Westerplatte, Polen und Europa

Von Martin Sander · 30.09.2009
Vor rund 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die Westerplatte und die Polnische Post in Danzig. Im Jahr 2014 soll dort ein europäisches Museum seine Tore für die Besucher öffnen.
Danzig am 1. September 2009 kurz vor Sonnenaufgang. Auf der Hafenhalbinsel Westerplatte wird des Kriegsausbruchs vor 70 Jahren gedacht. An dem großen Denkmal für die Verteidiger der Westerplatte, einem 25 Meter hohen Monument aus Granitblöcken, haben sich Kombattanten aus aller Welt eingefunden. Staatspräsident Lech Kaczyński beschwört das Selbstbewusstsein seiner Nation:

"Polen hat keinen Anlass, eine Lektion in Demut zu absolvieren. Grund dazu haben andere: diejenigen, die diesen Krieg angefangen, und diejenigen, die ihn ermöglicht haben."

Natürlich richten sich die Worte des polnischen Staatspräsidenten an die Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg entfesselten - sowie an die ehemaligen Alliierten, Frankreich und Großbritannien, die Polen am 1. September 1939 nicht zu Hilfe eilten, sondern abwarteten. Vor allem aber richten sich Kaczyńskis Worte am 1. September 2009 auf der Westerplatte gegen Russland, dessen Vorgängerstaat, die Sowjetunion, von 1939 bis 1941 mit Hitlerdeutschland paktierte.

Auch wenn die Deutschen zuvor schon die Kleinstadt Wielun bei Lodz bombardiert hatten, der Beschuss der Westerplatte durch das Schulschiff "Schleswig-Holstein" gilt offiziell als Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die zwei Kilometer lange Hafenhalbinsel zwischen toter Weichsel und Ostsee war zu diesem Zeitpunkt ein exterritorialer Standort des polnischen Staats am Rande der überwiegend von Deutschen bewohnten, aber dem Völkerbund unterstellten Freien Stadt Danzig. Sie diente als Waffendurchgangslager für die polnische Armee. Nicht nur einen Tag, wie der Befehl lautete, sondern eine ganze Woche lang verteidigten die polnischen Soldaten dieses Waffenlager gegen Artillerie, Infanterie und Luftangriffe der Deutschen. In der Wochenschau hieß es über die Westerplatte:

"Sie war von den Polen festungsmäßig auf das Äußerste gesichert, mit Waffen aller Art gespickt, eine Zwingburg der Polen mitten auf Danziger Gebiet."


Die polnischen Verteidiger der Westerplatte kamen nach ihrer Kapitulation in Kriegsgefangenschaft. Dem polnischen Kommandanten, Major Henryk Sucharski, wurde in Anerkennung seiner Kriegsleistung gestattet, in der Gefangenschaft einen Säbel zu tragen.

Ganz anders behandelte Nazideutschland die Verteidiger der polnischen Post. Auch die Post am Rande der Danziger Innenstadt war eine exterritoriale Einrichtung des polnischen Staats mit eigener Telefonzentrale.

"Sie wurden furchtbar geschlagen und gefoltert",

…erklärt Henryka Flisykowska-Kledzik, Tochter von Alfons Flisykowski, der die bewaffnete Verteidigung der polnischen Postbeamten gegen den Angriff der deutschen Polizei, SA und SS am 1. September 1939 anführte.

"Woher wir das wissen? Weil sie, ebenso wie die Verteidiger der Westerplatte, auf dem Bischofsberg in Gefangenschaft kamen. Es gab einen kurzen Augenblick, wo sie sich irgendwo in den Zellen verständigen konnten. Aber nur kurz, denn die Verteidiger der Westerplatte wurden als Militärs in Kriegsgefangenenlager gebracht; die Verteidiger der Post aber waren für die Deutschen eindeutig Banditen."

Alfons Flisykowski wurde zusammen mit 27 weiteren Verteidigern der Polnischen Post, die nach erbittertem Widerstand in den Abendstunden des 1. September in deutsche Hände fielen, in einem Schauprozess des NS-Kriegsgerichts zum Tode verurteilt und - wahrscheinlich am 5. Oktober - erschossen. Erst 1998 hob das Landgericht Lübeck dieses Urteil auf, nicht zuletzt auf Betreiben von Henryka Flisykowska-Kledzik. Für Polen zählt die eintägige Verteidigung der Post ebenso wie die einwöchige Gegenwehr auf der Westerplatte zu den heroischen Leistungen im Zweiten Weltkrieg. In Deutschland ist die Geschichte der Post vor allem durch die satirische Darstellung von Günter Grass in der "Blechtrommel" bekannt geworden. Diese Darstellung stößt in Polen bis heute auf ein geteiltes Echo. Die Tochter des von der NS-Justiz zu Tode gebrachten Post-Verteidigers Alfons Flisykowski ist alles andere als begeistert:

"Meiner Meinung nach hat Grass die Postbeamten sehr hässlich dargestellt. Vielleicht glorifizieren wir sie ja. Aber Grass hat aus ihnen Säufer gemacht, irgendwie schräge Vögel. Und ich fühle mich persönlich beleidigt durch Grass."

Heute ist im dem alten backsteinernen Postgebäude ein kleines Museum untergebracht, das den Ereignissen von 1939 gewidmet ist. Auf dem Vorplatz steht ein Denkmal, vor dem sich immer wieder Besuchergruppen versammeln. In wenigen Jahren aber soll die historische Post mit einem Erinnerungsort weitaus größeren Ausmaßes verschmelzen. Denn nur 200 Meter entfernt plant die Warschauer Regierung das Hauptgebäude für ein europäisches Museum des Zweiten Weltkriegs – mit rund 5000 Quadratmetern Ausstellungsfläche in einem kompletten Neubau.

Das Vorhaben geht auf die Initiative eines Danziger Historikers zurück, des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Tusk, ein Liberaler, der mit dem nationalkonservativen Staatspräsidenten Kaczyński nur wenig gemein hat, vollzieht den Gründungsakt als Teil der großen Gedenkfeier am 1. September 2009 auf der Westerplatte.

"Ich bin der festen Überzeugung, dass es sich hier um ein wirklich außergewöhnliches Konzept handelt. Ich sage ganz unbescheiden, dass es so etwas in Europa derzeit noch nicht gibt, weder in Deutschland, noch in Frankreich noch in Großbritannien. Ein Museum, das die Kriegswirklichkeit in allen europäischen Ländern zeigt, die Erlebnisse der Menschen in den verschiedenen Gegenden, den Alptraum ihres Lebens in nicht normalen Verhältnissen. Das ist das eine…"

Tomasz Szarota, Professor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Experte für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, wirkt am Aufbau des Danziger Museums als Fachberater mit:

"Der zweite Punkt ist auch eine Seltenheit: Der Expertenrat dieses Museums setzt sich aus Vertretern verschiedener Nationen zusammen. Es ist also nicht so, dass wir Polen nur unser Leiden und unser Heldentum vorführen wollen. Nein, wir werden im Rahmen dieses Museums die Vertreter anderer Nationen konsultieren, und daraus soll ein europäisches Museum entstehen. Vielleicht gelingt es uns."

Es sind nicht die großen Schlachten, die in diesem Museum noch einmal dargestellt werden sollen, erläutert Paweł Machcewicz, Historiker und Gründungsdirektor des Museums:

"Wir wollen den Krieg nicht von der militärischen Seite zeigen, sondern aus der Sicht der Zivilbevölkerung. Wir wollen auch den Weg in den Krieg und den Krieg als Ergebnis einer Ideologie, der verbrecherischen Ideologie des Dritten Reiches zeigen. Ohne diese Ideologie versteht man nicht die Radikalisierung der Kriegsführung und der Besatzungspolitik."

Arthur Greiser: "Darum gilt für Euch, ihr Deutschen hier in diesem Kreise, das Gebot, dass für jeden Polen, der einen Deutschen auch nur schief ansieht, zehn Geiseln fest genommen werden, mindestens zehn…"

Arthur Greiser als Reichsstatthalter für den Reichsgau Posen, später umbenannt in Warthegau – hier in einer Rundfunkaufnahme einer Rede vor Vertrauten im November 1939.

"Ich will keine Lehrer haben, die polnischen Kindern Lesen und Schreiben beibringen. Wenn der Krieg zu Ende ist, dann gibt es genug deutsche Soldaten, die als gut gediente deutsche Unteroffiziere mit’m Rohrstock in der Hand hier zwei, drei Klassen unterrichten, die dann auf die Felder gehen."

Von Beginn an war die deutsche Besatzung Polens von zahllosen Verbrechen geprägt: Gewalttaten gegen die intellektuellen Eliten, Erschießung von Professoren, Lehrern und Priestern, Euthanasie-Morde an den Insassen von Anstalten. Die Anwerbung von Arbeitskräften für deutsche Fabriken und landwirtschaftliche Betriebe verwandelte sich ab Frühjahr 1940 in eine Zwangsrekrutierung. Die deutschen Arbeitsämter führten Razzien auf offener Straße durch und verschleppten mehrere Millionen Polen. Den katholischen Polen erging es dabei oft kaum besser als den polnischen Juden. Um sich gegen den Besatzungsterror zur Wehr zu setzen oder sich ihm wenigstens zu entziehen, entstanden die konspirativen Strukturen des Untergrundstaats.

Polnisches Radio: "Am 30. September 1939 meldet sich das staatliche polnische Radio zum letzten Mal. Die Deutschen stehen in Warschau. Der polnische Staat ist zerschlagen, doch die Gesellschaft organisiert sich binnen kurzer Zeit im Untergrund."

Paweł Machcewicz: "In Polen zum Beispiel hatte der Untergrundstaat in hohem Maße zivilen Charakter, mit geheimem Unterricht, einem geheimen Gerichtswesen. Wir wollen den Widerstand gegen das Dritte Reich nicht nur in seiner militärischen Dimension zeigen, sondern als Folge von Werten, die durch gewöhnliche Menschen verteidigt werden."

Doch die Hinwendung der Museumsmacher zur Lebenswirklichkeit der Zivilbevölkerung trifft in Polen keineswegs nur auf Zustimmung. Seitdem die Pläne Ende vergangenen Jahres bekannt wurden, protestiert die nationale Rechte. Piotr Semka, Kolumnist der auflagenstarken Tageszeitung "Rzeczpospolita", fasst den Unmut zusammen:

"Polen ist eines von wenigen europäischen Ländern, in denen es nicht nur kämpfende Truppen an der Seite der westlichen Alliierten gab, wir hatten unsere Truppen in Afrika, in Italien und in Großbritannien, sondern auch eine starke Partisanenbewegung, ähnlich wie in Jugoslawien oder Griechenland. Die Deutschen – und das ist irgendwie ganz natürlich - können uns da nicht verstehen, denn die Deutschen, und dafür muss man sie loben, stehen ihrem Militarismus sehr kritisch gegenüber. Aber man muss auch berücksichtigen, dass unsere Erinnerung an die polnischen Truppen unter den westlichen Alliierten und an die nichtkommunistische Partisanenbewegung etwas war, was uns gerade unter kommunistischer Herrschaft mit Stolz erfüllte und Widerstandkraft gegen den Kommunismus gab. Die Konzentration auf die Zivilbevölkerung ausgerechnet in einem Land, das verhältnismäßig großen Anteil am bewaffneten Kampf gehabt hat, ist keine sehr glückliche Lösung. Die Proportionen sollten fifty-fifty sein."

Den eigentlichen Stein des Anstoßes bildet für die polnischen Nationalkonservativen der gesamteuropäische Anspruch des Danziger Museums. In einem Land, in dem es bislang noch gar keine irgendwie vergleichbare Einrichtung gegeben habe, sei die Zeit noch nicht reif für eine international vergleichende Gesamtschau, meint Piotr Semka:

"Zuerst hätten wir gern ein Museum, das unserem Standpunkt entspricht, das unsere Leiden und unser Heldentum präsentiert."

Man solle - so Piotr Semka - erst einmal der Welt und natürlich sich selbst die Dimension des historischen Unrechts vorführten, das die Polen damals erlitten hätten.

"Die Polen haben einen tiefen Komplex, der in der Überzeugung gründet, die Menschen in Europa und der ganzen Welt schauten auf die Geschehnisse auf polnischem Territorium ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Holocaust. Und das ist auch nicht an den Haaren herbeigezogen, denn als der Film 'Katyn' von Andrzej Wajda über das Massaker des sowjetischen Geheimdienstes an den polnischen Offizieren in Frankreich vorgeführt wurde, entrüstete sich ein Filmkritiker, es sei doch Unsinn zu zeigen, wie polnische Zivilisten auf einen Lastwagen geworfen werden – und zwar in der gleichen Weise, wie man das mit Juden getan habe. Hier spielt der französische Erfahrungshorizont eine Rolle, wo man nicht mit der gleichen Brutalität gegen die französische Zivilbevölkerung vorging wie gegen die jüdische. In Polen hat man aber beide Gruppen weitaus ähnlicher behandelt."

Eine Ausstellung, die das Leiden der Zivilbevölkerung im europäischen Kriegskontext darstelle, könnte die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verwischen, befürchtet Piotr Semka und bezieht sich dabei auf die aktuelle Debatte über die Vertreibung der Deutschen nach Kriegsende:

"Das Problem besteht darin, dass die Deutschen sehr stark die Erfahrung der Vertreibung betonen. Für die Polen hingegen war die grundlegende Erfahrung die der Ermordung. Die Vertreibung ist kein Tabu, das verschwiegen werden soll, aber sie sollte nicht zu einem elementaren Bestandteil dieses Museums werden."

Derlei Furcht vor der Entstellung der historischen Wahrheit durch den Vergleich ist den Museumsplanern eher fremd. Gründungsdirektor Paweł Machcewicz sieht in der europäischen Perspektive keine Konkurrenz, sondern eine Chance dafür, dass die polnische Geschichte besser verstanden wird:

"Der Zweite Weltkrieg war nicht nur eine polnische Erfahrung, sondern eine allgemeineuropäische. Und ich glaube, auch die Besonderheit des polnischen Schicksals lässt sich besser im Vergleich zeigen. Zum Beispiel das so bedeutende Phänomen des polnischen Untergrundstaates, der großen Konspiration gegen Hitlerdeutschland, aber auch gegen die Sowjetunion kann man erst richtig begreifen, wenn man das mit anderen Formen des Widerstands in Westeuropa vergleicht."

Überhaupt scheint der Streit über die angemessene Beurteilung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs eine Domäne von Publizisten und politischen Funktionären zu sein. Die Fachwissenschaftler aus den Ländern der ehemaligen Kriegsgegner schätzen das Konfliktpotential weitaus geringer ein. Der in Freiburg lehrende Historiker Ulrich Herbert, Kenner des Nationalsozialismus und Experte für die Problematik der Zwangsarbeit, ist deutsches Mitglied im internationalen Expertenrat des Danziger Museums:

"Das mag schon sein, dass es da im Einzelnen durchaus noch Unterschiede geben wird, aber ich glaube eigentlich nicht aus jeweils nationalen Positionen. Das hat sich in den letzten zehn, 15 Jahren sehr verändert. Sieht man von ein paar, ich will mal sagen, öffentlichkeitsorientierten Außenseitern ab, die in der Forschung eigentlich keine Rolle spielen, sind die großen Themen des Zweiten Weltkriegs sicherlich zu 90 oder 95 Prozent konsensual. Darüber besteht Einigkeit. Es gibt Unterschiede in Details."

Diese Unterschiede sollen auch nicht übergangen werden. Die Mitglieder im internationalen Expertenrat des künftigen Danziger Museums wollen ihre eigenen Forschungsschwerpunkte in die Museumsplanung einbringen. In gewisser Weise stehen sie auch für die Sichtweise ihrer Länder. So setzt sich der russische Spezialist Pavel Polian, ein engagierter Kritiker des Systems Putin, dafür ein, dem in Westeuropa kaum und in Polen wenig bekannten Schicksal der russischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg mehr Aufmerksamkeit zu schenken – etwa bei der Behandlung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz:

"Alles, was etwas später mit Juden geschah, wurde gewissermaßen an den sowjetischen jüdischen Kriegsgefangenen ausprobiert. Und diese Selektionen waren Vormuster, sogar Vergasung. Wir wissen, dass die Vergasungsexperimente in Auschwitz zuerst an den sowjetischen Kriegsgefangenen durchgeführt worden waren, um zu verstehen, wie effektiv sie waren, im September 1941 in Auschwitz. Und wenn die Effektivität dieser Art von Tötung der Menschen bewiesen worden war, dann wurde sozusagen ein größerer Maßstab genommen und auf Hauptopfergruppe verwendet."

Nicht nur, dass die sowjetischen Kriegsopfer in Polen eher marginal zur Kenntnis genommen werden. Auch das Urteil über den großen Nachbarn im Osten als Akteur des Zweiten Weltkriegs fällt heute überwiegend negativ aus. Einer der wichtigsten Gründe dafür liegt im Hitler-Stalin-Pakt.

Adolf Hitler: "Und wir sind uns, beide Seiten, ganz klar darüber geworden."

Hitler am 1. September 1939 im deutschen Reichstag:

"Jeder Kampf unserer Völker gegeneinander würde nur anderen einen Nutzen erwerben. Wir haben uns daher entschlossen, einen Pakt abzuschließen, der sich für alle Zukunft gegen alle Gewaltanwendung ausspricht."

Der am 23. August 1939 unterzeichnete Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Nazideutschland legte in seinem geheimen Zusatzprotokoll eine künftige territoriale Aufteilung Polens zwischen beiden Partnern fest. Damit erst wurde die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs mit dem Überfall auf Polen möglich. Fast zwei Jahre lang, zwischen Herbst 1939 und Sommer 1941, lebte ein Drittel aller Polen in den östlichen Landesteilen unter sowjetischer Herrschaft. Es kam zu massenhaften Repressalien und Verbrechen, die denen der deutschen Besatzer in vieler Hinsicht kaum nachstanden: Ermordung intellektueller Eliten, Deportation mehrerer hunderttausender Menschen ins Innere der Sowjetunion, zwangsweise Verpflichtung zum Dienst in der Roten Armee, Enteignung besitzender Schichten der Bevölkerung.

Eines der herausragenden Verbrechen war der Mord an mehreren 1000 polnischen Offizieren und Zivilisten in einem Wald bei Katyn nahe der Stadt Smolensk durch den sowjetischen Geheimdienst. Dieses Verbrechen, aber auch die gesamte Kollaboration Stalins mit Hitler in den ersten beiden Kriegsjahren, belastet bis heute die polnisch-russischen Beziehungen in einem Maße, die auch die internationalen Experten überrascht, wie der Freiburger Historiker Ulrich Herbert bekennt:

"Was für uns, für Deutsche, auch für den französischen, israelischen oder auch den englischen Kollegen interessant war, für die Polen stellt sich diese Besatzungszeit von 1939 bis 1945 ja anders dar: Zwei Drittel, also zwei Jahre der Besatzung auch durch die Sowjetunion und dann vier Jahre nur durch Deutschland und dann ab 1945 wieder durch die Sowjetunion. Also diese Einrahmung, die wir ja ganz anders wahrnehmen, die wir ja auch zum Teil, etwa was Auschwitz angeht, mit Aspekten der Befreiung verbinden, hat in der polnischen Sicht eine andere Topografie oder eine andere Architektur vielleicht, um das so auszudrücken, weil ja die sowjetische Besetzung in Polen als durchaus gleich oder ähnlich brutal wie die deutsche angesehen wird, jedenfalls, was die ersten beiden Jahre angeht. Und diese doppelte Unterdrückung ist in der polnischen Perspektive sehr, sehr weit vorn."

Hinzu kommt, dass die antipolnische Politik Stalins nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion in mancher Hinsicht fortgesetzt wurde. Der polnische Untergrundstaat, der im Wesentlichen antikommunistisch orientiert war, fand keine sowjetische Unterstützung. Während des Warschauer Aufstands von 1944, der von den Deutschen grausam niedergeschlagen wurde, stand die Rote Armee bereits am östlichen Weichselufer, kam aber den Aufständischen nicht zu Hilfe.

"Der Warschauer Aufstand, das ist ein Riesenthema in der polnischen Wahrnehmung, auch zu Recht. Und dass die Sowjetunion nicht eingegriffen hat, sondern – so ist die polnische Interpretation – es ganz gerne gesehen hat, dass die nationalen Kräfte der polnischen Seite von den Deutschen aufgerieben werden, um dann kurze Zeit später die Macht zu übernehmen, ist eine Interpretation, die in Polen fast unisono vertreten wird. In der internationalen Forschung wird dem wenig widersprochen."

Das offizielle Russland bekennt sich auch heute nur halbherzig zu seiner Verantwortung. Zwar verurteilte Ministerpräsident Vladimir Putin aus Anlass der 70-Jahr-Feier in Danzig den Hitler-Stalin-Pakt als unmoralisch und gab den verbrecherischen Charakter von Stalins damaliger Politik mehr oder weniger zu. Zugleich aber wies er mit dem Finger nicht nur auf die Westmächte, die Hitler gewähren ließen, sondern auch auf Polen, das in den 30er-Jahren freundschaftlichste Beziehungen mit Deutschland pflegte und sich sogar am Überfall auf die Tschechoslowakei 1938 beteiligte. Putin setzte seine geschichtspolitische Ethik so ins Bild:

"Die Geschichte hat mehrere Farben. Alle haben Fehler gemacht. Aber wenn sich jemand aus einem alten verschimmelten Brötchen die Rosinen herauspicken will und den ganzen Schimmel einem anderen überlässt, kann daraus nichts Gutes werden. Das ist nicht die Grundlage für Verständigung."

Noch sind zahlreiche Details der deutsch-sowjetischen Kooperation im Zweiten Weltkrieg gar nicht erforscht. Die lange Zeit verschlossenen und auch heute nicht ohne weiteres zugänglichen russischen Archive versprechen noch manche Entdeckung. Einen brisanten Fund aus jüngster Zeit beschreibt der Historiker Pavel Polian. Es geht um einen Brief an Stalins Außenminister Molotow. Aus ihm geht hervor, dass Nazideutschland 1940 bei den Sowjets offiziell um die Aufnahme der in ihrem Herrschaftsgebiet lebenden Juden ersuchte.

Pavel Polian: "Wir wissen nicht genau, ob das Eichmann war, aber wer anders als Eichmann das sein könnte. Alles was von diesem Dokument zu entnehmen ist, spricht dafür, dass es wurde nicht beantwortet, aber Angebot war ziemlich klar: Alle Juden, die zu diesem Zeitpunkt unter der deutsche Herrschaft vorhanden waren, die polnische Juden, die deutsche Juden, die tschechische Juden, die slowakische Juden, sie wurden angeboten, nach Sowjetunion deportiert zu werden. Das war Angebot."

Das Schreiben an Molotow soll Eingang in die Ausstellung des künftigen Danziger Museums finden – als Detail eines immer noch nicht ganz offengelegten Kapitels des Zweiten Weltkriegs. Für das polnische Publikum dürften solche Details der sowjetisch-deutschen Kollaboration von besonderem Interesse sein. Schließlich war zwischen 1945 und 1989 dieser Teil der Geschichte sogar für polnische Historiker tabu. Tomasz Szarota erinnert sich:

"Als Historiker hatte ich sogar die Gelegenheit, mit den Zensoren zu sprechen, die meinen Text zensurierten. Am eigenen Beispiel habe ich erfahren, worum es ging. Das wichtigste war: Der Zensor fürchtete sich panisch davor, irgendetwas durchzulassen, was als anti-sowjetischer Akzent verstanden werden konnte. Wir durften nicht über die sowjetische Okkupation schreiben, ganz zu schweigen von der Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn, also über die sowjetischen Verbrechen von 1939 bis 1941, über Stalin als bestem Verbündeten Hitlers uns so weiter. Man durfte weder schreiben noch forschen über die polnische Konspiration in den sowjetisch besetzten Gebieten. Natürlich durfte man nicht über die Tragödie der Soldaten sprechen, die in der antikommunistischen polnischen Heimatarmee dienten. Diese Soldaten kamen in den politischen Kämpfen der Nachkriegszeit nicht nur ins Gefängnis, sie wurden auch ermordet. Also von diesen schwarzen Seiten, die ein Tabuthema waren, gab es sehr viele."

Nicht zuletzt diese von der Sowjetunion auferlegten Tabus haben dazu geführt, dass das eigentliche Ende des Zweiten Weltkriegs in den Augen vieler Polen nicht mit dem Jahr 1945 zusammenfällt. Paweł Machcewicz, Gründungsdirektor des Danziger Museums, beschreibt es so:

"Für die Westeuropäer war das Ende des Krieges eine Befreiung. Ich meine in diesem Falle nicht die Deutschen, denn bei ihnen ist es komplizierter, aber für die Franzosen oder Holländer. Doch für die Polen war das Ende der deutschen Besatzung der Anfang einer neuen Unfreiheit. Wir bekamen die Freiheit damals nicht, und es ist ein – im Westen schwer verständliches – Paradox, dass für uns Polen, aber auch für viele andere Osteuropäer der Zweite Weltkrieg erst 1989 zu Ende ging, mit dem Untergang des Kommunismus. Erst damals wurden die Folgen des Krieges beseitigt."

Ulrich Herbert: "Man kann gewiss die Zeit des Krieges und die der 70er- und 80er-Jahre nicht gleichsetzen. Das wäre ja völlig absurd."

Davon ist der Freiburger Historiker Ulrich Herbert überzeugt:

"Aber dass das in Kontinuitäten von Fremdherrschaft gesehen wird, das ist in der polnischen Perspektive unbestreitbar und hat auch eine gewisse Plausibilität. Insofern ist der Zweite Weltkrieg näher verbunden mit der Gegenwart."

Schon 2014 - so der Plan - soll das europäische Museum des Zweiten Weltkriegs seine Tore für die Besucher öffnen. In der Danziger Innenstadt wird es nicht nur in unmittelbarer Nähe zum historischen Gebäude der Polnischen Post stehen, sondern auch in der weiteren Nachbarschaft des Werftgeländes und anderer Orte, an denen die "Solidarność" als erste unabhängige Gewerkschaft im Ostblock vor knapp drei Jahrzehnten entstand. Tomasz Szarota sieht in dieser Nähe eine glückliche Fügung von besonderer historischer Überzeugungskraft:

"Abgesehen von der Westerplatte, der Danziger Post und so weiter gibt es einen weiteren Gesichtspunkt. Danzig ist das Sinnbild der "Solidarność" und steht am Anfang eines neuen, unabhängigen Polen. Dieses Danzig wird nun zu einem internationalen Symbol dafür werden, dass wir die ersten waren. Wir waren die ersten, die zu Hitler 'nein' sagten und wir waren die ersten, die den Ostblock sprengten."