volkmann. Die USA seien eine legitime demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, ihre Ziele im Kampf gegen den Terrorismus nicht illegitim.
Stephan Karkowsky: NSA und kein Ende. Jeden Tag kommen neue Details ans Licht über den Zugriff von US-Geheimdiensten auf alles, was wir im Internet tun. Die britische Zeitung "Guardian" beruft sich dabei auf Geheimpapiere, die Edward Snowden aufgedeckt hat. Und das wiederum bestärkt Kritiker, die sagen, hier wird nicht nur gegen die amerikanische Verfassung verstoßen, sondern, sofern wir betroffen sind, auch gegen deutsches Recht. Wer solche Dinge an die Öffentlichkeit bringt und dabei aus Gewissensgründen handelt, der verdiene Respekt, sagt Bundespräsident Joachim Gauck über Edward Snowden. Nur was nutzt der Respekt den verfolgten Aufdeckern. Sie bezahlen ihr Eintreten für unsere Freiheit mit der eigenen womöglich lebenslangen Unfreiheit. Wie das Recht umgehen sollte mit diesen - je nach Lesart - Helden oder Verrätern, das möchte ich mit dem Mainzer Rechtsphilosophen Professor Dr. Uwe Volkmann diskutieren. Herr Volkmann, guten Tag!

Uwe Volkmann: Guten Tag!

Karkowsky: Was sagen Sie denen, die jetzt lakonisch abwinken mit den Worten, wer Recht und Gesetze bricht, der gehört bestraft, egal, aus welchen Motiven einer handelt?

Volkmann: Aus rechtsphilosophischer Sicht würde man vielleicht grundsätzlich dazu auf den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit verweisen. Gibt es so einen Zusammenhang, gibt es ihn nicht? Das ist eine Frage, die in der Rechtsphilosophie seit Langem umstritten ist. Es gibt letztlich zwei Lager. Die einen sagen, zwischen Recht und Gerechtigkeit besteht überhaupt kein Zusammenhang. Das Recht ist eine tatsächliche Ordnung, die durchgesetzt wird, und die entsprechenden Normen müssen nicht gerecht sein. Dieses Lager nennt man die sogenannten Rechtspositivisten, und nach den Rechtspositivisten kann letztlich jeder beliebige Inhalt auch Inhalt einer Rechtsnorm sein. Dann gibt es ein anderes Lager, das sind die Naturrechtler, die sagen, dass Recht letztlich nur eine Ordnung ist, die ihrerseits auf den Grundgedanken der Gerechtigkeit hin geordnet ist und Regeln, die ihrerseits ungerecht oder extrem ungerecht sind, die sind dann nach dieser Auffassung eben kein Recht, sondern das Gegenteil von Recht, nämlich Unrecht.

Karkowsky: Aber ein Richter kann doch immer nur nach positivem Recht entscheiden.

Volkmann: Ja, grundsätzlich kann der Richter nur nach positivem Recht entscheiden. Wir haben bei uns allerdings, in unserer Rechtsordnung, auch in Erfahrung mit dem Unrechtsregime des Nationalsozialismus eine Ausnahmen für solche Fälle gemacht, in denen bestimmte rechtliche Normen dem Grundsatz der Gerechtigkeit so elementar widersprechen, dass sie eben als Unrecht und nicht als Recht angesehen werden können. Das ist die sogenannte Radbruchsche Formel, die die Gerichte hierzulande etwa in den Mauerschützenprozessen oder in den Prozessen gegen Egon Krenz und andere, aber eben auch in den Prozessen zur Bewältigung des Nationalsozialistischen Rechts entwickelt haben. Danach konnte sich eben niemand darauf berufen, dass er nach der Rechtsordnung seines Staates rechtmäßig gehandelt hatte, also des nationalsozialistischen Regimes oder der DDR, weil man sagte, diese Normen, die dort angewandt wurden, die schlagen allem, was wir unter Recht und Gerechtigkeit verstehen, letztlich ins Gesicht. Insofern haben wir hier in unserer Rechtsordnung eine begrenzte Öffnung für das Ausweichen in solche, ja überpositiven Gerechtigkeitsgrundsätze.

Karkowsky: Nur einer muss es entscheiden. Berthold Brecht wird der berühmte Satz zugeschrieben: "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht". Den haben sich aber viele angeeignet, nicht nur die Anti-AKW-Bewegung, sondern auch die NPD. Was macht man da?

Volkmann: Ja, das ist das Problem. Das Problem ist, dass wir im Grunde keinen festen Maßstab - abgesehen von einigen klaren Fällen, Mord, Tötung Unschuldiger, also abgesehen von diesen klaren Fällen -, keinen festen Maßstab dafür haben, was eigentlich Recht oder was Unrecht ist. Dann ist die Frage, wer legt das fest. In einer prinzipiell demokratischen Ordnung können das letztlich immer nur bestimmte Mehrheiten sein, also diejenigen Mehrheiten, die die Gesetze machen. Und was die dann machen, das gilt dann erst mal und hat auch die Vermutung dann der Rechtmäßigkeit und Legitimität für sich.

Karkowsky: Und das Handeln eines Menschen ist ja immer bezogen auf die Gesetze, die zu dem Zeitpunkt gelten. Man kann ja nicht im Nachhinein sagen, wir ändern das jetzt.

Volkmann: Ja. Darauf ist es im Grunde immer bezogen, und das müssen die Gerichte letztlich auch anwenden. Das dahinter stehende Problem ist immer, ob der Einzelne das Recht oder vielleicht eben sogar auch die moralische Pflicht hat, sich in bestimmten Ausnahmesituationen über die Gesetze hinwegzusetzen. Das ist eine Frage, die sich in allen Fällen des sogenannten zivilen Ungehorsams stellt, etwa, wenn Castor-Transporte durch Blockade von Schienenwegen – ist Erfüllung des Nötigungstatbestandes – blockiert werden, wenn Abtreibungsgegner die Zahlung von Steuern verweigern, weil sie denken, dass damit eben Abtreibungskliniken und damit ein aus ihrer Sicht schlimmes Unrecht unterstützt wird. In all diesen Fällen stellt sich letztlich die gleiche Frage: Darf sich der Einzelne aus moralischen Gründen oder wegen einer von ihm selbst als übergeordnet empfundenen moralischen Verpflichtung über das Recht, über das positive Recht hinwegsetzen.

Karkowsky: Sie hören zur Whistleblower-Affäre den Mainzer Rechtsphilosophen Uwe Volkmann. Herr Volkmann, dann frage ich mal konkret: Was halten Sie denn von diesen Fällen, die Manning und Co. betrieben haben? Würden Sie es als zivilen Ungehorsam einordnen, was die machen, oder womöglich sogar schon als Widerstand gegen einen Überwachungsstaat, der totalitäre Strukturen entwickelt?

Volkmann: Ja, also sicherlich ist es eine Form von Widerstand oder von zivilem Ungehorsam, nämlich genau eben das, was ich hier geschildert habe. Man gehört einer Organisation an, die folgt bestimmten rechtlichen Regeln, und aus diesen rechtlichen Regeln bricht man aus und setzt sich darüber hinweg. Und dann ist eben die Frage, darf man das. Und die Antwort darauf ist vielleicht nicht so einfach, wie man das in der öffentlichen Diskussion meint. Man kann nämlich durchaus Gründe dafür anführen, dass man moralisch prinzipiell verpflichtet ist, Rechtsnormen auch dann zu gehorchen, wenn sie einem im Einzelfalle missfallen oder wenn sie der Durchsetzung eigener moralischer Ziele zunächst einmal entgegenstehen.

Karkowsky: Also eine moralische Pflicht zum antistaatlichen Denunziantentum, die sehen Sie nicht?

Volkmann: Nein, das sehe ich so zunächst nicht. Anders läge die Situation, wenn wir es – aber das ist eine Sache, über die man streiten kann. Anders sähe die Situation aus, wenn wir es von vornherein mit einem Unrechtsregime oder einem Unrechtsstaat zu tun haben. Prototyp eines solchen Unrechtsregimes ist hier bei uns immer noch das nationalsozialistische Regime. Hier können wir sagen, ein solches Regime hat von Anfang an im Grunde keine Legitimität, seine Rechtsnormen haben keine Legitimität, und hier ist Widerstand eine moralisch ohne Weiteres begründbare und begründete Pflicht. So sieht es aber meines Erachtens in den vorliegenden Fällen nicht aus, denn auch die Vereinigten Staaten sind, Ausgangspunkt zunächst mal, eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, und das Ziel, das sie verfolgen, ist zunächst auch kein illegitimes Ziel. Es geht um die Gewährleistung von Sicherheit und die Abwehr von Gefahren etwa durch den internationalen Terrorismus. Man kann dann darüber streiten, ob die Mittel, die dazu eingesetzt sind, richtig oder verhältnismäßig sind. Aber über die grundsätzliche Legitimität der Ordnung, die das tut, kann man meines Erachtens erst mal gar nicht ernsthaft diskutieren. Und dann erscheint das Verhalten eben auch in einem etwas anderen, differenzierteren Licht.

Karkowsky: Gut, reden wir über Bradley Manning, gerade verurteilt, erwartet vermutlich 136 Jahre Haft. Und auch dieser Fall ist ja sehr vielschichtig. Er hat mit einem Geheimvideo bewiesen, wie lachende US-Soldaten aus einem Hubschrauber aus unschuldige Zivilisten im Irak ermorden. Und dennoch stehen jetzt nicht die Schützen vor Gericht, sondern der Mann, der das aufgedeckt hat. Das verletzt unser Gerechtigkeitsempfinden. Das Recht aber steht nicht auf Mannings Seite, weil er ja die Interessen der Armee verletzt hat.

Volkmann: Ja, das ist sicherlich richtig, also, unser Gerechtigkeitsempfinden wird ja an vielen Stellen verletzt, auch durch die Unverhältnismäßigkeit der Strafandrohung. Also 136 Jahre, es standen ja am Anfang sogar noch höhere Strafen …

Karkowsky: Die Todesstrafe …

Volkmann: … die Todesstrafe. Das ist etwas, was sicherlich unser Gerechtigkeitsempfinden ganz elementar verletzt. Aber auf der anderen Seite muss man eben, wie gesagt, auch sehen, dass Manning in einer bestimmten Organisation, der Armee, angehörte, für diese Organisation gelten bestimmte Regeln, und die Organisation als solche kann nur funktionieren, wenn sich alle Mitglieder auch an diese Regeln halten. Und diese Organisation selbst ist im Grunde auch, die Armee oder die Sicherheitsbehörden sind im Grunde auch Einrichtungen, die zunächst mal in jedermanns Vorteil liegen. Es ist wichtig, dass es solche Organisationen gibt. Und dann ist es um der Funktionsweise auch wichtig, dass diese Organisationen Möglichkeiten haben, ihre Funktionserfüllung auch durch Zwangsmaßnahmen gegebenenfalls zu sichern. Das tun alle Armeen dieser Welt, das macht die Bundeswehr, das machen die anderen Polizeibehörden, und das macht den Fall natürlich eben problematisch.

Karkowsky: Bundespräsident Gauck hat gesagt, ein Missstand lässt sich in der Regel erst dann beheben, wenn Informationen darüber öffentlich werden. Wenn nun aber die Veröffentlichung unter Strafe steht, wie soll denn dann jemals der Missstand behoben werden?

Volkmann: Das Problem ist, dass auch die Organisationen ihrerseits auf eine bestimmte Art von Geheimhaltung angewiesen sind. Alle Organisationen dieser Art, Armeen etwa, verbieten deshalb die Weitergabe von Geheimnissen, stellen sie unter Strafe. Auch in der Bundesrepublik ist ja Spionage für andere Organisationen, Weitergabe von Informationen zunächst einmal ein Straftatbestand. Und es ist dann im Einzelfall eine schwierige Abwägung, ob es übergeordnete Interessen geben kann, die die Weitergabe ausnahmsweise rechtfertigen können.

Karkowsky: Und das würde der Rechtsstaat zulassen, diese Diskussion?

Volkmann: Ja, aber das Problem ist eben im Grunde, dass wir in einer demokratischen Ordnung vernünftige Meinungsverschiedenheiten darüber haben können, ob das nun geboten ist oder nicht, ob es moralisch gerechtfertigt ist oder nicht. Wir werden auch in den – wenn Sie in den Vereinigten Staaten etwa eine Umfrage machen, gibt es sicherlich Leute, die finden das richtig, was Manning gemacht hat, andere finden das verhängnisvoll. Wer soll dann entscheiden? Gibt es objektive Kriterien?

Karkowsky: Manning, Snowden und Co. Über die Abwägung zwischen moralischem Handeln und der Verletzung des Rechts hörten Sie den Mainzer Rechtsphilosophen Professor Dr. Uwe Volkmann, und der letzte Satz ist ein ganz wichtiger: Wer soll das entscheiden? Herr Volkmann, Ihnen Danke für das Gespräch!

Volkmann: Ich danke auch!

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