Westjordanland

"Radikalisierung junger Palästinenser" nach Gaza-Krieg

Palästinenser demonstrieren in Hebron im Westjordanland ihre Solidarität mit der Hamas im Gaza-Streifen.
Palästinenser demonstrieren in Hebron im Westjordanland ihre Solidarität mit der Hamas im Gaza-Streifen. © dpa / picture alliance / EPA
Moderation: Julius Stucke · 16.08.2014
Die Palästinenser schauen teils hoffnungsvoll, teils frustriert auf die Friedensverhandlungen mit Israel. So beobachtet es Roman Henkel vom Forum Ziviler Friedensdienst im Westjordanland. Dort sei das Ansehen der Hamas zuletzt gestiegen.
Julius Stucke: Jeder Krieg hinterlässt Spuren, prägt eine Generation, die Tod, Gewalt und Leid mit ansehen muss, die damit aufwächst. Das ist eine Binsenweisheit, klar, aber es ist eine, die es wert ist, immer wieder genau betrachtet zu werden, um die Menschen in einem Land, in einer Region zu verstehen. Und diese allgemeine Aussage, „Krieg hinterlässt Spuren", die wollen wir uns jetzt mal konkreter und genauer anschauen. Der Gazakrieg, der nach Wochen der Gewalt jetzt einige Tage der Ruhe erlebt, Waffenruhe und Verhandlungen. Unabhängig von der Frage, ob das eine längere, vielleicht sogar dauerhafte Lösung ist, gibt es eine Frage: Wie beeinflusst dieser Krieg zwischen Israel und der Hamas auch die Palästinenser im Westjordanland, welche Spuren hinterlässt der Krieg im Gazastreifen dort? Einblick hat Roman Henkel, Projektmanager für den Verein Forum Ziviler Friedensdienst im Westjordanland. Guten Morgen, Herr Henkel!
Roman Henkel: Guten Morgen!
Stucke: Ja, der Krieg im Gazastreifen, wie eng sind die Bindungen, die Palästinenser im Westjordanland haben zu den Menschen in Gaza, wie ist das Zusammengehörigkeitsgefühl?
Henkel: Ja, die Bindungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl sind natürlich sehr groß. Seit der Flüchtlingskatastrophe von 1948 gibt es viele familiäre Bindungen zwischen beiden Gebieten, die ja auch laut den Osloer Verträgen eigentlich einen Staat bilden sollten, was durch die israelische Besatzung der West Bank und der Blockade von Gaza aber verhindert wird. Jeder hat in seiner weiteren Familie Opfer zu beklagen, und das schweißt die Palästinenser natürlich zusammen und fördert auch eine Art Wagenburgmentalität, wie bei den Israelis übrigens auch.
Stucke: Das heißt, durch diese Bindungen, die da sind durch das Zusammengehörigkeitsgefühl, prägt auch im Prinzip jeder der – mittlerweile sind es rund 2000 – Toten, jeder der vielen Leidenden im Gazastreifen auch die Menschen im Westjordanland.
Henkel: Absolut, absolut, natürlich. Wie gesagt, jeder hat Opfer zu beklagen, sei es in der erweiterten Familie, sei es in der direkten Familie, und ... ja, absolut.
Stucke: Was droht da – droht da eine junge Generation auch radikalisiert zu werden?
Henkel: Definitiv. Ich würde sagen, in Gaza ist sie wahrscheinlich schon radikalisiert, und in der West Bank stehen wir kurz davor.
Stucke: Woran machen Sie das aus?
Henkel: Ich mache das aus an der Frustration, die die Besatzung und die Hilflosigkeit mit sich bringen. Die Menschen sind tagtäglich mit Erniedrigungen durch die israelische Besatzungsarmee konfrontiert, sie sehen die Bilder aus Gaza, sind hilflos dagegen, und das fördert natürlich eine riesige Frustration. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass die Bereitschaft zur Gewaltlosigkeit hier in der West Bank immer noch überraschend hoch ist.
Stucke: Die Parteien im Westjordanland, die Fatah und die Hamas im Gazastreifen, diese Parteien sind ja nach langen Konflikten in diesem Jahr aufeinander zugegangen. Sie haben sich entschieden, eine Regierung, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Das war im Prinzip vor diesem jetzigen Krieg, und jetzt, mittendrin oder vielleicht, wenn man optimistisch denkt, danach, wie stehen denn die Palästinenser im Westjordanland zur Hamas?
Henkel: Ja, das ist eine interessante Frage. Aus meiner Beobachtung raus muss ich sagen, dass noch vor wenigen Wochen, vor dem Gazakrieg, die Hamas hier in der West Bank ein sehr schlechtes Standing hatte. Sie galt vielen als korrupt und unfähig. Die Stimmung hat sich jetzt radikal gedreht, und da würde ich auch wieder zu dem Stichwort Wagenburgmentalität zurückkommen, jetzt in diesem Kriegsfall halten die Palästinenser zusammen, und im Gegensatz zur Fatah sehen sie die Hamas nun als den echten Widerstand gegen die Israelis, die etwas gegen die Besatzung und die Blockade von Gaza tun. Und ja, dadurch hat sich der Wind ziemlich gedreht hier.
Stucke: Gibt es trotzdem kritische Stimmen? Ich meine, die Hamas trägt ja im Prinzip diesen Kampf gegen Israel auch auf den Schultern der Zivilbevölkerung aus, die vieles dringender bräuchten als Kämpfe, als Raketen, als Waffen, als Eskalation.
Henkel: Ja, die kritischen Stimmen gibt es natürlich schon, allerdings muss man sehen, dass es hier sich um einen sehr asymmetrischen Krieg handelt und dementsprechend die Hamas-Handlungen als notwendiges Übel teilweise gesehen werden. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich große Sympathien mit dem Leiden der Zivilbevölkerung.
Stucke: Wie beobachtet man denn aus dem Westjordanland die Friedensverhandlungen gerade, wie sieht man die?
Henkel: Die Friedensverhandlungen werden natürlich kritisch beäugt, allerdings, ja, es bewegt sich zwischen Hoffnung und Frustration. Einerseits besteht Hoffnung, dass die Blockade von Gaza nun durch diese Verhandlungen zumindest etwas angehoben werden könnte, andererseits sind die Menschen natürlich seit fast über 60 Jahren frustriert durch die Besatzung des Westjordanlandes, durch die Blockade von Gaza, zahlreiche Kriege, und sie glauben nicht, dass sich jetzt durch diesen einen von leider vielen Kriegen an der Gesamtlage sehr viel ändern könnte.
Stucke: Das klingt aber, Herr Henkel, schon alles relativ pessimistisch dann im Westjordanland, oder? Einerseits das Zuwenden zur Hamas, das eventuelle Radikalisieren, andererseits Hoffnungslosigkeit, was die Friedensverhandlungen angeht?
Henkel: Ich würde nicht absolut hoffnungslos sagen, es gibt wirklich auch gute Signale aus der West Bank. Die Wirtschaft läuft besser als noch vor Jahren, Ramallah als Stadt boomt, andere Städte auch. Auf der anderen Seite, ja, die fortschreitende Besatzung ist ein Riesenproblem. Die Hamas hat Sympathien, wobei ich nicht glaube, dass die Menschen sie sich hier in der West Bank in derselben Form als in Gaza wünschen würden. Deswegen, es bleibt kompliziert, wie immer in Nahost.
Stucke: Gehen wir mal davon aus, dass diese Friedensverhandlungen – jetzt ganz optimistisch – vielleicht zumindest zu einer dauerhaften Waffenruhe kommen, dann die Frage: Was passiert in Sachen palästinensischer Einheitsregierung in Zukunft?
Henkel: Ja, das ist eine ganz schwierige Frage. Die Einheitsregierung besteht ja de facto, sie wird allerdings von Israel verhindert dadurch, dass die beiden Territorien nicht zusammenhängen und dass auch Offizielle der beiden Regierungen am Reisengehindert werden. Es ist schwierig zu sagen. Die Israelis haben alles dafür getan, diese Einheitsregierung zu torpedieren, weil sie eben die als terroristisch gelistete Hamas beinhaltete. Andererseits könnte es einen Schwenk dazu hin geben, die Hamas zumindest in Teilen so zu akzeptieren, dass diese Regierung an sich auch akzeptiert wird, aber das sind Sachen, die kann man nur sehr schlecht voraussagen.
Stucke: Der Gazakrieg und die Spuren, die er bei Palästinensern auch im Westjordanland hinterlässt. Einschätzungen von Roman Henkel für den Verein Forum Ziviler Friedensdienst im Westjordanland. Herr Henkel, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Henkel: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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